Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 14

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Ein Treppenhaus. Altbau mit ausgelatschten Treppenstufen. Schäbiger Putz. Auf dem Treppenabsatz drei Gestalten in Lederjacken und Schnürstiefeln. Und jetzt los. Langsam. Stufe für Stufe. Körperkontakt halten, leise auftreten, nicht schnaufen beim Atmen.

Gut so.

Treppenabsatz. Nach hinten sichern. Nach vorne nicht drükken. Vor allem nicht stolpern. Weiter. Immer vorwärts. Nicht schwitzen. Mit Schwitzehändchen verlierst du gleich die Waffe, Kerl.

Ganz schlecht.

Sichern! Seid ihr blöd? Was macht ihr, wenn hinter der nächsten Biegung einer mit dem Messer steht?

Na also. Das ist besser. Weiter so.

Jetzt die Wohnungstür. Klingeln? Nicht klingeln. Auch recht. Einen Schritt zurück. Ein Tritt. Tür auf. Der Sound von In-A-Gadda-Da-Vida, voll aufgedreht. Na dann.

»Und – danke!« Der Regisseur. Martin Vogelsang, ein Hüne von einem Mann mit einem Gang wie ein Brauereipferd. Die Komparsen in den Lederjacken entspannten sich. Auch Giorgio DeLange atmete auf. Hoffentlich war die Szene im Kasten. Seine Leute hatten die Wohnung an diesem Vormittag bestimmt schon an die zehnmal gestürmt. »Ist gutes Training,Jungs«, hatte er ihnen gesagt, aber keiner hatte auch nur die Mundwinkel verzogen.

Der Drehort bewegte DeLange, er kannte ihn gut: Es war das ehemalige Frankfurter Polizeipräsidium an der Friedrich-Ebert-Anlage, heute Partylocation und Kulisse für Filmproduktionen. Und Martin Vogelsang faszinierte ihn. Der Mann hatte eine Geduld wie ein Heiliger oder ein armer Irrer. Dagegen war der Job des Aktenführers selbst bei Mordfällen mit erhöhtem Spurenaufkommen die reine Entspannung.

Sein Ding war das nicht. Geduld. Die oberste Tugend von Ordnungskraft und Sicherheitsorgan. Nicht bei ihm. Vor allem heute nicht.

Er machte sich Sorgen.

Du machst dir immer Sorgen, Alter.

Ja, aber diesmal ...

Diesmal. Jedesmal. Immer wenn so etwas in den Nachrichten kam. Immer wenn ein Kind verschwand wie der Junge aus dem Oberhessischen. Das trieb ihn um.

Giorgio DeLange lächelte mit schmalen Lippen in sich hinein, während er auf den Fußballen langsam auf und ab wippte. Die meisten kleinen Schulschwänzer tauchen schnell wieder auf. Die Hälfte der Fälle klärt sich innerhalb einer Woche, vier Fünftel innerhalb eines Monats.

Und trotzdem. Und trotzdem.

»Papa, du siehst zuviel fern.« Flo, total lebenserfahren. Dabei hatte er gestern bloß wissen wollen, was das für ein Kerl war, der sie zur Party eingeladen hatte am Wochenende. »Ein Schulfreund.« Eltern? Beruf? Wohnlage? Asozial oder bessere Kreise, was manchmal das gleiche ist? Migrationshintergrund? »Wir schnupfen nicht alle schon mit fünfzehn Koks.« Nein? Ehrlich nicht? Nicht alle? Nur ein paar?

»Und hast du nicht selbst gesagt, daß man eine verzerrte Wahrnehmung kriegt, wenn man immer alles durch die Polizistenbrille sieht?« Bingo. Die statistische Wahrscheinlichkeit war tatsächlich nicht groß, daß den beiden was passierte. Aber was machen wir gegen den Zufall, den dummen bösen Zufall?

»Und – Pause!« Der Regisseur. Wie erlöst schwatzten alle durcheinander. Die Komparsen zogen die Lederjacken aus, der Tonmann nahm seine Kopfhörer ab, und sein Assistent ließ die lange Angel mit dem Mikrofon sinken. Die Kameraassistentin mit der strengen dunklen Brille staubte mit einem Pinsel das Kameraobjektiv ab, ein drahtiger Junge mit Pferdeschwanz kam mit einem frischen Akku angetrabt. Und dann strömten alle in die Kantine.

