Читать книгу Schrei nach Stille - Anne Chaplet - Страница 16
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ОглавлениеSophie Winter war kein Reh, vor dem man warnen mußte. Sie ist ein eiserner Schmetterling, dachte Bremer, als er außer Atem oben auf der Anhöhe ankam. Im kleinsten Gang. Peinlich.
Was machst du?
Radfahren mit null Kondition
Kein Wunder
Du bist grausam
Ja
Er steckte das Mobiltelefon in die Jackentasche, stieg wieder auf und ließ sich die Straße hinunter nach Klein-Roda rollen. Sophie Winter hatte ihn nicht wiedererkannt. Schade. Sie gefiel ihm. Und wer ein Haus voller Bücher hat, kann kein ganz schlechter Mensch sein.
Auf dem Feldweg empfing ihn der beißende Geruch frisch ausgebrachter Gülle. Das Dorf selbst wirkte wie ausgestorben. Niemand fegte die Gass’, kein Kind spielte auf der Straße, kein Auto parkte vor den Häusern.
Er lehnte das Fahrrad an den Gartenzaun, öffnete das Gartentor und ging ins Haus. Seine beiden Tiere hatten sich offenbar entschlossen, dem Wetter zu trauen und auf Pirsch zu gehen, keines begrüßte ihn. Ein Blick in den Kühlschrank sagte ihm, daß er einkaufen mußte. Diesmal nahm er das Auto nach Groß-Roda.
Groß-Roda war nicht viel größer als Klein-Roda, aber es hatte eine frisch angestrichene Fachwerkkirche zu bieten, zwei Bankfilialen, eine durchgeknallte Heilpraktikerin, einen gut-beschäftigten Tierarzt, eine türkische Bäckerei, deren deutsches Brot berühmt war, und ein »kreatives« Fotoatelier für »besondere Aufnahmen«. Außerdem gab es nicht nur Rinder und Schweine, sondern auch Pferde in Groß-Roda, eine zugezogene Lehrerin fuhr jedes Wochenende mit einem prächtigen Friesengespann über die Feldwege. Einer ihrer Nachbarn züchtete Zwergpekinesen. Ein Bach führte durchs Dorf, und einen halben Kilometer hinter dem Dorfausgang lag der Campingplatz, auf dem während der Fußballweltmeisterschaft britische Fans untergebracht worden waren, die allen, die Alkohol verkauften, glänzende Umsätze bescherten.
Vor allem aber gab es in Groß-Roda Jürgen’s Lädchen. Den sächsischen Genitiv verzieh sogar Paul ihm mittlerweile. Denn Jürgens kleiner Supermarkt war das Herz der Gegend, Quelle des guten Lebens und unverzichtbarer Umschlagplatz für Informationen aller Art.
Bei Jürgen war die Hölle los. Leere Kühlschränke hatten heute offenbar alle. Bremer kämpfte sich durch die schmalen Gassen zwischen den Regalen, grüßte, klopfte Schultern, tauschte besorgte Blicke. Niemand hatte etwas Neues von Luca gehört. Aber was die häuslichen Verhältnisse bei den Baumeisters betraf, kannten sich alle bestens aus. Manchmal waren ihm seine Nachbarn unheimlich.
Er packte ein, was irgendwie appetitlich schien oder den Katzen schmeckte, und ging dann zum Zeitungsstand. Dort stützte sich Moritz Marx auf seinen Einkaufswagen, die runde Brille mit Drahtgestell in der Hand, die ihn noch immer wie einen Berliner Studenten aussehen ließ, und blätterte in der neuen Ausgabe des Spiegels. Ein sparsamer Mann. Und ein Vorkämpfer der nahtlosen Integration in die Dorfgemeinschaft, jedenfalls wenn es um die eigene ging. Moritz Marx war der Beweis, daß friedliche Koexistenz möglich war – auch für einen ehemaligen Kreuzberger unter einer Horde starrköpfiger Oberhessen.
Moritz nickte ihm zu. Sie redeten selten miteinander, es war bekannt, daß sie zu jedem erdenklichen Thema entgegengesetzter Meinung waren. Kürzlich hatte Bremer vom wunderbar warmen Frühling geschwärmt und sich von Moritz eine Predigt über die dräuende Klimakatastrophe eingehandelt. Mumpitz. Seine Nachbarn trauten dem Wetter seit jeher jede Tücke zu. Mal war’s zu warm, mal zu kalt, nie war es recht, aber der Landmann fand sich ab, kassierte seine Subventionen und nahm Worte wie »Katastrophe« nur dann in den Mund, wenn damit weitere staatliche Hilfe zu begründen war.
