Читать книгу Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue - Anne-Laure Daux-Combaudon - Страница 5

Einleitung

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Die in diesem Band enthaltenen Beiträge gehen auf eine Tagung zurück, die im Juni 2018 an der Universität Sorbonne Nouvelle anlässlich des 65. Geburtstags unserer Kollegin, Prof. Dr. Irmtraud Behr, stattfand. Von den verblosen Sätzen über „parenthetische Einschübe“ (vgl. Spitzl-Dupic 2018) und „fragmentarische Äußerungen“ (vgl. Marillier / Vargas 2016) bis hin zu den Schildern im öffentlichen Raum liegt ein Schwerpunkt der Forschungsarbeiten von Irmtraud Behr auf sprachlichen Formen, die als ‚kurz‘ bezeichnet werden können. Solche kurzen Formen kommen ohne die üblichen Satzmittel (z.B. finites Verb) aus, setzen besondere deiktische Mittel ein und weisen komplexe Beziehungen zum Kontext auf. Als ‚regelabweichende Strukturen‘ bilden sie eine Herausforderung für wort-, satz- und verbzentrierte Beschreibungsmodelle der Sprache und zwingen zu neuen Wegen (s. die Liste der Publikationen von Irmtraud Behr S. 383).

Bei ‚kurzen Formen‘ handelt es sich zwar weder um einen wissenschaftlich klar abgegrenzten, noch um einen fest etablierten Begriff. Im Unterschied zu dem anscheinend nahestehenden, viel diskutierten Begriff der ‚Ellipse‘ (vgl. Hennig 2013) klingt der Begriff ‚kurze Form‘ sogar nach einem relativ ‚theoriefreien‘ Forschungsgegenstand. Doch sprachliche Kürze bildet andererseits „eine der klassischen Kategorien von Rhetorik und Stilistik“ (Gardt 2007: 70) und wohl deswegen durchaus ein Phänomen, das im kollektiven Sprachbewusstsein präsent ist (vgl. Bär / Roelcke / Steinhauer 2007 oder Balnat 2013: 82) und Gegenstand sprachkritischer, normativer, grammatischer und epilinguistischer Diskurse ist. ‚Kurze Formen‘ zu thematisieren bedeutet oft, dass man sie mit „längeren Formen“ paraphrasiert oder vergleicht, da ‚Kürze‘ nur eine relative Größe ist. Die Frage stellt sich, was hinter solchen Vergleichsversuchen steckt, warum und wozu überhaupt ‚kurze‘ sprachliche Formen mit ‚langen‘ verglichen werden und warum sie besonders herausgestellt werden. Oft dienen solche Vergleiche dazu, in rhetorisch-stilistischer Tradition Wertungen und Empfehlungen vorzunehmen, denn kurze Formen gelten einerseits als ökonomisch und prägnant, andererseits bergen sie die Gefahr der fehlenden Deutlichkeit und Klarheit – wenn man auf die Rezipienten und deren nötige Mitarbeit fokussiert. Eine weitere Frage ist, ob eine als kurz bezeichnete Form „an sich“ kurz ist oder ob sie als Kürzung einer umfangreicheren Form analysiert werden sollte. Die aktuelle Forschungstendenz (s. dazu auch Baldauf-Quilliatre 2016) geht eher dahin, kurze Formen nicht als defizitäre Formen anzusehen, sondern ihrem eigenen Potential für die Realisierung besonderer kommunikativer Zwecke und textueller Funktionen unter Einbeziehung des außersprachlichen Kontextes auf den Grund zu gehen. In solchen Debatten nimmt das Phänomen der Verblosigkeit eine gesonderte Stellung ein, da ein Grundverständnis von Satz und Syntax an das Verb gebunden ist, welches durch das Fehlen der verbalen Einheit erschüttert zu werden scheint. Über das Thema ‚Verblosigkeit‘ hinaus ergibt sich die Frage, was zur elementaren Gliederung eines Satzes gehört, was zum Ausdruck eines Gedankens in Form eines Satzes notwendig ist und ob konkurrierende Satzmodelle bestehen können bzw. sollten.

