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Die ältesten Institutionen
ОглавлениеEine fremde Kultur ist anders. Das steht schon in den ersten Berichten, die es überhaupt gibt, etwa in den Historien des Herodot, eines jonischen Griechen, der im vierten Jahrhundert vor Christus reiste. Er erzählt eine lehrreiche Geschichte, die man als Urszene des Kulturvergleichs ansehen kann.
Der persische Großkönig wollte herausfinden, ob es ein „richtiges“ menschliches Verhalten für den Umgang mit Verstorbenen gibt. Er ließ deshalb Vertreter zweier Völker seines Riesenreiches vor sich treten – die Griechen, welche ihre Toten verbrennen, und einen asiatischen Stamm, bei dem es Sitte war, die Verstorbenen zu essen.
Die Stammesangehörigen fanden es abscheulich, verehrungswürdige Tote zu verbrennen; die Griechen schauderten bei dem Gedanken, ihre Toten zu verspeisen. Das Ergebnis der Beratung war also, dass jedes Volk die eigenen Sitten für die besten hält, sie idealisiert, während es sich über fremde Sitten erhebt bzw. sie ablehnt.
Was Herodot „Sitten“ nennt, hat viele Namen: Bräuche, Rituale, Benimmregeln, soziale Normen. Der präziseste Begriff dafür ist Institutionen. Abgeleitet von dem lateinischen Wort für einrichten, erfasst dieser Begriff alle Gebilde, die zwischen dem biologischen Organismus und seiner sozialen Umwelt seit alters her vorhanden oder eben im Entstehen begriffen sind. Solche Institutionen sind ebenso universell wie oft schwer wahrnehmbar, weil wir nur ausnahmsweise nicht in ihnen handeln, sondern über sie nachdenken.
Institutionen begleiten uns von der Geburt bis nach unserem Tod, denn sie legen fest, wie wir begraben werden, welcher Stein mit welcher Inschrift auf unserem Grab steht und wie der Toten gedacht wird. Sie unterscheiden zwischen arm und reich, zwischen sozial angesehen und sozial geächtet – und sie verändern sich, langsam in traditionellen Gesellschaften, rasch in der Moderne.
Einige der wichtigsten Institutionen sind die unterschiedlichen Rollen, welche den Geschlechtern und den Altersklassen zugeschrieben werden. Rolle war ursprünglich der auf gerolltem Papier geschriebene Text, den ein Schauspieler vor seinem Auftritt wissen musste. In der Soziologie dient dieser Begriff dazu, soziales Verhalten ähnlich den Vorschriften zu erfassen, die der Theaterdichter für seine Spieler geschaffen hat.
In den ältesten Kulturen, die wir kennen, sind die Rollen flüchtig und stark biologisch orientiert: Männer und Frauen, Kinder und Alte verhalten sich in unterschiedlichen Rollen. Aber es gibt z. B. keine festen Berufsrollen und keine strikt rollenspezifische Arbeitsteilung. Bei den Buschmännern, einem Jägervolk der Kalahari, sind z. B. alle Männer und Frauen auch potenziell Schamanen, sie können sich oder andere in einem Tranceritual von Krankheiten heilen. Zwar ist das Sammeln eher Frauen-, das Jagen eher Männerarbeit, aber diese Rollenteilung ist längst nicht so strikt wie die ausgefeilten Arbeitsteilungen mancher agrarischen Kulturen, in denen es für Männer verboten ist, „weibliche“ Werkzeuge auch nur zu berühren (oft mit dem Argument, sie würden dann impotent werden). Wenn Frauen auf ihren Streifzügen ein Beutetier treffen, das sie erlegen können, tun sie das; wenn Männer keine Beute finden, sammeln sie Früchte, Wurzeln oder wilden Honig.