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»Bevor ich es vergesse ...« Martin Vogelsang hatte die Stimme kaum gehoben, aber sofort waren alle still. Der Mann mit der etwas zu langen grauen Mähne hatte seine Leute verdammt gut im Griff. Eine Disziplin wie bei der Polizei. Wer hätte das einem Alt-68er zugetraut. DeLange grinste.

»Wir erwarten ein paar liebe Gäste. Nikolaus Maurer von den Profilen arbeitet an einem Porträt von Sophie Winter, der Autorin der Romanvorlage zu unserem Film, und möchte ein paar atmosphärische Eindrücke sammeln.« Ein einsames Buh. »Georg Blumenkron macht Fotos. Den kennt ihr ja. Seid nett zu den beiden.« Protestgemurmel. »Ich hasse es, wenn hier dauernd geknipst wird!« zischte die Darstellerin der Sascha, Hedi Baumeister, eine lange Blondine, die DeLange längst nicht so hübsch fand wie Hannah Lohberg. Journalisten und Bildreporter waren am Filmset offenbar weit unbeliebter als ein Berater der Polizei. Daran hatte er allerdings hart arbeiten müssen.

»Und wenn wir ganz großes Glück haben, wird uns auch noch die Autorin besuchen.«

Kein Laut. Autoren waren offenbar ähnlich hoch angesehen.

»Wir machen in einer Stunde weiter!«

Wieder redeten alle durcheinander. Ein blonder Wuschelkopf stürzte auf Hannah zu, Mareike, die Maskenbilderin, die dafür sorgte, daß sich kein Strähnchen aus Hannahs roter Mähne verirrte, wenn sie vor der Kamera stand. Hannah nickte Mareike zu und folgte ihr.

DeLange erhob sich ebenfalls und war auf dem Weg nach draußen, als Martin Vogelsang ihn abfing.

»Giorgio – hätten Sie mal ein paar Minuten ...«

Natürlich hatte er. Und hoffentlich hatte Martin Vogelsang ein Problem, das in ein paar Minuten paßte. Der Mann hatte sich von Anfang an durch Gründlichkeit ausgezeichnet, die man auch Pingeligkeit nennen konnte, schon im ersten Telefongespräch. »Mir liegt daran, daß die historischen Details stimmen. Alles andere ...«

Alles andere fällt unter die Freiheit von Kunst und Literatur, hatte DeLange gedacht. Schon verstanden. Hier wird schließlich kein Streifen für den Polizeilehrgang gedreht. Haben wir längst kapiert.

»Und wenn es die Dramaturgie verlangt ...«

... dann schieß dir ins Knie, Bulle. Klar doch. Er hatte einen zustimmenden Laut von sich gegeben.

»Wir sind der Frankfurter Polizei natürlich dankbar für Rat und Unterstützung. Andererseits geht es um 1968. Und um es gleich zu sagen: Ich stand damals auf der anderen Seite.«

Nicht mein Problem, hatte DeLange gedacht. Ich war damals sieben.

»Mir ist der Film wichtig. Auch aus biographischen Gründen, verstehen Sie?«

Der Mann hatte gereizt geklungen, und DeLange hätte fast die Geduld verloren. Was machten diese Leute bloß für einen Aufstand? 1968 war lange her. Und soviel er wußte, hatten beide Seiten damals ziemlich viel Mist gebaut.

»Die Verantwortung für Ihren Film liegt ganz bei Ihnen, Herr Vogelsang. Wir halten uns da völlig raus.«

Nach diesem Telefongespräch wurde das Verhältnis zu Vogelsang langsam besser. Und mittlerweile war es fast freundschaftlich. Sie siezten sich zwar immer noch, nannten sich aber bei den Vornamen. Das Du kam wahrscheinlich bei der Abschiedsparty. Spätestens beim Preview.

»Ihre Männer«, sagte Vogelsang und wiegte das Haupt. »Ihre Männer sehen so harmlos aus. Trug man damals keinen Helm bei solchen Razzien?«

»Helme trägt man auch heute lediglich bei geschlossenen Einsätzen, Martin«, antwortete DeLange.

»Also – Sie sind mit der Szene zufrieden?« Vogelsang kaute nervös auf der Unterlippe. »Sie finden das alles realistisch?«

»Sicher«, sagte DeLange. »Sehr.« Eine Notlüge. Um seine Männer zu schonen. Und was sollte er sonst sagen? Realistisch war hier gar nichts.