Die Debatte um den Stellenwert kurzer Formen in der Sprachtheorie bildet den Ausgangspunkt des Bandes: Friederike Spitzl-Dupic geht der Diskussion über ‚Vorzüge‘ und ‚Nachteile‘ kurzer sprachlicher Formen in der deutschen Grammatikographie des 18.–19. Jahrhunderts nach, wobei diese Diskussion im damaligen sprachrachpolitischen Kontext zu situieren ist, wo das Deutsche mit den Referenzsprachen Latein und Französisch verglichen wird. Am Beispiel zweier Grammatiker, Hempel und Götzinger, werden zwei unterschiedliche Ansätze präsentiert: Bei Hempel spiegeln sich die zeitgenössischen Topoi der Deutlichkeit und Bestimmtheit in einer hyperkorrektiven Forderung nach maximaler Expliziertheit wieder. Götzinger dagegen integriert Sprecher- und Hörerperspektive sowie die Rolle des Kontextes, unterscheidet verschiedene grammatische ‚elliptische‘ Strukturen und versucht kommunikative Funktionen unterschiedlicher kurzer Formen zu identifizieren. Sein Ansatz bildet, so Spitzl-Dupic, den „Höhepunkt einer pragmatischen Ausrichtung, die in der 2. Hälfte des 18. Jahrhunderts einsetzt“.

Der Beitrag von Mikhail Kotin und Monika Schönherr fokussiert auf die Verblosigkeit als Merkmal infiniter und afiniter Strukturen. Es geht den Autoren in einer typologischen und universalgrammatischen Perspektive darum, solchen infiniten und afiniten Syntagmen „vollen Satzwert“ zuzuweisen. Infinite Strukturen werden einerseits als coverte bzw. overte Ellipsen interpretiert, andererseits als „nichtelliptische Kompressionen“ analysiert. Daran anknüpfend werden diachronische Aspekte untersucht: Es wird gezeigt, dass sich bei der Verwendung afiniter Strukturen als ‚syntaktische Kurzformen‘ in der Diachronie sowie in der Gegenwartssprache stilistische und pragmatische Faktoren nachweisen lassen.

Odile Schneider-Mizony geht den ‚Haltungen‘ und ‚Träumereien‘ der Sprecher (Philosophen, Rhetoriker, Sprachwissenschaftler…) auf die Spur, in denen Mythen und Topoi zur Sprache erscheinen. Die sprachliche Kürze ist Gegenstand ethischer, poetischer, sprachhistorischer Überlegungen, in denen die Vorzüge und Nachteile von kurzen Formen hinsichtlich Wahrheit, Effizienz, Eleganz, Höflichkeit, Klarheit, Prägnanz, Aufwand … abgewogen werden. Insgesamt genießt sprachliche Kürze, zumindest im europäischen Sprachbewusstsein, einen positiven Ruf, was aber eher auf einer instrumentalen Auffassung von Sprache beruht.

Ähnlich wie verblose Sätze stellen auch sogenannte ‚eingliedrige Sätze‘ eine Herausforderung an das Verständnis von Sätzen und ihrer Funktion dar. Frank Liedtke zeichnet die Ende des 19. Jahrhunderts einsetzende Debatte um die Eingliedrigkeit von Sätzen in wissenschaftshistorischer Perspektive nach, ausgehend von Autoren, die von der Auffassung der notwendigen Zweigliedrigkeit Abstand nehmen (Miklosich), bzw. die für solche Strukturen ein unbestimmtes Subjekt (Wundt) oder zumindest die Verknüpfung zweier Vorstellungen (Paul) annehmen und eingliedrigen Sätzen einen eigenständigen Platz in der Sprachtheorie einräumen (Martys „thetische Aussagen“), bis hin zu modernen Debatten um die Ergänzung indexikalischer Elemente als „unartikulierte Konstituenten“ in der semantischen Repräsentation (Perry, Stanley / Szabo, Récanati).

Katharina Mucha untersucht minimale Formen der ‚Zweigliedrigkeit‘,nämlich solche Sätze, bei denen ein zugrundeliegendes Schema des Typs x ≆ y angesetzt werden kann (Die Schildkröte ist weise / Der Elefant ist fröhlich / Surfen ist cool / Koch zu sein, ist der lukrativste Job der Welt / Loving you is killing me etc.) und unterscheidet dabei verschiedene Typen von Prädikaten und kopulativen Relationen, die sie in Verbindung setzt mit Wissensrepräsentationen in der mentalen Abspeicherung (semantisches vs. episodisches Gedächtnis) und mit denen sie die Möglichkeit verschiedener Perspektivierungsleistungen in Bezug auf Givenness / Newness verknüpft.

