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Schnelle Entwertung und langsame Besinnung
ОглавлениеDie narzisstische Krise, die sich im explosiven Narzissmus zu ihrem Extrem steigert, wird von der Schnelligkeit geprägt, mit der das Individuum auf Kränkungen antworten zu müssen glaubt. Der jähe Wutausbruch, die wütende, entwertende Beschimpfung werden im Alltag meist mit Phrasen gerechtfertigt, die sie sozusagen als allgemeinmenschliche Reaktion ausgeben, die in diesem Fall leider nur zu rasch erfolgt sei. Dem prügelnden Ehemann ist „die Hand ausgerutscht“, dem entwertenden Chef „der Gaul durchgegangen“, die tellerwerfende Ehefrau ist „temperamentvoll“.
Als universelle Gegenmittel werden von den Weisheitslehrern seit der griechischen Antike Besonnenheit, Mäßigung und Gleichmut gepredigt; in der jüdisch-christlichen Tradition auch noch Nächstenliebe. Der biblische Satz „Liebe deinen Nächsten wie dich selbst“ enthält auch einen Kern zum Verständnis des menschlichen Narzissmus: Es ist weder möglich, Nächstenliebe durch Strafe, Kritik oder Anleitung zum Selbsthass zu fördern (wie es nicht selten in der „schwarzen Pädagogik“ der Frommen geschieht), noch kann Nächstenliebe gelingen, wenn die narzisstische Kränkung das eigene Selbst zum Gegenstand eines wütenden Hasses macht, der dann so schnell wie möglich nach außen abgeführt werden muss.
Frau A. kommt abends erschöpft von einem langen Arbeitstag nach Hause. Ihre erwachsene Tochter B. hat vor einigen Wochen das Abitur bestanden und geht jetzt die Zeit bis zum Beginn des Studiums fast jede Nacht tanzen. Sie schläft dann lange, steht irgendwann auf, kocht sich eine kleine Mahlzeit und ist schon wieder mit ihren Freundinnen unterwegs, sobald die Mutter nach Hause kommt. Der Vater ist vor fünf Jahren ausgezogen und inzwischen mit einer jüngeren Frau verheiratet.
An diesem Tag spürt die Mutter, wie angesichts des abgegessenen Tellers und des mit Speiseresten verklebten Topfes in der unaufgeräumten Küche die Wut in ihr hochsteigt. Sie arbeitet den ganzen Tag, um für die Familie Geld heranzuschaffen; die Tochter tut keinen Strich und verlangt von der Mutter auch noch, ihren Dreck wegzuräumen. Das soll der Dank sein? Das soll gerecht sein?
Die Mutter hat die Fantasie, den ganzen Dreck zu nehmen, und ihn der Tochter aufs Bett zu schmeißen: dann muss diese, wenn sie nach Hause kommt, auch einen Saustall aufräumen, das ist nur gerecht. Oder soll sie die Tür abschließen, damit das Schwein nicht hereinkommt und wieder die Wohnung verdreckt? Dann wird die Tochter klingeln, es wird eine Szene geben, die Nachbarn … Soll sie versuchen, die Tochter über das Handy zu erreichen und sie zur Rede zu stellen?
Frau A. ist eine durchschnittlich gute Mutter; seit ihrer Scheidung leidet sie manchmal an Depressionen und bricht Männerbeziehungen ab, sobald sie den Verdacht schöpft, wieder an jemanden geraten zu sein, der sie ausnützt. Sie war ein sehr braves Kind, das den durch ein Flüchtlingsschicksal belasteten Eltern keine Probleme machte und es daher oft ungerecht findet, manchmal aber auch stolz darauf ist, dass ihre Tochter ganz anders ist – anspruchsvoller, erfolgreicher bei Männern.
In der beschriebenen Situation wird der Wutanfall dadurch ausgelöst, dass die Mutter aufhört, auf die Tochter stolz zu sein. Der Stolz auf etwas ist ein Ausdruck davon, dass ich eine Fantasie zur Stützung meiner Grandiosität verwerten kann – ich bin stolz, ein Deutscher, ein Mann, ein guter Vater, ein erfolgreicher Kaufmann zu sein, ich bin stolz auf wohlgeratene Kinder.
Je schneller die Kränkungswut abgeführt werden muss, desto größer ist auch die Gefahr einer kannibalischen Entwicklung. In dieser führt die narzisstische Krise zu Folgen, die ihre Auslöser vermehren. Die Wut über das Versagen der Zufuhr vermindert die Zufuhr. Wenn die Mutter sofort ihre Tochter entwertet, sei es durch eine kränkende Aktion, sei es durch eine Kontaktaufnahme im Zustand der ungebremsten Wut, wächst die Gefahr, dass auch die Tochter zurückschlägt.
Ebenso problematisch ist es, gar nicht zu reagieren, das Geschirr zu spülen und die Wut unbewusst zu machen. So entstehen schwere, aus ihren Auslösern nicht mehr verstehbare Depressionen. Der überlastete Organismus kann die Störung der Kränkungsverarbeitung irgendwann nicht mehr kompensieren, die Produktion von körpereigenen Botenstoffen wird beeinträchtigt, die Schädigung greift in das Übergangsfeld von Psyche und Soma hinein.
Da Frau A. eine durchschnittlich gute Kränkungsverarbeitung hat und nicht an einem Borderline-Syndrom leidet, tut sie nichts von dem, was ihr die erste Wut eingegeben hat. Ihr fällt ein, dass B. durchaus abspült, wenn man es mit ihr vereinbart. Der Stolz auf ihre Tochter kehrt zurück, es ist doch ein gutes Kind, von dem sie es vernünftigerweise nicht erwarten kann, sich in den Stress und die Ordnungsbedürfnisse der Mutter einzufühlen.
B., überlegt die Mutter nun, sollte es doch auch schön haben als Kind, schöner als sie mit ihren Eltern, die sich ständig irgendwelche Sorgen machten. Jetzt ist B. eine Person geworden, die unbekümmert das tut, worauf sie Lust hat. Aber es ist auch wahr, dass sie keineswegs die Mutter dadurch kränken will. Sie ist nur anders geworden, als es A. ist. „Ich werde mit ihr eine Diskussion führen, einen Vertrag machen über die Küchenordnung in Ferienzeiten, so wie schon einer über das Ausgehen während der Schultage und am Wochenende an die Innenseite der Küchenschranktür geklebt ist.“