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Weder Nesthocker noch Nestflüchter
ОглавлениеBiologisch ist der Mensch weder Nesthocker noch Nestflüchter, sondern ein Kontaktwesen; die Fähigkeit zur Kontaktaufnahme ist beim Säugling am weitesten entwickelt, und sein Angewiesensein auf Versorgung parallel zur relativ hohen Ausreifung des kindlichen Organismus (wenn wir ihn mit typischen „Nesthockern“ vergleichen) scheint das eindrucksvollste Merkmal der Primaten.
Für den kindlichen Organismus geht es anfänglich sehr schnell um Leben oder Tod. Das Ich ist noch wenig entwickelt; es kann sehr viele Reize nicht einordnen. Der herzzerreißenden Not, die wir aus dem Schreien des Säuglings herauszuhören meinen, entspricht mit hoher Wahrscheinlichkeit eine entsprechende innere Bedrohung. Das kleine Kind kann die eigenen Affekte, die eigenen Reaktionen von Wut, Angst, Trauer, Schmerz nicht einordnen und nicht bewältigen, wenn es nicht von jemandem begleitet und getröstet wird.
Vielleicht haben die Menschen unter weniger differenzierten gesellschaftlichen Umständen die Verinnerlichung eines solchen Systems nicht so sehr gebraucht. Wer als Jäger und Sammlerin in der Steppe lebt und jeden Tag nach Essen, Wasser und Schutz vor Raubtieren suchen muss, ist längst nicht so darauf angewiesen, emotionale Reize zu verarbeiten und zwischen unterschiedlichen Erlebnis- und Reaktionsformen zu wählen. Er muss und darf immer sofort mit einer körperlichen Aktion reagieren, durch die seine affektiven Spannungen abgebaut werden. Wo es auch im Alltag schnell um Leben oder Tod geht, ist nicht mehr psychisch auffällig, wer einen Streit mit dem Ehepartner, eine Kränkung beim Warten in einer Schlange oder einen abweisenden Gesichtsausdruck der Kollegin als eine Frage um Leben oder Tod auffasst und inszeniert.