Mustapha Krazem interessiert sich für nicht-sprachliche kurze Formen im gesprochenen und geschriebenen Sprachgebrauch bzw. für nicht-sprachliche Zeichen wie Gesten, Typographie, Interpunktion usw., die er insofern für kompakt hält, als sie Inhalte aggregieren, deren verbaler Ausdruck mehrere Wörter verlangen würden. Er vertritt die Idee, dass das sprachwissenschaftliche Material nicht ausschließlich aus Wörtern besteht, und schlägt vor, „Wörter und Grimassen gleichzusetzen“ und Wörter und nicht-sprachliche Zeichen in einem einheitlichen theoretischen und deskriptiven Rahmen zu behandeln. Er zeigt, dass sich Milners Theorie der syntaktischen Positionen auf nicht-sprachliche Zeichen anwenden lässt, da die kategorielle Zugehörigkeit eines sprachlichen Zeichens für dessen Zugang zur Syntax ausreicht. So belegt Krazem, dass das Bild nominale Eigenschaften hat, die Grimasse verbale, der Smiley interjektive und die markierte Typographie adverbiale.

Angelika Redder nimmt eine handlungsanalytische Klassifizierung von verblosen kurzen Formen „hinsichtlich ihrer Suffizienz im Verständigungshandeln zwischen Sprecher und Hörer“ vor. Sie unterscheidet zwischen partikularem, suffizient prozeduralem und musterspezifisch positioniertem prozeduralen Handeln. Das suffizient prozedurale Handeln, das von der Funktionalen Pragmatik als ‚Prozedur‘ bestimmt wurde, entspricht einer nicht-elliptischen, „elementaren Form“ sprachlichen Handelns, die weder prädikativ ist, noch als Operator fungiert. Partikulares sprachliches Handeln kommt im Kontext moderner narrativer Texte vor. Seine Formen erscheinen vornehmlich als „Ketten“ und sind „in ihrer Komplexität zwischen der Prozedur und der Sprechhandlung angesiedelt“. In ihren pragmatischen Funktionen erstrecken sie sich vom koperzeptiven Reportieren zum rekonstruktiven konstellativen Schildern. Der letzte Typ, das musterspezifische positionierte prozedurale Handeln, stellt dagegen keine eigene Handlungsform dar, sondern reiht sich an bestimmten sequentiellen Positionen in Handlungsmuster ein.

Die Verblosigkeit hat eine besondere Stellung in der Diskussion um kurze Formen in der Sprache, wie die Beiträge von Friederike Spitzl-Dupic, Mikhail Kotin / Monika Schönher und Angelika Redder zeigen. Die Beiträge im zweiten Teil des Bandes gehen noch einmal auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze bzw. auf die besonderen Merkmale verbloser Satzstrukturen ein. Dabei wird davon ausgegangen, dass verblose Sätze an sich sowohl kurz als auch lang sein können, dass sie aber eine Disposition zur Kürze zeigen, die unmittelbar mit textsortenbestimmenden, ästhetischen und kommunikativen Eigenschaften korreliert.

Hervé Quintin geht der Frage nach, inwiefern verblose Sätze als ‚kurze Formen‘ charakterisiert werden können. Eigentlich kann ein verbloser Satz genauso lang sein wie auch ein Satz mit Verb kurz sein kann. Doch verblose Sätze beruhen tatsächlich oft auf relativ einfachen syntaktischen Mustern und werden diskurspragmatisch in Kontexte eingesetzt (Schilder, Hinweise…), die eine minimalistische Syntax bedingen. So vertritt Quintin die These, dass die Kürze verbloser Strukturen weniger als intrinsisches Merkmal denn als kontextuelle Bestimmung solcher Strukturen anzusehen ist, die aber auf einem eigenen Potential beruht: Verblose Sätze eignen sich besonders gut, einen Bruch im Text zu markieren, sie sind ein Indiz der Alterität.