Bremer stellte sich neben Moritz und griff nach der Gala. Die las er nur hier. »Es gibt wohl nichts Neues, oder?« fragte er nach einer Weile.
Moritz mochte ein Spinner sein, aber er war der erste, der sich um Nicole Baumeister gekümmert hatte, nachdem Luca verschwunden war.
»Nichts gibt’s. Gar nichts. Es ist nicht zum Aushalten. Nur unsere lieben Nachbarn wissen bestens Bescheid!«
»›Also was bei denen zu Hause los war ... ‹« Das hatte mit kritisch gesenkten Mundwinkeln vorhin am Obststand die Heilpraktikerin verkündet.
»›Und die Mutter nie daheim! Kein Wunder, daß der Junge weggelaufen ist!‹« Moritz war nicht ungeschickt im Nachahmen vertratschter älterer Damen. »Früher gab’s das nicht, die Gesellschaft ist schuld, die Schule hat versagt – such es dir aus.« Er hatte müde Augen und zeigte deutliche Anzeichen von Rebellion.
»Keine Spur, gar nichts?« fragte Bremer leise.
»Nein.«
»Was sagt die Polizei?«
Moritz zuckte die Schultern. »Die halten den Ball flach. Die verdächtigen immer erst die nächsten Anverwandten.«
»Statistisch gesehen ...«
»Statistisch gesehen! Das hat dein Freund, der Bulle, auch gesagt. Das hilft auch nicht weiter.«
»Gregor Kosinski ist längst pensioniert. Und außerdem hat er recht. Statistisch gesehen sind nahe Angehörige die wahrscheinlichsten Täter.«
»Na wunderbar. Nicole hat geheult, als sie vom Revier nach Hause kam. Und Walter ist gleich danach ausgezogen.«
Walter Manz, Heizungsbauer, Nicoles Freund seit gut zwei Jahren, war nicht von hier, genausowenig wie sie. Aber er kam nicht nur aus Thüringen, man hörte es ihm auch an. Und Luca – Luca schien ihn zu hassen. Beim letzten Mal hatte er »Ich mag den Manz nicht« gemurmelt, als man ihn fragte, warum er schon wieder weggelaufen sei.
Das Undenkbare war möglich. Bremer spürte, wie sich sein Magen zusammenzog.
»Und der Vater?« Werner Baumeister arbeitete als Fahrer bei DHL. Er schien immer guter Laune zu sein, wenn er seine Pakete auslieferte. Aber was sagte das schon aus über seine Qualitäten als Mann und Vater?
»Der hat seinen Sohn seit Weihnachten nicht gesehen. Sagt er.«
»Und was nun?«
Moritz zuckte wieder mit den Schultern. »Abwarten.«
»Was glaubst du?«
»Ich glaube gar nichts. Luca ist ein gerissener kleiner Bengel. Doch normalerweise kommt selbst ein Junge, der mit allen Mitteln wegwill, nicht weit. Von irgend etwas muß er schließlich leben.«
Bremer warf einen Blick in Moritz’ Einkaufswagen. Der bekannteste Ökofreak weit und breit lebte offenbar von Tiefkühlpizza, Wiener Würstchen, Gouda und Toastbrot. Moritz blickte ihn gleichmütig an. »Mir egal, ob das gesund ist«, sagte er.
Auch das war neu. Moritz Marx entwickelte sich zum Ketzer. Bremer legte die Zeitschrift zurück ins Regal. »Kennst du Sophie Winter?« Moritz hatte mal für das Bürgermeisteramt kandidiert, er legte Wert darauf, über alles und jeden Bescheid zu wissen.
»Klar kenn ich sie. Das letzte Haus in der Siedlung. Sie wohnt allein in der alten Bruchbude.«
»Sie ist beim Sturm unter einen Baum geraten. Ich hab sie heute morgen gefunden, gerade noch rechtzeitig.«
Moritz setzte sich die Brille auf und musterte ihn. »Soso. Na, das paßt ja. Da werden sie wieder alle vom Fluch erzählen, der auf ›Heinrichs Verhängnis‹ liegt.« Nach einem Blick in Bremers Gesicht lachte er. »Sag bloß, du kennst die Geschichte nicht?«
Bremer zögerte. Dann schüttelte er den Kopf.
