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Der Wind frischte auf. Bremer trat noch einmal in die Pedale und ließ sich dann die Landstraße hinabtreiben. Er versuchte, nicht an den Rückweg bergauf zu denken, den er früher spielend genommen hätte. Heute nicht. Nicht mit fünf Kilo Übergewicht.

Am Hang hatte der Wind eine Schneise in die Buchenschonung geschlagen. Der grob zusammengezimmerte Hochsitz oben auf der Anhöhe lag auf dem Rücken wie eine tote Kuh, an seinen Beinen hatten sich Laub, Zweige, Papier- und Plastikfetzen gesammelt. Am Himmel segelte ein einsamer Greifvogel, und aus dem Gebüsch am Feldweg stob ein Schwarm Spatzen auf, als er vorbeifuhr.

Gleich nach dem Ortsausgangsschild bog er ab und nahm den Weg hoch zur Grillhütte. Links lag das Holzlager, das Otto Busse und sein Sohn angelegt hatten und immer schwunghafter betrieben, seit auch auf dem Land ein flackerndes Kaminfeuer wieder geschätzt wurde. Das war noch vor ein paar Jahren anders gewesen, als das Hausfrauenmotto lautete: Macht Dreck, macht Arbeit, kommt mir nicht ins Haus.

Rechts ging es in den Auenweg. Die Siedlung aus den 20er Jahren sah aus wie ein Spielzeugdorf aus Disneyland. Die prächtigen Villen mit geschnitztem Fachwerk und ausladenden Balkonen, wie man sie aus den feinen Badeorten des 19. Jahrhunderts kannte, paßten nicht hierhin, in die karge Landschaft aus Wiesen, Maisfeldern und spärlichen Wäldern, in denen nichts gedieh außer Rindern und Schweinen. Der Volksmund hatte die Siedlung »Heinrichs Verhängnis« getauft. Ihr Erbauer war an den acht Häusern pleite gegangen, und nachdem sie jahrelang leer gestanden hatten, waren die alten Schmuckstücke so gründlich renoviert worden, daß alle gleich gesichtslos aussahen. Und alle hatten ordentlich beschnittene Thujahecken, sauber umgegrabene Gartenbeete, Beerensträucher, vielleicht ein paar Rhododendren im Vorgarten.

Alle, bis auf eines.

Bremer wich einem dicken schwarzweißroten Kater aus, der mit gelassener Menschenverachtung über die Straße promenierte.

Nur eines der Häuser zeigte noch immer sein geschnitztes Fachwerk unter den Dachgauben, am Balkon und am romantischen Wintergarten. Doch nur, wenn man genauer hinsah: Das Haus war umstellt von wucherndem Grün, von schwankenden Kiefern und düsteren Tannen, so, als ob es das Sonnenlicht scheute.

Bremer bremste und stieg vom Rad. Das Haus hatte am längsten von allen leer gestanden, erst seit gut einem Jahr wohnte wieder jemand hier. Er hatte die Bewohnerin ein paarmal beim Joggen gesehen, nur flüchtig, sie hatten einander zugenickt, mehr nicht. Alle behaupteten, man müsse komplett verrückt sein, um einen alten, heruntergekommenen Schuppen wie diesen hier zu kaufen und auch noch mutterseelenallein darin zu wohnen.

Verrückt wirkte sie auf Bremer nicht. Sie war eine zierliche Person mit hellbraunen Augen, halblangen weißen Haaren und Haltung, Typ: Vor Rehen wird gewarnt. Also elegante Erscheinung, aber im Kern stabil wie ein Rennradrahmen aus Carbon.

»Also arbeiten hat man die doch noch nie gesehen.« Marianne, der Ausbund einer fleißigen Landfrau. »Hat wohl reich geheiratet.«

Weiber.

Einmal hatte er sie halb gebückt im Garten entdeckt, die Haare zusammengebunden, in der rechten Hand eine Handschaufel, in der linken einen Blumentopf. Sie hatte hochgeblickt und ihn plötzlich angelächelt. Ihr Gesicht war nicht mehr jung, im Sonnenlicht sah man die Kanten und Furchen, aber es leuchtete. Dennoch hatte er sich nicht getraut, anzuhalten und mit ihr zu sprechen. Sie wirkte nicht unnahbar, das nicht. Aber ein bißchen – na ja: wie nicht ganz von dieser Welt. Unirdisch. Überirdisch.

Jedenfalls nicht wie eine früh pensionierte Lehrerin. Außerdem fuhr sie eine Antiquität, einen roten Mercedes 190 SL, der als einziges Auto draußen auf der Straße stand. Das Haus hatte keine Garage.