Die Alterität verbloser Sätze manifestiert sich auch in literarischen Erzählungen, in der verblose Sätze auf mehrere Stimmen gleichzeitig zu verweisen vermögen. Daniel Holzhacker zeigt am Beispiel des Lenz von Büchner, dass „Ellipsen“ dadurch, dass sie kein finites Verb enthalten und kein Tempus aufweisen, über keine klare Origo verfügen und eine Ununterscheidbarkeit der Stimme des Erzählers von der der Figur hervorrufen, wobei der Effekt entsteht, dass der Leser in eine ähnlich prekäre Lage bezüglich des Erkennens der ,realenʻ Welt des Textes versetzt wird wie die Figur selbst.

Der Beitrag von Florence Lefeuvre kommt auf das Verhältnis von Verblosigkeit und Kürze zurück. Lefeuvre zeigt, dass verblose Sätze in langen Textformaten auch eine längere Form haben können, dass also Verblosigkeit nicht unbedingt mit ‚Kürze‘ einhergeht: Aufgrund seiner Charakteristika wird der verblose Satz in unterschiedlichen Diskursgattungen genutzt. Lefeuvre untersucht die Rolle von drei Faktoren näher: Um zu veranschaulichen, wie sich verblose Sätze auf die Kommunikationssituation oder den Kontext stützen, erwähnt sie das ‚Für-sich-Schreiben‘ und vergleicht z.B. Formulierungen der Autorin Simone de Beauvoir in Einträgen aus ihrem Kriegstagebuch und in ihren Briefen an Sartre desselben Datums: Im Tagebuch werden bevorzugt verblose Formulierungen gewählt, während in den Briefen verbale Formulierungen vorkommen. Lefeuvre zeigt weiterhin, dass verblose Sätze als Mittel zur Hervorhebung oder auch zur Diskursstrukturierung fungieren. In einem Diskurs mit verbalen Strukturen bilden verblose Sätze einen Bruch, der auf Unerwartetes fokussiert und eine neue Thematik einführen kann. Was die Verwandtschaft zwischen verblosen Sätzen und kurzen Textformaten angeht, so ist diese einerseits auf die räumlichen und zeitlichen Einschränkungen, andererseits auf die enunziativen Muster (s. Vor- und Paratexte) zurückzuführen.

Mathilde Hennig erprobt den Ansatz von Behr / Quintin (1996) an der Segmentierung syntaktischer Einheiten in neuhochdeutschen Texten und diskutiert an authentischen Textbeispielen die Abgrenzung verbloser Sätze von sogenannten ‚Satzrandstrukturen‘ und „nichtsatzförmigen selbständigen Einheiten“. Von der Hypothese ausgehend, verblose Sätze seien „ein Phänomen der Sprache der Nähe“, untersucht sie, inwiefern der Gebrauch verbloser Sätze mit bestimmten Textprofilen korreliert.

Sibylle Sauerwein Spinola widmet sich der Frage, ob die allgemeinen Kategorien, die Behr / Quintin (1996) für verblose Sätze erstellt haben, auch mit Fragesätzen vereinbar sind. Denn selbst wenn die Autoren Beispiele in Frageform behandeln, wird in ihrer Studie der Fragesatz nicht thematisiert. Darüber hinaus hinterfragt Sauerwein Spinola auch die Klassifizierungen, die es für Fragen gibt. In ihrem Korpus aus mehr als 1.000 Fragesätzen sind 20 % verblose Fragesätze zu finden, darunter sowohl Ergänzungs- als auch Entscheidungsfragesätze oder (auch wenn nur sehr selten) Alternativfragesätze. Alle von Behr / Quintin (1996) ermittelten Kategorien von verblosen Sätzen sind im Korpus vertreten, und es scheint keine neue Klasse nötig zu sein. Verblose Fragesätze sind meistens verblose Sätze mit klarem Linksbezug. Sie haben mehrere mögliche textuelle Funktionen: Sie leiten ein neues Thema ein, strukturieren den Text oder bewirken polyphonische Effekte.

