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1.2 Die Rolle der MoralMoral in der Alltagserfahrung

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Die MoralMoral spielt im alltäglichen Erfahrungsbereich eine große Rolle: In allen menschlichen Verhaltensweisen und Sprachgewohnheiten stellt sich mehr oder weniger ausdrücklich ein bestimmtes EngagementEngagement dar, das wiederum auf bestimmten Wertvorstellungen basiert.

Es macht gerade die HumanitätHumanität des Menschen als Mitgliedes einer Sozietät aus, dass er sich nicht schlechthin gleichgültig gegen alles das verhält, was seine Mitmenschen sagen und tun, sondern Partei ergreift, indem er durch die Äußerung von Lob und Tadel, von Billigung und Missbilligung, von Zustimmung und Ablehnung erkennen lässt, was er für gut oder böse, richtig oder falsch hält. Diese grundsätzliche Möglichkeit, nicht alles, was geschieht, kritiklos hinzunehmen, sondern – sei es aus eigenem Interesse, sei es aus innerer Überzeugung oder sei es um eines allgemein für erstrebenswert gehaltenen Ziels willen – seine persönliche Stellungnahme in die Gemeinschaft der miteinander Redenden und Handelnden einzubringen, ist ein Indiz für die FreiheitFreiheit als Fundament aller menschlichen Praxis.

Doch birgt diese Möglichkeit die Gefahr der Verkehrung von FreiheitFreiheit in Unfreiheit. Nirgends sind die Meinungsverschiedenheiten und die Widersprüche zwischen miteinander unverträglichen Standpunkten größer als in der Beurteilung von Handlungen bezüglich ihrer Richtigkeit und Moralität. Was der eine für gut hält, lehnt der andere rigoros ab und ist oft nicht einmal dazu bereit, seinen Standpunkt zu problematisieren, d.h. der Kritik auszusetzen und Gegenargumenten zu begegnen. Solche dogmatisch als unangreifbar behaupteten, zu bloßen Vorurteilen erstarrten Haltungen sind Formen eines »Moralisten-« oder »Pharisäertums«, das FreiheitFreiheit nicht als FreiheitFreiheit aller begreift, sondern als FreiheitFreiheit von Auserwählten missversteht. Die Folgen eines solchen unkritisch verallgemeinerten Ethos sind bekannt: religiöse Verfolgung, Diffamierung von Minderheiten, Rassen- und Geschlechterdiskriminierung, Ächtung politisch oder ideologisch Andersdenkender, Verfemung moralisch Andershandelnder usf. Hier werden die Menschen in Klassen, in Über- und Untermenschen eingeteilt, und zwar nach Maßgabe desjenigen, der sich einen absoluten Standpunkt angemaßt hat und nicht mehr bereit ist, diesen zu problematisieren.

FreiheitFreiheit als Fundament menschlicher Praxis ist keine regellose Willkürfreiheit, der gemäß jeder tun und lassen kann, was ihm beliebt. Der Mensch ist auch nicht wie das Tier schon von Natur aus durch Instinkt und Triebe so optimal eingerichtet, dass FreiheitFreiheit überflüssig würde. Vielmehr besteht die menschliche FreiheitFreiheit als moralische FreiheitFreiheit darin, sich selber RegelnRegel im Hinblick auf das, was man als von Bedürfnissen und Trieben abhängiges, durch diese aber nicht schlechthin determiniertes Sinnenwesen ist, zu geben und diese RegelnRegel aus FreiheitFreiheit und zur Erhaltung der FreiheitFreiheit zu befolgen. Erst durch die Selbstbindung an solche RegelnRegel der FreiheitFreiheit entsteht VerbindlichkeitVerbindlichkeit und damit eine MoralMoral.

Regellose FreiheitFreiheit ist keine menschliche, sondern unmenschliche FreiheitFreiheit. Das andere Extrem, eine total von RegelnRegel bestimmte, in Zwangsmechanismen erstarrte Freiheit – z.B. in totalitären Staaten oder Gesellschaftsformen, wo kein Spielraum mehr bleibt für die Freiheit des einzelnen – ist ebenso unmenschlich. Moralische FreiheitFreiheitmoralische dagegen setzt sich selbst um der Freiheit aller willen RegelnRegel, an die sie sich bindet, so wie man beim SpielSpiel RegelnRegel gehorcht, die das Spielen nicht aufheben, sondern als SpielSpiel gerade ermöglichen sollen.

Was genau beinhaltet nun das Wort MoralMoral?

