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Zwischen Selbstbestimmung und Abhängigkeit
ОглавлениеZu den Widersprüchen des menschlichen Erlebens gehört, dass wir uns zwar als Einzelne erleben, aber gleichzeitig ohne ein Gegenüber nicht lebensfähig sind. Wie radikal das gilt, zeigt das grausame Experiment des Staufer-Kaisers Friedrich II, der herausfinden wollte, ob die menschliche „Ursprache“ die Sprache der Bibel, die der Römer, die der Araber oder aber eine ganz unbekannt Sprache sei. Aus diesem Grund ließ er Waisenkinder von Ammen aufziehen, denen strikt verboten wurde, die kleinen Wesen anzusprechen, sich mit ihnen durch irgendein Wort, ja selbst eine Geste zu verständigen. Der Chronist berichtet, dass die Ursprache niemals entdeckt wurden, weil alle diese Säuglinge starben.
In unseren „modernen“ wissenschaftlichen Formulierungen würden wir das so ausdrücken: Das menschliche Gehirn benötigt zu seiner Entwicklung spezifische Außenreize, wie sie von Artgenossen erzeugt werden können. Nur wenn das wachsende Gehirn ausreichend mit solchen Reizen versorgt wird, kann es sich gesund entwickeln.
Wer kleine Kinder beobachtet, erkennt deutlich, wie sehr sie die periodische Annäherung an einen einfühlenden, auf sie bezogenen Erwachsenen (das „Objekt“) benötigen. Das kindliche System entwickelt sich optimal, wenn es sich in Krisensituationen an ein erwachsenes System annähern und mit ihm kommunizieren kann. Unter diesen Bedingungen werden die inneren Reize in dem kindlichen System nicht so bedrohlich, dass sozusagen Notmechanismen entwickelt werden müssen, um sie unter Kontrolle zu bringen.