Dass ‚kurze Formen‘ nicht als ‚defizitäre‘ Formen zu analysieren sind, sondern ‚vollwertige‘ Ausdruckmittel mit eigenem kommunikativen Potential darstellen, drückt sich auf eine besondere Weise in kurzen Textformaten aus, in denen sprachliche Kürze räumlich und zeitlich bedingt ist (Behr / Lefeuvre 2019). Mit solchen kurzen Textformaten befasst sich der dritte Teil des Bandes. Die Anzahl und die Größe der Panels in Comics sind begrenzt, Twitter-Beiträge können nicht mehr als 280 Zeichen enthalten, Werbeplakate und Verkehrsschilder sind, institutionell und materiell bedingt, auf wenig Platz beschränkt. In der Untersuchung dieser kurzen Textformate kann der rein sprachliche Teil nicht vom Bild, von der Materialität, vom Kontext, vom Wissen der Gesprächspartner getrennt werden. Hier spielen u.a. Multimodalität, Implizites und Weltwissen eine zentrale Rolle.

Simona Leonardi wirft die Frage auf, welche Formen Kürze in frühen deutschsprachigen Comics annimmt. Da die Textsorte Comic deutlichen Platzbeschränkungen unterliegt, ist sie durch starke Selektion im Text und in den Abbildungen gekennzeichnet. Aus diesem Grund erweist sich Multimodalität bzw. die Verschränkung verschiedener semiotischer Ressourcen als eine Strategie. Außerdem stehen Comics aus den 20er und 30er Jahren stark unter dem Einfluss der damaligen Filmkunst. Eine auffällige Gestik im Panel ahmt übertriebene Gesten im Stummfilm nach. In extremen Formen der Reduktion werden z.B. Buchstaben ausgelassen, oder im Panel bleiben von der Aussage nur die Ausrufe, auch mit Variationen in der Schriftgröße oder in der „Spationierung“. Interjektionen können auch ohne Umrahmung direkt ins Bild gezeichnet sein, was Leonardi als ‚gezeichnetes Sprechen‘ definiert. Damit werden Comics als Rahmen betrachtet, in dem Mimik, Gestik, Sprachzeichen sowie Klang mit Situationen verkoppelt werden. Sie bilden ein sympraktisches Umfeld, das situationsverankerte kurze Formen zulässt.

Annamária Fábián führt eine exemplarische Beleganalyse von verblosen Sätzen in Sozialen Medien am Beispiel der #MeToo-Bewegung durch. Sie stellt zunächst fest, dass verblose Sätze trotz der Studie von Behr / Quintin (1996) weiterhin geringe Berücksichtigung in Grammatiken finden wie auch in korpuslinguistischen Studien. Mit Blick auf die quantitative Begrenzung der Zeichenzahl bei Twitter sind aber kurze Sätze bzw. verblose Sätze ein besonders relevanter Untersuchungsgegenstand. Fábiáns Analysen zeigen, dass verblose Sätze in den Sozialen Medien nicht ausschließlich aus sprachökonomischen Gründen eingesetzt werden, und dass es Korrelationen zwischen verblosem Satz und Emotionalität gibt, im Zusammenhang mit ‚kommunikativen Praktiken‘ wie: Offenbarung des eigenen Missbrauchs, Verurteilung von Gewalt gegenüber Frauen, Aufforderung zum juristischen Vorgehen gegen sexuelle Belästigung, Äußerung von männlichen Ängsten vor falschen Anschuldigungen. Für den Gebrauch von verblosen Sätzen in Tweets sind auch pragmatische, expressive Gründe zu nennen. Die große grammatische, syntaktische und funktionale Vielfalt der verblosen Sätze im Korpus bestätigt außerdem die Heterogenität der Kategorie ‚verbloser Satz‘.

Im Rahmen eines framesemantischen Ansatzes analysiert Zofia Berdychowska eine Auswahl von multi- und intermodalen Kurzformen im öffentlichen Raum unter dem Aspekt der Bedeutungskonstitution. Sie zeigt, dass mehrere Faktoren dabei eine zentrale Rolle spielen: Mehrfachadressierung, Instantiierung von Frame-Elementen und Zuweisung von Rollen, Wissen um routinisierte Handlungen, Standort. Exemplarisch werden Beispiele komplexer ‚Kommunikationsangebote‘ im öffentlichen Raum analysiert, die den Bewegungsframe spielerisch benutzen.