Eine Moral ist der Inbegriff jener NormenNorm und WerteWert, die durch gemeinsame AnerkennungAnerkennung als verbindlich gesetzt worden sind und in der Form von

 Geboten (Du sollst …; es ist deine Pflicht …) oder

 Verboten (Du sollst nicht …)

an die Gemeinschaft der Handelnden appellieren. Jede MoralMoral ist somit als geschichtlich entstandener und geschichtlich sich mit dem Freiheitsverständnis von Menschen verändernder Regelkanon immer eine GruppenmoralGruppenmoral, deren Geltung nicht ohne weiteres über die Mitglieder der Gruppe hinaus ausgedehnt werden kann.

Der Versuch, eine umfassende Menschheitsmoral aus der Vielzahl vorhandener Moralen herauszudestillieren, würde letztlich weniger daran scheitern, dass über universale BasisnormenBasisnorm bzw. Grundwerte keine Einigung zustande käme: Es lässt sich wohl bis zu einem gewissen Grad einsichtig machen, dass keine MoralMoral ohne die Ideen FreiheitFreiheit, GleichheitGleichheit, MenschenwürdeMenschenwürde, GerechtigkeitGerechtigkeit u.a. auskommen kann. Die eigentliche Schwierigkeit besteht vielmehr darin, die RegelnRegel einer solchen UniversalmoralMoral im Kontext unterschiedlicher, geschichtlich gewachsener Lebensformen und Kulturkreise »anzuwenden«, d.h. mit den jeweiligen Lebensbedingungen (Klima, geographische Lage, religiöse Überzeugungen, wirtschaftlicher Status, Stand der Zivilisation etc.) zu vermitteln. Auch TraditionTradition und KonventionKonvention bestimmen den durch den jeweiligen MoralkodexMoralkodex repräsentierten, kulturell geprägten Sinnhorizont einer Sozietät wesentlich mit und führen zu unterschiedlichen, ja manchmal sogar entgegengesetzten Ausprägungen einer und derselben BasisnormBasisnorm.

Die inzwischen vorliegenden Berichte über die moralischen Verhaltensregeln und ihren Zusammenhang in bestimmten ethnischen Gruppen sind für die Ethik deshalb bedeutsam, weil wir aus solchen Untersuchungen lernen, dass bei gleichen zugrunde liegenden moralischen Grundsätzen doch vollkommen verschiedene ›moralische Landschaften‹ entstehen können, je nach den aktuellen geographischen, ökonomischen und historischen Bedingungen, unter denen die Angehörigen solcher Gruppen leben. (G. PATZIGPatzig, G.: Relativismus und Objektivität moralischer NormenNorm, in: Ethik ohne Metaphysik, 79)

Was genau heißt es, dass bei gleichen zugrundeliegenden moralischen Grundsätzen dennoch ganz verschiedene »moralische Landschaften« entstehen können? Ein extremes Beispiel mag dies veranschaulichen:

Bei manchen ›primitiven‹ Gruppen, z.B. bei den Eskimos, soll es Brauch gewesen sein, alte und schwache Leute zu töten. Diese Regel steht in krassem Widerspruch zu unserem Verständnis von Menschenwürde und wird nur nachvollziehbar vor dem Hintergrund extremer Lebensverhältnisse, die durch große Unwirtlichkeit des Lebensraums und knappe Lebensmittel gekennzeichnet sind. Nur so ist es verstehbar, dass die moralische NormNorm, seinen Eltern Gutes zu tun und ihnen Leid zu ersparen, dadurch erfüllt wird, dass man ihnen einen qualvollen Tod erspart, indem man sie auf schmerzlose Weise tötet und somit die Überlebenschance der Jungen vergrößert.

Hier wird also der moralische Grundsatz: ›Du sollst deinen alten Eltern Gutes tun‹ durchaus anerkannt, allerdings auf eine Weise, die uns als das genaue Gegenteil einer moralischen Praxis erscheint.

Wenn man jedoch bedenkt, wie lieblos bei uns alte Menschen oft ohne Not in Alten- oder Seniorenheime abgeschoben werden, so kann man sich mit Recht fragen, ob diese Form der »Aussetzung« in der Tat sehr viel menschenwürdiger ist als die Praxis sogenannter »primitiver« Stämme.

Wohlgemerkt: Die Tötung alter Menschen geschah bei den Eskimos nicht gegen den Willen der Alten, sondern mit ihrem Einverständnis. Sie waren ja mit dieser RegelRegel bereits aufgewachsen und wußten um ihre Bedeutung. Ihnen wurde also keineswegs Zwang oder GewaltGewalt im eigentlichen Sinn angetan.