Aus Sicht der Polizei ist der ganze Krimiquatsch sowieso Mumpitz, hätte er am liebsten gesagt. Bei uns kann man Frauen im Rang einer Kriminalhauptkommissarin suchen. Bei uns gibt es keine einsamen Lichtgestalten auf der Suche nach der Wahrheit. Keine genialen Eingebungen, keine kreative Ermittlungsarbeit, sondern Routine, Bürokratie und unfähigen Nachwuchs, desinteressierte Staatsanwälte, gestreßte Notärzte und heuchlerische Journalisten und, ganz am Ende, ein paar übernächtigte Pflichtmenschen, die sich mit dem geduldigen Bohren dicker Bretter beschäftigen. Bei uns gibt es keinen Fall, bevor nicht die Akte dazu angelegt wurde.

Eigentlich braucht ihr uns nicht. Ihr betreibt Kunst, wir Handwerk. Die Wirklichkeit ist witzlos. Meistens jedenfalls.

Aber im Frankfurter Polizeipräsidium sah man das anders. Klara hielt den Krimiboom für ein Identifikationsangebot an »die Menschen«. Fand das prima, all diese feinfühligen Bildschirmermittler. Sah darin den willkommenen Gegenentwurf zum Klischee vom blöden Bullen. »Wir müssen ein Kulturfaktor sein«, pflegte der Polizeipräsident zu predigen, dessen Lieblingsthema »Bürgernähe und Imagewechsel bei der Polizei« hieß. Na, wenn’s der Wahrheitsfindung dient.

Martin Vogelsang seufzte. »Lassen Sie uns kurz über die Verhörszene morgen reden. Ich hätte das gern authentisch.«

Authentisch. Na klar. Ausgerechnet die Produzenten von Träumen pochten auf die Wirklichkeit. Aber warum nicht. An ihm sollte das nicht scheitern. Ausrüstung und Outfit der Polizisten waren Vintage 60er Jahre, direkt aus dem Summer of Love 1968, darum hatte er sich schon vor Monaten gekümmert – und sogar zwei allerliebste VW Käfer organisiert, mit denen man damals zum Einsatz fuhr. Auch wie man seinen Kunden den Dienstausweis hinhält, hatte er mit den Darstellern von Jensen und Herrmann, den beiden Kripomännern, geübt. Und daß der Fußtritt gegen die Wohnungstür gekonnt war – geschenkt. Seine Jungs kannten sich aus. Und er war früher auch nicht ohne gewesen.

Vogelsang fuhr sich durch die Haare. »Das Vernehmungszimmer. Da müssen nicht nur die Tische und Stühle stimmen. Da muß die ganze Atmosphäre den Geist von damals atmen.«

Wenn man das Drehbuch nahm, herrschte damals der Geist von Abu Ghraib. Aber ihm war das mittlerweile egal. Wie sagte Klara immer: »Wenn die Bullen in den Fernsehkrimis so gut wären wie wir, wäre die Geschichte nach zehn Minuten vorbei, Jo, und wo wäre da der Unterhaltungseffekt?«

»Ist alles schon vorbereitet, Martin. Keine Sorge. Das wichtigste bei der Szene sind Ihre Schauspieler.«

Vogelsang schenkte ihm einen Blick wie ein zweifelnder Riesenschnauzer, murmelte »Großartig!«, klopfte ihm männlich-herb auf die Schulter und entließ ihn in die Frühlingssonne.

Als DeLange noch rauchte, hatte er oft vor dem Hintereingang zum alten Präsidium gestanden und mit den ebenfalls abhängigen Kollegen konspiriert. Schon deshalb war er ein Fan des Rauchverbots – es beförderte interessante Intrigen. Und es sorgte dafür, daß es selbst im Winter gemütliche Plätzchen zum Draußensitzen gab. Er mochte das. Er rauchte zwar schon lange nicht mehr, aber er brauchte Luft.

Der Hof war zugeparkt. Die weißblauen Wagen des Hessischen Rundfunks standen überall. Dazwischen zwei Wohnwagen für die Schauspieler. Alle anderen parkten in der zweiten Reihe, blockierten die Autos auf den fest vermieteten Plätzen und hofften offenbar, daß niemand kam oder ging.

Er hörte die Stimmen, noch bevor er um die Ecke bog.

»Ei, was glauben Sie dann, wer Sie sind?« Breitestes Frankfurterisch. Weiblich. Wütend. Im besten Alter. Jeans, weiter Pullover, rote Haare, hochgesteckt, wahrscheinlich gefärbt.

»Des geht jetzt schon seit Tagen so. Sie können doch hier nicht alles zu parken! Wo leben wir denn!«

Stiefel mit mittelhohem Absatz. Ohrhänger. Die Hände in die Seiten gestemmt.