Igor Trost führt eine gebrauchsbasierte konstruktionsgrammatische Untersuchung von zwei statistisch signifikanten Konstruktionsschemata in kurzen Textformaten der Wahlkampagnen 2017 in Deutschland und in Österreich durch. Analysiert werden kurze Konstruktionen der Form (x) für x und (x) Zeit x in Wahlslogans und Wahlplakaten, in Internettexten und in den Kurzprogrammen der deutschen und österreichischen Parteien hinsichtlich ihrer semantischen und pragmatischen Gebrauchsbedingungen sowie ihrer framesemantischen Implikationen. Trost zeigt, dass die Konstruktion (x) für x (z.B. Für ein Deutschland, in dem wir gut und gern leben (CDU), Für Sicherheit und Ordnung (CDU), Klar für unser Land (CSU)) es ermöglicht, positiv konnotierte Wörter – wie z.B. Qualitätsadjektive, positive Schlagwörter – für „die Bildung eines wählerorientierten positiven parteipolitischen Gesamtframes“ zu nutzen. Die Konstruktion (x) Zeit x (z.B. Zeit für mehr Gerechtigkeit (SPD), Es ist Zeit für moderne Ausbildung (SPD), Österreich ist erfolgreich. Zeit, dass Sie davon profitieren (SPÖ)) steht stellvertretend für eine in Wahlkämpfen häufig genutzte framekonstituierende Zeitmetaphorik eines dringenden Handlungs- und Änderungsbedarfs, der zur Wahl der entsprechenden Partei motivieren soll.

Heike Romoth beschäftigt sich mit dem Wahlslogan als Kurztext. Da der Wahlslogan räumlich begrenzt ist, bevorzugt er kondensierte Strukturen. D.h. ein großer Teil der Informationen bleibt implizit, und die Wahlbotschaft muss vom Adressaten (re)konstruiert werden. Am Beispiel von Wahlslogans zur Bundestagswahl 2017 zeigt Heike Romoth, dass der Adressat dafür über das semantische Wissen hinaus auch über enzyklopädisches Wissen (politisches Sachwissen) und Textsortenwissen verfügen muss. Die Konstruktion der Bedeutung der Wahlslogans erfolgt im Rahmen einer Interpretationsstruktur. Mit dem Wahlslogan wird für ein Programm geworben, in dem das zukünftige politische Handeln der Parteien und Politiker angekündigt wird. Aufgrund der Leerstellen des Rahmens ‚Handlung‘ (Mitspieler, Motiv, Ziel usw.) weiß der Adressat, welche Informationen zu ergänzen sind. Allerdings bleibt häufig offen, ob Sachverhalte aufgrund der räumlichen Begrenzung oder aufgrund der politischen Korrektheit implizit bleiben.

Im vierten Teil des Bandes werden Phänomene der semantischen Verdichtung behandelt. Es geht einerseits um Wortbildung bzw. Kofferwörter und Nominalkomposita, andererseits aber auch um stereotypisierte kurze Äußerungen, in denen ein kulturelles Element zum Ausdruck kommt. Dabei wird nicht nur die Frage nach der lexikalischen und syntaktischen Festigung von kurzen Formen aufgeworfen, sondern auch die Frage nach deren Eingang ins Lexikon. Warum bleiben einige kurze Formen Okkasionalismen? Wie kann man dagegen erklären, dass andere kurze Formen sehr produktiv sind, d.h. wieder aufgenommen werden, zu weiteren serienhaften Schöpfungen führen oder sogar zu Gegenproduktionen?

Anlass zum Beitrag von Ricarda Schneider sind dem Englischen entlehnte Wortkreuzungen, wie manterrupting, mansplaining, manspreading, die in angelsächsischen, deutschsprachigen oder auch französischsprachigen Medien und sozialen Netzwerken kursieren. Diese Kurzformen sind Kofferwörter an der Schnittstelle zwischen Lehnwort, Anglizismus und Neologismus. Im Beitrag geben sie Anstoß zu Überlegungen über den Begriff ‚Kofferwort‘, seine Herkunft und über die Funktionen von Wortkreuzungen. So können beabsichtigte Kontaminationen über ihre spielerisch-kreative Funktion hinaus die Funktion der Sprachökonomie erfüllen. Die Analyse der englischen Neologismen mit dem Schema man + eng. Verb + -ing lässt erkennen, dass solche Wortkreuzungen besonders knappe Formen zur Nominalisierung komplexer Vorgänge und Phänomene sind, mit denen neue, oft komplexe Erscheinungen, Verhaltensweisen und Lebensstile kurz und bündig benannt werden. Sowohl die Bildung als auch die Entschlüsselung dieser Kofferwörter, die zum Teil genderspezifische Verhaltensweisen bezeichnen, sind in der Regel kontextabhängig. Dies verhindert aber nicht eine gewisse Einbürgerung dieser Lehn-Kofferwörter, wie auch Piktogramme aus dem öffentlichen Raum bezeugen.