Die Frage, die sich in diesem Zusammenhang stellt, ist die, wie solche unterschiedlichen Praktiken ethisch zu beurteilen sind. Hier ist es sicher nicht mit ToleranzToleranz getan, wie der Ethnologe Melville J. HERSKOVITSHerskovits, J. meint, der folgende drei Thesen aufstellt:

1 Das Individuum verwirklicht seine Persönlichkeit im Rahmen seiner KulturKultur; daher bedingt die Achtung individueller auch die Achtung kultureller Verschiedenheiten. …

2 Die Achtung kultureller Unterschiede folgt aus der wissenschaftlichen Tatsache, dass noch keine Methode zur qualitativen Bewertung von Kulturen entdeckt worden ist. …

3 Maßstäbe und Werte sind relativ auf die KulturKultur, aus der sie sich herleiten. Daher würde jeder Versuch, Postulate zu formulieren, die den Überzeugungen oder dem Moralkodex nur einer KulturKultur entstammen, die Anwendbarkeit einer MenschenrechtserklärungMenschenrechte auf die Menschheit als ganze beeinträchtigen. (Ethnologischer RelativismusRelativismus und MenschenrechteMenschenrechte, in: Texte zur Ethik, 39f.).1

Die ethischeEthik Schlussfolgerung in Bezug auf den oben beschriebenen Fall müsste vielmehr die sein, dass alles darangesetzt wird, die Lebensverhältnisse und die wirtschaftlichen Bedingungen dieser Menschen so zu verbessern, dass die geschilderten Praktiken von selbst obsolet werden.

Bisher war die Rede von der Gruppenmoral im Rahmen unterschiedlicher KulturkreiseKultur. Im alltäglichen Erfahrungsbereich begegnet einem die MoralMoral jedoch nicht nur als ein kulturspezifisches Phänomen, das im Unterschied zu Sinndeutungen anderer gesellschaftlicher oder nationaler Handlungsgemeinschaften den Sinnhorizont der Handlungsgemeinschaft darstellt, in der der einzelne aufgewachsen ist und an der aktiv mitzuwirken er aufgerufen ist, sondern innerhalb der Gesamtmoral haben sich auch besondere MoralenMoral herausgebildet, deren RegelnRegel nur für einen Teil der gesamten Gruppe gelten.

 So tritt die christliche MoralMoralchristliche mit dem Anspruch religiös fundierter moralischer RegelnRegel an die Christen heran, wobei diese RegelnRegel nach katholischer Überzeugung sowohl ihrer Form als auch ihrem Inhalt nach anders ausfallen als nach evangelischer Auffassung – von den zahlreichen Sekten und Weltanschauungslehren ganz zu schweigen.

 So hat jeder Beruf mehr oder weniger ausdrücklich sein eigenes Berufs- oder Standesethos entwickelt, dessen Normen für den verbindlich sind, der diesen Beruf gewählt hat und ausübt.

Der »Eid des HippokratesHippokrates« verpflichtet den Arzt in Anwendung der allgemeinen moralischen Forderung, seinen Mitmenschen in der Not zu helfen, auf die ärztliche Tätigkeit dazu, nach bestem Wissen und Gewissen für das körperliche Wohlergehen und die Gesundheit der ihm anvertrauten Patienten zu sorgen.

Das EthosEthos des Lehrers besteht in der Forderung, die Schüler über die angemessene Vermittlung bestimmter Wissensinhalte zu aufgeklärten, mündigen Menschen zu erziehen.

Das EthosEthos des Busfahrers liegt in der Verantwortung für seine Passagiere, die er ungefährdet an ihr Ziel zu bringen hat.

Diese Liste lässt sich beliebig fortsetzen über die »Arbeiter-«, »Angestellten-« und »Beamtenmoral« bis hin zur »Hausfrauenmoral«. Alle diese BerufsgruppenmoralenGruppenmoral basieren auf dem allgemeinen moralischen Grundsatz, das Seine im Beruf so gut wie möglich zu tun. Hier wird also der Arbeit an sich selber ein Wert zuerkannt, oder anders gesagt: Arbeit ist nicht allein definiert durch die technischen RegelnRegel, die einen reibungslosen Arbeitsprozess ermöglichen, sondern Arbeit ist zugleich eine Tätigkeit, die auf der Basis von moralischen RegelnRegel ausgeübt wird – besonders dort, wo andere Menschen mittelbar oder unmittelbar mitbetroffen sind.

Einen Sonderfall stellt die MoralMoral einer Räuberbande dar. Auch sie ist eine GruppenmoralGruppenmoral, ohne die die Gemeinschaft der Räuber nicht funktionieren würde. Es muss also z.B. geregelt sein, nach welchem Schlüssel die Beute verteilt wird, damit es gerecht zugeht; wie der einzelne sich zu verhalten hat, wenn er geschnappt wird: er darf nicht ›singen‹, um die anderen nicht zu gefährden etc. Hier geht es um die sog. Ganovenehre, um das Ethos des Berufsverbrechers, das ebenfalls eine GruppenmoralGruppenmoral ist.