Bremer lehnte das Fahrrad an den Gartenzaun. Daß Ulla Abel nicht nach ihr hatte sehen wollen, war ungewöhnlich. Nachbarschaftshilfe gehörte zum Landleben wie Gülle auf den Feldern. Und wenn tatsächlich etwas passiert war?

Der Garten war unaufgeräumt, Bremer kannte ihn nicht anders. Äste auf dem Boden unter den hohen Bäumen, neben dem Gartentor ein umgestürzter Blumentopf. Das Gartentor stand sperrangelweit offen. Er ging durchs Tor über den gepflasterten Weg auf die Haustür zu. Die Haustür war geschlossen, aber das kleine Fenster daneben stand offen. Erst als er näher kam, sah er, daß dem Fenster die Scheibe fehlte. Nur ein paar Glassplitter staken noch im Rahmen. Und es knirschte unter seinen Schuhen. Glasscherben. Warum lagen sie hier draußen und nicht drinnen, was normal wäre, wenn es sich um einen Sturmschaden handelte?

Kein Name neben der Türklingel aus stumpf gewordenem Messing. Er klingelte trotzdem. Kein Laut. Nichts rührte sich. Als er versuchsweise die Klinke herunterdrückte, riß ihm ein Windstoß die schwere Holztür aus der Hand. Eine weiße Katze sprang ihm entgegen und an ihm vorbei.

»Hallo? Ist jemand zu Hause?«

Nichts. Niemand. Und das bei unverschlossener Tür. Die Stille machte ihn unruhig. Und obwohl er sich scheute, ein fremdes Haus zu betreten, sah er in jeden Raum. Die Küche war groß und kalt. Das Kaminzimmer noch größer und etwas wärmer. Die Bücherregale fielen ihm auf und die Tatsache, daß sie voller Bücher waren. Doch Lehrerin? Oder nur Leserin? Im ersten Stock klopfte er, bevor er die Türen öffnete, aber es war nur ein Zimmer bewohnt. Ein Schlafzimmer. Auch hier keine Menschenseele.

Was hatte Wilhelm gesagt? Was hatte Ulla Abel gehört?

Er lief wieder hinunter und hinaus, zog die Haustür hinter sich zu und ging ums Haus herum. Die Nachbarn hielten sich nach hinten heraus gepflegte Rasenflächen, eine Terrasse, einen Grillplatz, aber in diesem Garten gab es nichts als Bäume. Mindestens drei von ihnen hatte es erwischt, soweit er erkennen konnte, zwei Nadelbäume waren umgeknickt, und eine Birke wurde von einer der Tannen gegen das Haus und das Dach gedrückt. Bei jedem Windhauch gab es ein häßlich schabendes Geräusch. Bremer trat näher. Unter dem tief herabhängenden Ast der Tanne schimmerte es weiß. Er beschleunigte seine Schritte. Die Birke knarrte und knarzte, die Tanne zitterte, und unter ihren Zweigen flackerte das Weiß. Er kniete nieder und schob die Zweige zur Seite.

Die Frau hatte die Augen geschlossen und atmete flach. Die linke Hälfte ihres blassen Gesichts war überzogen von schwarzen Rinnsalen, wie eine Faschingsmaske sah das aus, es mußte getrocknetes Blut sein. Wie lange sie wohl hier schon lag? Bremers Blick glitt an der schlanken Gestalt im weißen T-Shirt entlang. Der Baum hatte sie eingeklemmt, der schwere Ast lag über ihren Oberschenkeln. Er schaute wieder hoch. Was würde passieren, wenn er versuchte, sie unter der Tanne hervorzuziehen? Wie schwer war sie verletzt?

Hilfe holen. Aber vielleicht war es dann schon zu spät.

Die Frau gab ein Geräusch von sich, ein mattes Seufzen. Sie war blaß, viel zu blaß. Keine Zeit, um auf einen Krankenwagen oder die Feuerwehr zu warten. Er hockte sich unter den Ast, stemmte ihn hoch und drückte ihn zur Seite. Vom Dach her ertönte ein protestierendes Kreischen – Blech, das dem Druck nachgab, es mußte die Dachrinne sein. Er hielt mit dem Rücken den Ast in Position und zog den regungslosen Körper darunter zur Seite. Dann ließ er den Ast langsam wieder sinken. Für einen Moment herrschte Gleichgewicht, bis sich die Birke mit einem Protestschrei zur Seite neigte und die Dachrinne mitriß. Stille. Bremer horchte auf den Wind und auf den Atem der Frau. Die weißen Haare lagen wie Federn um ihr Gesicht, der Mund schien zu lächeln. Aber die Augen waren geschlossen. Kein Lebenszeichen.

Erst jetzt spürte er die Kälte.

Schrei nach Stille

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