DeLange blieb stehen und spürte, wie ihm das Lächeln gefror. Das spurlose Verschwinden von Kindern war der Albtraum jedes Ermittlers. Aber auch Erwachsene verschwanden. Und irgend etwas an diesem Film erinnerte ihn an einen Fall ... Aber was? Und an welchen? Er kannte den Plot nur in groben Umrissen, er hatte das Drehbuch nicht gelesen. Das tat er nie. Und schon gar nicht die Romanvorlage des Films.

»Summer of Love? Das ist ein ganz tolles Buch!« Caro.

»Findet meine Lehrerin auch. Wir hatten das Teil in Deutsch. Ätzend.« Flo. Aufhauend, wie immer.

DeLange tat seinen Job, und der betraf nur die Szenen, in denen Polizei und Kripo eine Rolle spielten. Die meisten Komparsen waren Polizisten, die sich in ihrer Freizeit was dazuverdienten, es gab kaum einen Kollegen, der nicht beim Film arbeitete. Nur DeLange machte den Quatsch hauptberuflich. Und nur einmal hatte er zu fragen gewagt, was das mit den eigentlichen Aufgaben der Polizei zu tun habe. Karla hatte etwas von »Der Fernsehkrimi als kulturelles Scharnier zwischen den Bürgern und ihrer Polizei« gemurmelt und sagte schließlich, nachdem sie sein staunendes Gesicht gesehen hatte: »Damit die Filmfuzzis nicht alles falsch machen.« Das hatte er verstanden.

»So tief in Gedanken?« Hannah Lohberg stand vor ihm und sah zu ihm hoch. Klein, zart, durchscheinende Haut. Grüne Augen mit ein paar goldenen Flecken. Sie duzte ihn seit dem ersten Drehtag. »Das ist so Sitte, beim Zirkus und am Filmset«, hatte sie gesagt und ihn angelächelt. DeLange wurde es warm, aber vorsichtshalber nur ein bißchen.

»Du siehst aus wie ...«

Wie ein überprotektiver alleinerziehender Vater. Ich weiß.

Sie legte ihre winzige Hand auf seinen Unterarm und dirigierte ihn sacht Richtung Kantine. »Erzähl schon«, sagte sie.

Daß ich bei jedem schuleschwänzenden Bengel gleich Angst um meine Töchter habe? Den Teufel werd ich tun. »Weißt du, daß ich hier jede Stufe persönlich kenne?«

Sie blieb stehen und machte große Augen. Ablenkungsmanöver gelungen. »Ach so«, hauchte sie. »Du leistest dir einen Anfall von Nostalgie.«

Nostalgie? Trauer. Er trauerte den Zeiten nach, als das alte Gemäuer noch nicht die heruntergekommene Bruchbude von heute war. Wahrscheinlich war die wilhelminische Architektur des 1914 eingeweihten Baus nie sonderlich anheimelnd gewesen, warum auch, er sollte ja Autorität ausstrahlen. Außerdem hatte die ganze Pracht mal gerade dreißig Jahre gehalten, dann demolierten Fliegerbomben den alten Kasten. Aber für ihn war es der Höhepunkt seiner Karriere gewesen, als er hierher nach Frankfurt versetzt wurde.

Und diese Treppe ... Auch er hatte Spuren auf ihr hinterlassen. Hier war er hoch, als Florentine und Caroline geboren wurden. Hier war er runter, als Feli nach monatelangem Streit endlich auszog. Hier hatte er mit Kollegen gestanden und fast geheult, nach der Beerdigung von Werner und Thomas. Erschossen, vor einer Raststätte an der Autobahn, die Täter nie gefunden. Und hier war er unschlüssig stehengeblieben, als man ihn endlich wieder gesund geschrieben hatte, weil er sich nicht hochtraute zu den Kollegen und in sein altes Büro.

Blut, Schweiß und Tränen. Wörtlich zu nehmen: Der alte Kasten hatte im Unterschied zum neuen Präsidium eine Sauna gehabt. Ja, das Gebäude war alt, verbaut und verbraucht, aber es hatte Seele und Geschichte. Und deshalb fand er unpassend, wofür das Haus mittlerweile herhalten mußte.

Vor der »Kantine« blieben sie stehen. Man hatte improvisiert und Tische und Stühle in den großen Raum gestellt, vor der Tafel standen Kaffeeautomaten und Getränkekisten, tags gab es belegte Brote, zu Mittag etwas Warmes aus großen Töpfen, für die Vegetarier Salat.

»Das war mal ein Konferenzsaal.« DeLange räusperte sich. »Hier haben wir die SoKo Adrian gegründet. Du erinnerst dich an den kleinen Jungen?« Sie mußte sich erinnern. Wer tat das nicht? Ein Blondschopf mit braunen Augen, elf Jahre alt war das Kind, als es erst mißbraucht und dann erschlagen wurde. Fast so alt wie der Junge, der gesucht wurde.

