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Vom Paar zur Gruppe

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Die primäre soziale Verbindung bei Primaten ist das Paar – ursprünglich das Paar Mutter-Kind. Durch die lange, verletzliche Kindheit gibt es eine von starken Gefühlen getragene Beziehung zwischen dem kindlichen Organismus und einem vertrauten Erwachsenen, in der Regel der biologischen Mutter. Dieses Beziehungsmodell bleibt auch im Erwachsenen erhalten: Wie die oben beschriebene Szene zeigt, reagiert die Mutter mit durchaus kindlichen Gefühlen der Zurückweisung, der Kränkung, des Unverstandenseins. Indem sich die Mutter an ihre eigene kindliche Abhängigkeit und Angst erinnert, kann sie das Kind trösten und ihm über seine Krisen hinweghelfen. Auf diesem Weg wird das Selbstgefühl gesunder Menschen gefestigt: Sie fühlen sich in andere ein und bestätigen sie. Dadurch werden sie sicherer, dass ihnen Gleiches mit Gleichem vergolten wird.

Eine weitere Qualität der Paarbeziehung ist die Spiegelung. Eine Paarbindung ist die symmetrischste Form des Kontaktes, die es gibt, und von allen symmetrischen Beziehungen ist die zum eigenen Spiegelbild am symmetrischsten. Das ist vor allem deshalb bedeutungsvoll, weil alles Fremde von uns mit primär gemischten Gefühlen betrachtet wird: Es weckt Neugier und Angst zugleich. Dabei ist die Neugier umso stärker, je vertrauter uns der Rest der Umgebung, und die Angst umso ausgeprägter, je weniger wir mit dem Rest der Umgebung vertraut sind; dann überfordern uns neue Reize sehr schnell. Wenn ein neues Spielzeug im vertrauten Kinderzimmer steht, weckt es Neugier; wenn wir im nächtlichen Wald ein merkwürdiges Geräusch hören, wollen wir es nicht erforschen, sondern fürchten uns.

Die Beziehung zum eigenen Spiegelbild schafft Vertrauen in die Kontinuität des eigenen Ichs. Ähnlich beschaffen sind Beziehungen, die uns „spiegeln“, die wir zu Menschen aufbauen, von denen wir glauben, dass sie ganz genau so sind, wie wir sie uns wünschen, und sich so wenig verändern wie unser eigenes Spiegelbild. Vor allem für traumatisierte Menschen, die wenig Neugier entwickeln können und darauf angewiesen sind, dass sie ihre Umwelt kontrollieren, sind solche Selbst-Objekte sehr wichtig. Entsprechend groß ist ihre seelische Not, wenn sie feststellen müssen, dass sich eine solche Beziehung verändert.

So wundern sich viele Frauen darüber, dass ihr Partner sie kaum zu registrieren scheint, wenn sie den Abend mit ihm zusammen verbringen. Er sieht fern, liest Zeitung, sagt kein Wort. Sobald sie aber Anstalten macht, die Wohnung zu verlassen, um eine gesprächigere Freundin zu besuchen oder ins Kino zu gehen, reagiert der Partner unerwartet heftig und fordert den gemütlichen Abend zu zweit ein. Hier wird der Selbstobjekt- und Spiegelcharakter einer Beziehung deutlich: Wichtig ist nicht die Interaktion – die ist schließlich mit unserem Spiegelbild ebenfalls nicht möglich – sondern die Präsenz.

Diese Qualität des Spiegelbildes ist übrigens in der Volkssage fassbar. Demnach erkennt man menschenähnliche Unholde wie z. B. Vampire daran, dass sie in einem Spiegel kein Bild erzeugen. Vampire haben kein Spiegelbild und können daher auch nicht „spiegeln“, d. h. bestätigen, anerkennen.

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