Michel Lefèvre untersucht ‚sprachliche Miniaturen‘ am Beispiel von österreichischen Kriminalromanen. Dabei erweitert er die Definition von Bock / Brachat, indem ‚sprachliche Miniaturen‘ nicht auf Sprichwort und Witz beschränkt werden, sondern sprachliche Kurzformen bezeichnen, die typisierte Redensarten und kulturelle Stereotype verknüpfen. Dies schließt Phraseme, Slogans, Routinewendungen und anscheinend „freie“ Äußerungen mit der Partikel „ja“ ein. Bei seiner Suche nach sprachlichen Einheiten, die Kultur und Sprache in sich vereinen bzw. die auf ein kulturelles Hintergrundwissen verweisen, wirft Lefèvre die Frage nach der Ermittlung von formalen Merkmalen auf, ohne sich auf die Kriterien zu beschränken, die üblicherweise in der Phraseologie berücksichtigt werden.

Delphine Pasques nimmt eine ausführliche Analyse des zweisilbigen althochdeutschen Nominalkompositums liût chuô vor, das als kurze, implizite Form „Menschen“ (liût) und „Kälber“ (chuô) in Verbindung bringt. Der einzige Beleg für dieses Kompositum befindet sich im Psalter, Notkers Psalmenübersetzung ins Althochdeutsche aus dem Anfang des 9. Jahrhunderts. Über eine Kontextualisierung der Okkurrenz hinaus führt Pasques eine semantisch-referentielle Analyse der Zusammensetzung durch und zeigt, dass sie aufgrund ihrer impliziten Dimension unterschiedliche Interpretationen (wortwörtlich oder allegorisch) zulässt. Um zwei Interpretationsniveaus zu bewahren, greift Luther im 16. Jahrhundert zu einem Kommentar, der die Analogie zwischen Kälbern und Völkern explizit herstellt. In anderen Übersetzungen werden appositive Strukturen eingeführt. Es lässt sich ein einziges weiteres Kompositum finden, und zwar Völkerkälber in einem Text aus dem 19. Jahrhundert. In einer pragmatischen Analyse von liût chuô macht Pasques außerdem deutlich, dass Notker die Kürze der Zusammensetzung zur religiösen Erbauung nutzt: Die ungewöhnliche kurze Form wirkt rätselhaft, überrascht den Leser und lässt ihn nach einer Interpretation suchen.

Der fünfte Teil des Bandes schließlich ist besonders kleinen, nicht zerlegbaren, nicht sententialen sprachlichen Einheiten gewidmet, die als ‚Partikeln‘ klassischerweise eine Sonderstellung in der Sprachbeschreibung einnehmen. An verschiedenen Beispielen aus dem Deutschen und dem Französischen werden solche kurzen sprachlichen Formen thematisiert und ihre Funktionsweise und Rolle im Diskurs genau analysiert. Die Einzelanalysen zeigen, dass bei diesem bereits intensiv bearbeiteten und diskutierten Kapitel der Grammatik neue begriffliche Klärungen bzw. Diskussionen immer wieder fruchtbar sind: Wie können die einzelnen Kriterien bzw. Definitionen angesichts von Korpusdaten bewertet werden? Wie lässt sich der Zusammenhang zwischen den für solche sprachlichen Einheiten typischen Merkmalen der Kürze und der Formelhaftigkeit bzw. Pragmatikalisierung beschreiben? Sind konstruktionelle oder kompositionelle Analysen vorteilhafter? Inwiefern hat man es mit ‚regelhaften Konstrukten‘ zu tun? Darüber hinaus zeigen die Analysen, dass mit der Kürze dieser sprachlichen Formen eine besondere Beziehung zum Vorgänger- und Nachfolgediskurs einhergeht, dessen Rezeption durch solche Einheiten gesteuert wird.