»Ich weiß. Der Mörder hat ihm ein Stück aus der Wange gebissen«, sagte Hannah.

Sie war plötzlich ganz blaß um die Nase. Willst du ihr die Laune verderben, Alter?

»Was einem halt einfällt an so einem Ort«, sagte DeLange lahm. »Und jetzt ist das alles nur noch Filmkulisse.«

In der Kantine herrschte angeregtes Chaos. Er ließ Hannah den Vortritt, als sie sich in die Schlange vor dem Kaffeeautomaten einreihten. Eigentlich hatte er keinen Hunger.

Hannah drehte sich zu ihm um, die dunklen Augenbrauen zusammengezogen. »Und der Täter wurde nie gefunden?«

»Nein.« Aber wir kriegen ihn noch. Wir werden immer besser.

»Kommt das oft vor? Ich meine, daß so ein Fall nie aufgeklärt wird?«

»Immer seltener.« Und immer noch zu oft.

»Und – wenn es zu Ermittlungspannen kommt?«

Ups. Pannen haben wir nicht. Pannen kennen wir nicht. Die gibt es nur im Fernsehen.

»Irren ist menschlich«, hörte er sich lügen. »Aber es kommt glücklicherweise bei uns nicht allzuoft vor.« Nicht allzuoft. Höchstens ein paarmal täglich. Er reichte ihr Tasse und Untertasse.

Nur noch ein kleiner Tisch am Fenster war frei. An den großen Tischen saßen Schauspieler, Crew und Komparsen und waren bester Laune. DeLange rückte Hannah den Stuhl zurecht, holte Besteck, legte ihr eine Serviette hin.

Sie nahm sich Obst, ein bißchen Ananas, ein wenig Mango, ein Spürehen Quark. Hannah Lohbergs Beitrag zum Schlankheitswahn. Aus lauter Opposition griff er zu Rührei mit Schinken.

»Solche Fälle wie der kleine Adrian – belastet dich das?« Sie stocherte in ihrem Obst.

»Ja, natürlich.« Aber wir laufen deshalb nicht dauernd mit Betroffenheitsmiene durch die Gegend, wie ein paar eurer Fernsehermittler.

»Und – findest du es schlimm, wenn wir aus solchen Fällen Unterhaltung machen?«

Er blickte auf. Ihr schüchternes Lächeln fuhr ihm in die Magengrube.

»Ich meine ... Du kennst die Wirklichkeit. Und wir machen Kino daraus.« Hannah musterte konzentriert die Gabel, auf der ein Stück Ananas steckte, und legte sie zurück auf den Teller.

Sollte er ihr die Wahrheit sagen? »Madame, während die Unterhaltungsindustrie ein Krimidram nach dem anderen ausspuckt, nimmt die wirkliche Kriminalität ab. Das Problem ist nur: Die Leute verwechseln das. Das ist das einzige, was gegen ein gutes Stück Unterhaltung mit ein bißchen Mord und Totschlag spricht.« Aber er sagte nichts und aß weiter.

»Wie ist das mit dir? Hast du – ich meine: mußtest du schon mal ...« Sie machte eine delikate Pause.

Jetzt legte er Messer und Gabel beiseite. Irgendwann hatte die Frage ja kommen müssen. Ob er auch schon mal. Ja. Er hatte. Die Folgen spürte er noch heute. Vielleicht sollte er es demnächst gleich beim Kennenlernen sagen? Grüß Gott, ich heiße Giorgio DeLange, ich habe dreimal von der Schußwaffe Gebrauch gemacht, zweimal mit Todesfolge. Ich bin weder abgebrüht, noch habe ich ein Trauma, nur eine Narbe und ein paar empfindliche Nervenstränge. Ich bin auch kein Brutalo oder Alkoholiker, und ich brauche kein Mitleid, sondern ...

»Dreimal, wenn du es wirklich wissen willst.«

»Das ist viel, oder?«

Heureka. Sie hielt nicht alle Polizisten für schießwütige Bullen. Er nickte. »Fast schon karriereschädigend. Aber mach dir keine Sorgen. Einmal in die Luft geschossen. Einmal einen schwerverletzten Hund getötet.«

Ein Schäferhund. Ein wunderschönes Tier. Lag auf einer Schnellstraße neben der Leitplanke. Die Frau, der er ins Auto gelaufen war, stand am Straßenrand neben ihrem verbeulten VW und heulte Rotz und Wasser. Der Hund schlug matt mit dem Schwanz, als DeLange näher kam. Blut. Verdrehte Gliedmaßen. Eine weiße Rippe ragte aus dem goldfarbenen Fell. Am liebsten hätte er den Köter gestreichelt, bevor er abdrückte. Aber das empfahl sich nicht.

