Читать книгу Einführung in die Ethik - Annemarie Pieper - Страница 17

2.2.2 MetaphysikPhysik

Оглавление

Bedenkt die AnthropologieAnthropologie das Wesen des MenschenMensch, so bedenkt die klassische MetaphysikMetaphysik das »SeinSein des Seienden« und damit die Prinzipien alles dessen, was ist. Dies bedeutet eine erhebliche Erweiterung der anthropologischen Frage nach dem SeinSein des MenschenMensch. Die klassischen metaphysischen Systeme sind spekulative SinnentwürfeSinn der Gesamtwirklichkeit, in denen auch der MenschMensch und seine der göttlichen Tätigkeit analoge Praxis ihren Ort haben. In diesem Horizont würde die Ethik zu einem Teil der MetaphysikMetaphysik und wäre keine eigenständige Disziplin mehr.

Die MetaphysikMetaphysik ist seit ARISTOTELESAristoteles eine autonome philosophische Disziplin. ARISTOTELES gliederte die theoretische Philosophie in »erste« und »zweite« Philosophie. Während die zweite Philosophie als »PhysikPhysik« sich mit den Naturdingen befasst, sofern diese dem Prinzip der Bewegung unterstehen, untersucht die erste Philosophie das, was über die Naturdinge hinausgeht (ta meta ta physika), d.h. die allgemeinsten Voraussetzungen des Seienden schlechthin:

Die Prinzipien und Ursachen des Seienden, und zwar insofern es Seiendes ist, sind der Gegenstand der Untersuchung. (Metaphysik 1025b 1ff.)

Die Ethik ist für ARISTOTELESAristoteles dadurch von der MetaphysikMetaphysik unterschieden, dass sie zwar auch ein Seiendes bedenkt, nämlich das faktische, geschichtliche, situationsgebundene SeinSein, im Hinblick auf das der MenschMensch handelt, aber dieses SeinSein ist weder das ewige SeinSein der jederzeit gültigen Prinzipien, auf das die Metaphysik reflektiert, noch das veränderliche SeinSein der Naturgegenstände, das die Physik untersucht, sondern eben das durch menschliches Handeln hervorgebrachte, durch PraxisPraxis auch wieder veränderliche SeinSein der Lebensverhältnisse. Insofern ist die Ethik für ARISTOTELES eine durchaus eigenständige, wenn auch nicht so hochrangige Wissenschaft wie die MetaphysikMetaphysik. Da für ihn aber letztlich die Tätigkeit des Philosophen, die Theoria, das metaphysische Wissen, die höchste Form von PraxisPraxis ist – also nicht die Tätigkeit des Arztes, des Lehrers, des Staatsmanns, sondern die des Philosophen –, fallen in dieser höchsten Form von PraxisPraxis, in der Theoria, MetaphysikMetaphysik und Ethik zusammen.

Nach ARISTOTELESAristoteles wurde bis hin zu KANTKant, I. die MetaphysikMetaphysik unterteilt in allgemeine (metaphysica generalis) und besondere MetaphysikMetaphysik (metaphysica specialis). Die allgemeine MetaphysikMetaphysik war als OntologieOntologie (= Lehre vom SeinSein) die Grundlagenwissenschaft für die spezielle MetaphysikMetaphysik, die sich in KosmologieKosmologie, PsychologiePsychologie und TheologieTheologie (Lehre von der Welt, der Seele, von Gott) untergliedert.

Eine metaphysische Ethik thematisiert also auf der Grundlage eines umfassenden metaphysischen Ansatzes einen Teilbereich des Wissens im Ganzen, indem sie das moralische Wissen auf seine Bedingungen reflektiert, d.h. Ethik wird hier als ›MetaphysikMetaphysik der Sitten‹ (wie KANTKant, I. sich später ausdrückt) betrieben, als eine Spezialdisziplin der MetaphysikMetaphysik also, die die Bedeutung menschlichen Handelns im Kontext einer umfassenden Deutung der Welt zu erschließen versucht.