»Und die Polizei steht hier rum und dreht Däumchen!«

DeLange grinste in sich hinein, als er die verlegenen Gesichter seiner Leute sah. Die Jungs konnten ja nicht gut »Wir sind eigentlich gar nicht hier« sagen. Und eigentlich sind wir auch nicht die Polizei. Jedenfalls nicht im Moment. Morgen wieder.

Die vier Männer in Blousons und mit Pferdeschwänzen, die neben den zwei mächtigen Bussen mit der Technik standen, taten so, als ob sie das alles nichts anginge, und luden Lampen und Stative aus. In einem der Wohnwagen bewegte sich etwas.

»Liebe Frau ...« Der Schauspieler, der im Film den Kriminalhauptkommissar Jensen gab, hatte seinen Hut aufgesetzt und machte auf echter Bulle.

»Des könnese sich sonstwo hintun, Ihre liebe Frau! Ich will an mein Auto!«

»Verzeihen Sie, aber wir hatten doch alle informiert ...«

»Worüber? Meinen Sie, Sie hätten ein Recht auf Freiheitsberaubung?«

Jensen lief puterrot an. DeLange verzog keinen Gesichtsmuskel, als seine Jungs hilflos zu ihm herüberschielten. Ordnungskräften fiel es auch außerhalb der Dienstzeit schwer, sich aus Streitereien herauszuhalten. Die Filmcrew in den Blousons hatte den Rückzug angetreten. Und Martin Vogelsang ließ sich nicht blicken. Keiner war zuständig. In diesem Moment ging die Tür des größeren der Wohnwagen auf. Hannah Lohberg schwebte heraus, in einem dicken Lammfellmantel über ihrem Flowerpower-Pop-art-Kleid.

Die Lohberg bewegte sich zielstrebig auf die protestierende Frau zu, legte ihr die feinen Finger auf den Unterarm und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Die Frankfurter Furie war schlagartig still. Erst ungläubiges Staunen, dann so etwas wie ein Lächeln und schließlich schallendes Gelächter.

»Ihr seid doch nicht ganz echt«, sagte die Frau. Die Lohberg schüttelte den Kopf. »Ihre Adresse«, sagte sie. »Sie kriegen eine Einladung zum Preview. Sie kommen doch, oder? Mir zuliebe!«

Die andere kramte in ihrer Handtasche, holte ein Kärtchen hervor, das Hannah huldvoll entgegennahm, breitete die Arme aus – Kapitulation! –, lächelte und ging.

DeLange hätte Hannah am liebsten geküßt. Aber Mareike stürzte schon wieder auf sie zu, musterte kritisch ihr Gesicht und fuhr ihr mit der Puderquaste über Stirn und Nase. DeLange sah fasziniert hin. Und dann blickte sie auf. Sie lächelte. Sie schwebte auf ihn zu. Sie strahlte ihn an. Eine göttliche Erscheinung.

Starr doch nicht so, DeLange, dachte er.

Sie lächelte und lächelte, und endlich lächelte DeLange zurück. Doch sie ging an ihm vorbei. langsam drehte er sich um. Hannah umhalste einen großen, überschlanken Mann mit glattrasiertem Kopf. Küßchen links, Küßchen rechts. Hinter den beiden ein Mann mit Mütze, die Fototasche über der Schulter.

Das mußte der angekündigte Besuch sein. Und Hannah ...

DeLange fühlte sich entblößt. Das hier war ihre Welt. Und nicht die Welt eines leidlich gut gekleideten Kriminalhauptkommissars, der beim Gedanken an einen von ihm eigenhändig erschossenen kleinen Drogendealer Schmerzanfälle kriegte.

Er kannte das Gefühl, das ihn soeben wieder überwältigte, stellte die Beine ein wenig auseinander, ging leicht in die Knie und faltete die Hände auf dem Rücken. So, wie ein Bulle eben steht, wenn er so tut, als ob er entspannt wäre.

Das Gefühl. Ein Scheißgefühl. Es sagte: Du hast den falschen Beruf, Itaker.

Er zog sich in die Kantine zurück, während die anderen weiter drehten, und vertiefte sich in das Buch der Autorin, die er ja demnächst zu sehen bekommen würde. Er vergaß die Sorge um Flo und Caro. Er dachte nicht mehr an den verschwundenen kleinen Jungen. Am Ende des Drehtags vergaß er, Hannah ihr Buch zurückzugeben. Er vergaß sogar, sie anzulächeln, als sie aller Welt – und vor allem dem glatzköpfigen Journalisten – Luftküsse zuwarf, bevor sie davonschwebte.

Während er nach Hause fuhr, langsamer als sonst, ahnte er, woran das Buch ihn erinnerte. Er sah das Gesicht vor sich, das Gesicht einer Frau. Ein besonderes Gesicht. Ein atemberaubend schönes Gesicht.

Schrei nach Stille

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