Jan Georg Schneider diskutiert die Begriffe ‚Diskursmarker‘ und ‚Operator‘, welche in der Forschungsliteratur bisher als konkurrierende Termini benutzt werden. Er schlägt vor, mittels beider Begriffe eine Differenzierung vorzunehmen. Der Begriff ‚Operator-Skopus-Strukturʻ zielt auf eine allgemeinere Ebene ab und weist eine größere Extension auf als der Begriff ‚Diskursmarker-Konstruktionʻ, der sich relativ eng definieren lässt: Die Operator-Skopus-Struktur ist ein allgemeines Verfahren der Gesprächsorganisation, die Diskursmarker-Konstruktion eine auch formseitig beschreibbare Konstruktion. Die Diskussion wird anhand von Daten aus mündlichen Korpora geführt und der Vorschlag der begrifflichen Differenzierung insbesondere am Beispiel der Gesprächspartikel gell erprobt.

Jean-François Marillier analysiert „fragmentarische Verwendungen“ der Koordinationen mit und, oder und sondern, solche Verwendungen also, bei denen das erste oder zweite Konjunkt oder beide fehlen („fragmentarische Koordinationen“ bzw. „nackte Konjunktoren“). Er zeigt die Systematik solcher Verwendungen, diskutiert die These, dass die Koordinatoren in solchen Verwendungen bedeutungsleere ‚Diskursmarker‘ seien und plädiert entgegen dieser These für eine Interpretation als ‚echte Koordinatoren‘, die Propositionen verknüpfen. Die pragmatischen Effekte solcher Verwendungen ergeben sich aus dem Zusammenspiel der Stellung des Sprechers als erster oder zweiter Sprecher, der Struktur der koordinativen Verknüpfung, den Eigenschaften der Konjunkte, der Bewertung der in der fragmentarischen Struktur involvierten Sachverhalte und aus der Semantik der Konjunktionen.

Liubov Patrukhina untersucht in Gesprächen das Syntagma ja doch am Anfang eines Turns und analysiert entgegen der bisherigen kompositionellen Analyse von Métrich et al. diese Partikelkombination als „Konstruktion“ im Sinne eines „Form-Bedeutungs-Paars“. Anhand von Korpusdaten zeigt sie, dass die Konstruktion zwei phonetische Varianten hat: ja DOCH und JA (.) DOCH und dass ihre Funktion darin besteht, zu signalisieren, dass auf eine dispräferierte Frage oder Aussage eingegangen wird.

Heike Baldauf-Quilliatre behandelt das Konstrukt [ah + Nominalphrase] in französischen Alltagsinteraktionen. Sie weist nach, dass die syntaktisch und prosodisch komplette Einheit eine eigenständige Handlung ausführt und als dichtes, knappes, verbloses oder non-sententiales Format bezeichnet werden kann. Als erster Schritt eines ersten Sprechers (First Pair Part) funktioniert [ah + Nominalphrase] als Notifikation (noticing nach Goodwin / Goodwin): Der Turn zeigt auf ein Element aus dem außersprachlichen Umfeld der Teilnehmer. Als Second Pair Part ist das Format eine affektiv gefärbte Antworthandlung auf eine Information oder eine Ankündigung, die daraufhin von den Teilnehmern gemeinsam weiterbearbeitet wird.

Das Projekt – die Tagung und die Publikation – wurde von der Université Sorbonne Nouvelle, insbesondere dem CEREG (Centre d’Etudes et de Recherches sur l’Espace Germanophone EA 4223), und vom DAAD unterstützt, bei denen wir uns sehr bedanken. Unser Dank gilt ebenfalls allen TeilnehmerInnen an der Tagung, den AutorInnen dieses Bandes, sowie natürlich dem wissenschaftlichen Beirat der Tagung. Und ganz herzlich danken wir Irmtraud Behr, der wir dieses Buch widmen, für die langjährige konstruktive und gleichzeitig freundschaftlich-kollegiale Zusammenarbeit.

Anne-Laure Daux-Combaudon

Anne Larrory-Wunder

Kurze Formen in der Sprache / Formes brèves de la langue

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