René DESCARTESDescartes, R. geht sogar so weit zu behaupten, dass eine Ethik als Wissenschaft erst möglich ist, wenn das System der MetaphysikMetaphysik im Sinne einer alles umfassenden Universalwissenschaft vollständig ausgeführt und alles menschliche Wissen auf ein oberstes Prinzip zurückgeführt ist. Solange nicht feststeht, ob der MenschMensch überhaupt WahrheitWahrheit zu erkennen vermag oder ob er nicht vielmehr ständig von einem allmächtigen bösen Geist getäuscht wird, solange das höchste, alle WahrheitWahrheit garantierende Prinzip menschlichen Wissens noch nicht gefunden und sichere Erkenntnis geworden ist, solange kann es auch keine Ethik geben, die eine verbindliche Antwort auf die Frage gibt, was der MenschMensch tun soll.

Daher plädiert DESCARTESDescartes, R. für eine »provisorische MoralMoral« als Not- und Übergangslösung, bis es der MetaphysikMetaphysik gelungen ist, das Fundament allen Wissens schlechthin zu sichern und damit auch eine Ethik als Wissenschaft von der rechten MoralMoral zu begründen (vgl. Abhandlung über die Methode, Kap. 3). Bei DESCARTES ist somit Ethik als Wissenschaft nur auf der Basis von MetaphysikMetaphysik möglich. Wenn man jedoch genau hinschaut, so zeigt sich, dass die metaphysische Basis nichts anderes ist als die Lösung der anthropologischen Frage ›Was ist der MenschMensch?‹, wie ist sein Erkenntnisvermögen beschaffen, wo liegen seine Grenzen? Für DESCARTES lässt sich die ethische Frage nach dem Sollen erst zureichend beantworten, wenn die Frage nach dem SeinSein gelöst ist, wobei er unter SeinSein nicht mehr das kosmisch-ontologische SeinSein der griechischen Philosophie verstand, sondern das sich menschlichem Wissen erschließende SeinSein, ein den Strukturen des menschlichen Bewusstseins entsprechendes SeinSein: also ein durch Subjektivität konstituiertes SeinSein.

Die zeitgenössische Ethik versucht dagegen – wie dies der Titel des bereits erwähnten kleinen Buchs von Günther PATZIGPatzig, G. anschaulich macht –, »Ethik ohne MetaphysikMetaphysik« zu betreiben, weil – wie Walter SCHULZSchulz, W. in seinem »Aufriß einer zeitgemäßen Ethik« ausführt – die geschlossenen metaphysischen Weltbilder für uns dahin sind und daher die

Möglichkeit, die Ethik von einer MetaphysikMetaphysik der ontologischen Seinsstrukturen, die dem MenschenMensch vorgegeben sind, her zu fundieren,

unwiederholbar, ja irreal sei (Philosophie in der veränderten Welt, 700).

Um es vielleicht etwas überspitzt, aber pointiert auszudrücken: Im Sinne von SCHULZSchulz, W., PATZIGPatzig, G. und einigen anderen könnte man fragen, was hilft uns eine Untersuchung des SeinsSein im Ganzen, wenn uns wichtige moralische Probleme auf den Nägeln brennen, für die die Ethik auch dann eine Lösung finden müsste, wenn sie nicht auf metaphysische Gesamtentwürfe zurückgreifen kann, die zwar unter dem Gesichtspunkt eines totalen systematischen ErkenntnisinteressesErkenntnisinteresse unverzichtbar sein mögen, zur Problematik der Frage nach dem guten HandelnHandeln/Handlung aber nur mittelbar etwas beitragen. KANTKant, I.s Metaphysikkritik hatte noch einem bestimmten Modell von MetaphysikMetaphysik gegolten, nämlich dem der rationalen MetaphysikMetaphysik, die die Möglichkeit einer objektiven Erkenntnis übersinnlicher Gegenstände (wie z.B. Gott, Seele, Welt) behauptete, und dem er sein Modell einer kritischen MetaphysikMetaphysik, »die als Wissenschaft wird auftreten können«, entgegensetzte.

Die MetaphysikMetaphysik teilt sich in die des spekulativen und praktischen Gebrauchs der reinen Vernunft, und ist also entweder MetaphysikMetaphysik der Natur, oder MetaphysikMetaphysik der Sitten. Jene enthält alle reinen Vernunftprinzipien aus bloßen Begriffen (mithin mit Ausschließung der Mathematik) von dem theoretischen Erkenntnisse aller Dinge; diese die Prinzipien, welche das Tun und Lassen a priori bestimmen und notwendig machen. Nun ist die MoralitätMoralität/Sittlichkeit die einzige Gesetzmäßigkeit der HandlungenHandeln/Handlung, die völlig a priori aus Prinzipien abgeleitet werden kann. Daher ist die MetaphysikMetaphysik der Sitten eigentlich die reine Moral, in welcher keine Anthropologie (keine empirische Bedingung) zum Grunde gelegt wird. (Kritik der reinen Vernunft, A 841f./B 869f.)