Hannah langte über den Tisch und legte ihm die Hand auf den Arm. »Du hast das arme Tier erlöst!«

Sicher. Aber vor allem konnte man so ein Riesenvieh nur tot von der Straße holen.

»Und – das dritte Mal?«

Er spürte, wie der vertraute Schmerz anklopfte, ganz leise, ganz zart, nur mal so, bloß zur Erinnerung. Das Messer hatte ihn an Hals und Kinn erwischt. Haarscharf an der Schlagader vorbei. Ein paar Nervenstränge durchgetrennt. Ein paar Muskeln zerteilt. Den Kieferknochen touchiert. Er hatte noch in die Luft geschossen, bevor ihm das Licht ausging.

Jemand fragte irgend etwas. DeLange schüttelte den Kopf. Jemand nahm ihnen die Teller weg. Es war ihm recht. Und es war ihm auch recht, daß Hannah nach seiner Hand griff.

Er war zu langsam gewesen. Besser als zu schnell. Drei Jahre später hatte er ein Messer gesehen, wo keines war. Manny Koch. Drogendealer. Ein kleiner Fisch. DeLange hatte zu früh und auch noch auf den Falschen geschossen. Aus Schiß.

Das nannte man putative Notwehr. Auch nur ein Wort für unverzeihlich.

»Willst du darüber sprechen?«

Zwei Jahre lang hatten sie gegen ihn ermittelt. Wenn sie zum Schluß nicht auf Notwehr erkannt hätten, stünde er heute nicht hier, sondern hinter irgendeinem Schwenkgrill auf der Dippemess’. Zwei lange Jahre hatten sie gebraucht, bis alle Zweifel ausgeräumt waren.

Alle? Nicht alle, Alter. Nicht deine eigenen.

Er schüttelte den Kopf.

Hannah zeichnete mit dem Finger Kreise in die Wasserlache auf dem Tisch. »Verstehe«, sagte sie.

DeLange suchte nach ein paar auflockernden Worten, nach einem Scherz, einer Anekdote, aber ihm fiel nichts ein. Die Narbe pochte. Das tat sie erst seit dem Tod von Manny Koch. Alles Nerven, meinte der Arzt. Alles Psycho, dachte DeLange.

»Hast du eigentlich das Buch gelesen?«

Welches Buch?

»Das Buch zum Film. Summer of Love.«

Er schüttelte den Kopf.

»Das solltest du aber tun. Es ist großartig geschrieben, sehr atmosphärisch, man ist mittendrin, damals. 1968. Da war ich noch nicht einmal angedacht.« Hannah holte den gewaltigen Beutel unter dem Stuhl hervor, den sie wahrscheinlich ihre Handtasche nannte, kramte darin herum, förderte unter seinem staunenden Blick eine Frauenzeitschrift, zwei Äpfel, eine Tube Handcreme und eine Haarbürste hervor – und schließlich auch ein Buch, ohne Schutzumschlag, das gründlich durchgearbeitet aussah.

»Hinterher verstehst du, worum es den jungen Menschen ging. Um Liebe, Schönheit, Freiheit. Ganz einfach. Außerdem ist die Figur der Sascha einfach toll.«

Und das sagte Hannah, obwohl die Sascha von Hedi Baumeister gespielt wurde? Hannahs Figur hieß Angela, genannt Angel. Zwei Blumenmädchen mit tragischem Schicksal, soweit er die Geschichte kannte, wobei Drogenexzesse wohl unter die von Hannah so gerühmte Freiheit fielen.

»Der Fall ist vielleicht nicht direkt was für Männer, die mögen ja keine Liebesgeschichten.« Sie schob ihm das Buch über den Tisch. »Aber wenn du wissen willst, wie das alles damals war ...«

Sie sah ihm in die Augen, während sich ihre Hände berührten.

»Man kann sich das heute gar nicht mehr vorstellen. Dieser Haß. Nur weil junge Leute anders sind, frei sein wollen.«

Irgendein Gedanke formte sich in seinem Hirn, aber Hannahs Augen verwirrten ihn. Und dann klatschte Martin Vogelsang in die Hände und bat um Ruhe.

Schrei nach Stille

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