»Heinrich Brauer hat sein ganzes Vermögen, das er nach der Jahrhundertwende bei der Eisenbahn gemacht hatte, in die Siedlung gesteckt – in Häuser, die nicht in die Landschaft paßten und erst recht nicht zum Geschmack der ansässigen Bauerndickschädel. Weshalb der verrückte Heinrich kurze Zeit später pleite war und sich auf dem Dachboden des letzten seiner Traumhäuser erhängte.«
»Zufällig in dem, in dem heute Sophie Winter wohnt?«
»Zufällig. Das Haus bringt kein Glück.«
»Dafür dürfte sie es billig gekriegt haben.«
»Schon möglich. Aber das wird ihr egal gewesen sein. Die hat genug Geld. Und deshalb fragt sich jeder ...« Moritz hob die Schultern und breitete die Hände aus. »Warum ausgerechnet dieses Haus? Warum ausgerechnet bei uns? Was will sie hier in dieser gottverlassenen Gegend?«
Ganz eindeutig: Moritz war vom Glauben abgefallen. Normalerweise ließ er nichts auf seine »gottverlassene Gegend« kommen. Und das, fand Bremer, gehörte sich auch so.
»Nicole meint, das hinge irgendwie mit dem Buch zusammen, mit dem sie das ganze Geld verdient hat. Aber ich kann dazu nichts sagen. Ich habe das Werk nicht gelesen.«
»Welches Buch?« Sophie Winter als Privatgelehrte? Das war eine hübsche Vorstellung.
»Kriegst du denn gar nichts mehr mit? Ein Roman.« Moritz klopfte auf den Spiegel. »Stand wochenlang auf der Bestsellerliste.« Er sah aus, als ob es ihn freute, Bremer bei einer Bildungslücke erwischt zu haben.
»Da war ich wohl in Dubai«, sagte Bremer bescheiden. »Oder in Kenia.« In Marokko. Oder in Ruanda. Aber man sollte niemanden neidisch machen.
»Ach so – deshalb.« Moritz’ Blick verweilte unanständig lange auf dem, was Bremer vornehm sein Embonpoint nannte, diese leichte Wölbung oberhalb der Taille, das Ergebnis von unzähligen Galadiners und entschieden zu vielen eiskalten Gläsern mit Daiquiri, Mojito oder Tequila Sunrise, die sich zu fünf Kilo Übergewicht summiert hatten.
»Urlaub mit Anne?«
»Schön wär’s. Sie war beschäftigt.« Mit so Kleinigkeiten wie der Finanzierung eines Kraftwerks in Ruanda im Austausch für ein paar Schürfrechte in den dortigen Minen, zum Beispiel. über ihre Deals mit den Scheichs in Abu Dhabi hatte sie geheimnisvoll geschwiegen. Aber nachdem er die Herren mit dem Kopfputz lächeln gesehen hatte, wollte er Näheres nicht mehr wissen.
»Also Sophie Winter ...« Mor itz wiegte den Kopf.
»... hat ein Buch geschrieben. Das hatten wir schon. Worüber?«
»1968. Freie Liebe, Drogen, Revolution. Irgendwie ist das Thema nicht totzukriegen.« Moritz stellte den Spiegel zurück ins Regal.
»Und damit kommt man auf die Bestseller liste?«
»Es soll spannend sein. Und grausam enden.« Moritz lachte unfroh. »Fast wie im richtigen Leben.«
»Wer’s mag«, sagte Bremer. Irgendwie paßte das nicht zu Sophie Winter.
Moritz griff nach seinem Einkaufswagen. »Ich muß dann mal«, sagte er.
Bremer winkte ihm zu und schlug einen Bogen zurück zum Tchibo-Regal, auf der Suche nach annehmbaren Unterhosen. Dann ging er zur Kasse. Lucas Mutter war kein Feigling. Nicole Baumeister half auch jetzt noch in Jürgen’s Lädchen aus, thronte hinter dem Förderband und zog mit stoischer Miene die Waren über den Scanner. »Unkraut vergeht nicht«, sagte eine Kundin zu ihr, als sie ihr das Wechselgeld in die Hand drückte. »Der kommt schon wieder, der Kleine.«
»Danke«, antwortete Nicole, als habe man ihr ein Kompliment gemacht. Gleichgültig grüßte sie den nächsten Kunden, aber Bremer lächelte sie an.
»Es tut mir so leid, Nicole«, sagte er leise. Und dann sah er die Tränen in ihren Augen.