Dagegen wird heute vor allem im angelsächsischen Sprachraum MetaphysikMetaphysik vielfach insgesamt als sinnlose Verdoppelung der Welt abgetan und ihre Stelle durch WissenschaftstheorieWissenschaftstheorie ersetzt die ihre Kriterien zur Beurteilung der Wissenschaftlichkeit einer Theorie im Hinblick auf die empirisch verfahrenden Naturwissenschaften zu gewinnen versucht.

So berechtigt die heutige Metaphysikkritik hinsichtlich einzelner metaphysischer Thesen oder Theoreme sein mag, und so verdienstvoll vor allem die Sprachkritik ist, weil sie deutlich gemacht hat, dass manche metaphysische Fragestellung sich von selbst auflöst, wenn man sieht, dass durch die SpracheSprache selber künstliche Probleme geschaffen werden, indem man z.B. Verben substantiviert (SeinSein, Werden, Sollen) und damit diesen Abstrakta stillschweigend eigene Gegenstände unterschiebt (»hypostasiert«), die ebenfalls, wenn auch auf eine ganz andere Weise, existieren sollen, so berechtigt also manche Kritik an der herkömmlichen MetaphysikMetaphysik sein mag, übersehen doch die zumeist positivistisch orientierten modernen Metaphysikgegner in der Regel, dass metaphysische Aussagen weder der Phantasie entspringen noch zu einem in sich abgeschlossenen spekulativen System gehören müssen. In einem gewissen Sinn ist nämlich jede These, die über unmittelbar Gegebenes hinausgeht, meta-physisch, d.h. sie enthält Momente einer gedanklich-begrifflichen Konstruktion, die als solche in der »WirklichkeitWirklichkeit« nicht vorhanden sind.

Das, was wir WirklichkeitWirklichkeit nennen als Inbegriff dessen, worin wir leben, steht uns nicht so gegenüber wie dem Bildhauer der Stein, aus dem er eine Statue herausmeißelt; vielmehr ist WirklichkeitWirklichkeit immer schon ein geformtes, partiell vorgeformtes Ganzes, ein Bestimmungsgefüge oder Interpretationszusammenhang, in den die Erfahrungen, ja die Geschichte der MenschheitMensch integriert sind. Die WirklichkeitWirklichkeit begegnet somit nie pur, sondern immer schon als begrifflich-sprachlich vermitteltes, in bestimmten Kategorien beurteiltes und gedeutetes Sinnganzes. In diesem Sinn enthält auch jede Ethik metaphysische Sätze, sofern sie Begriffe wie Humanität, FreiheitFreiheit, MoralitätMoralität/Sittlichkeit, GerechtigkeitGerechtigkeit, GleichheitGleichheit usf. gebraucht, um das Qualitative menschlicher Praxis, das weder sinnlich wahrnehmbar noch sonst wie unmittelbar gegeben ist, begrifflich zu konstruieren, wobei gerade nicht die Konstruktion der WirklichkeitWirklichkeit, sondern die WirklichkeitWirklichkeit der Konstruktion entsprechen soll: Das Faktische wird am normativen Anspruch gemessen, und die Überprüfung der Berechtigung des normativen Anspruchs wiederum ist nur möglich in einer ethischen Reflexion auf das Prinzip der MoralitätMoralität/Sittlichkeit, dem nichts Empirisch-Faktisches entspricht, das sich aber gleichwohl in der Weise des SinnentwurfsSinn, der Bewertung auf das Faktische bezieht. Es soll also in der Ethik nicht das Empirisch-Faktische, sofern es Produkt menschlicher Praxis ist, metaphysisch auf den Begriff gebracht werden, sondern im Hinblick auf die empirische Realität, sofern sie von MenschenMensch hervorgebracht und nicht schon so, wie sie ist, schlechthin gut ist, soll ein Prinzip entwickelt werden, das es erlaubt, die von MenschenMensch geschaffene Realität kritisch daraufhin zu überprüfen, ob sie ethischen Ansprüchen genügt, ob sie also human ist oder nicht.

Einführung in die Ethik

Подняться наверх