Weitere Spezialisierungen der allgemeinen GruppenmoralGruppenmoralMoral einer Gemeinschaft oder Gesellschaft artikulieren sich einerseits in EhrenkodizesEhrenkodex, andererseits in oft stillschweigend respektierten Tabuzonen. Hier werden bestimmte Selbstwertvorstellungen, die durch AnerkennungsprozesseAnerkennung vermittelt sind, manifest.

Die Berufs- oder Standesehre z.B. ist eng mit den im Berufsethos zusammengefassten Regeln verknüpft, und wer gegen diese Regeln verstößt, schadet nicht nur dem eigenen Ansehen, sondern dem ganzen Berufsstand.

Ein KaufmannKaufmann, A., der minderwertige Ware zu überhöhten Preisen verkauft, verletzt seine Berufsehre ebenso wie ein Politiker, der nur seine Machtinteressen verfolgt, anstatt sich für die von ihm zu vertretenden Belange einzusetzen, oder wie ein Handwerker, der mangelhaft arbeitet. In derartigen Fällen wird dem Betreffenden die AnerkennungAnerkennung sowohl vonseiten der Betroffenen versagt (man kauft bei ihm nicht mehr ein, wählt ihn nicht mehr, ruft ihn nicht mehr zu Reparaturen) als auch vonseiten der Berufsgruppe, was den Ausschluss aus dieser Gruppe zur Folge haben kann.

Umgekehrt wird besonders vorbildliches Verhalten im Dienst am Mitmenschen durch öffentliches Lob oder die Verleihung von Preisen und Orden ausgezeichnet.

Eine besondere Art von EhrenkodexEhrenkodex stellt die Stammes- und Familienehre dar. Auch hier wird ein Verstoß gegen die Regeln (z.B. eine unstandesgemäße Heirat oder ein Eingriff von außen, wie etwa eine unbefugte Grenzüberschreitung) zumeist mit dem Ausstoß aus dem Familienclan, ja gelegentlich auch heute noch mit Blutrache geahndet.

Als besonders schwerer moralischer Verstoß gegen Anstand und SitteSitte gilt im alltäglichen Erfahrungsbereich die Verletzung eines TabusTabu. Waren es früher hauptsächlich der religiöse und der sexuelle Bereich, in dem durch Verbote unter Androhung schlimmer Strafen gewisse Bezirke (des Heiligen, Numinosen, bzw. bestimmte erotische Spielarten) ausgegrenzt, als unzugänglich (»unberührbar«) deklariert und der menschlichen Praxis untersagt wurden, so gilt heute die individuelle Privat- und Intimsphäre eines jeden als tabu. Sowohl die zu weit gehende Zurschaustellung dieses persönlichen Bereichs vonseiten bekannter Persönlichkeiten als auch unverschämte Übergriffe vonseiten der Massenmedien werden trotz der Neugier des Publikums in der Regel von den meisten als schamloser, unanständiger Eingriff in Dinge, die die Öffentlichkeit nichts angehen, empfunden.

Bei allen TabusTabu muss grundsätzlich immer wieder gefragt werden, inwieweit sie in der Tat noch dem Schutz wirklicher WerteWert wie MenschenwürdeMenschenwürde und persönliche FreiheitFreiheit dienen, oder ob sie nicht zu bloßen Druckmitteln entartet sind, um missliebiges Verhalten einzuschränken und Kontrollfunktionen über das erlaubte Maß hinaus auszudehnen. Tabus können veralten und aufgehoben werden, wenn sich herausstellt, dass die Menschen inzwischen einen natürlicheren oder aufgeklärteren Zugang zu dem ursprünglich tabuisierten Bereich gefunden haben, sodass die alten Verbote hinfällig werden oder einer Modifikation bedürfen. Als Beispiele wären hier die veränderte Beurteilung des Inzests und der Homosexualität zu nennen.

Die bisher skizzierten MoralsystemeMoral spielen in der Alltagspraxis, im Umgang mit den Mitmenschen, in den zwischenmenschlichen Beziehungen, eine große Rolle, ohne dass sich die meisten ausdrücklich darüber klar sind, wie weit ihre kommunikativen Verhaltensweisen von solchen MoralenMoral bestimmt, ja reglementiert sind. Erst wenn im Privatbereich persönliche (GewissenGewissens-) KonflikteKonflikt entstehen oder in der öffentlichen Diskussion Probleme erörtert werden, die sich aus einer Normen- resp. WertekollisionWert ergeben, wird sich der einzelne zum einen der Selbstverständlichkeit bewusst, mit der er bestimmten internalisierten moralischen Regeln fraglos folgt, zum andern aber auch seiner persönlichen Verantwortung, derer er durch die Befolgung von Vorschriften der geltenden MoralMoral keineswegs enthoben ist.

Es lassen sich drei Hauptklassen solcher NormenNorm- oder WertekollisionenWert, die zu einem GewissenGewissenskonfliktKonflikt führen können, unterscheiden:

 Es kann erstens passieren, dass NormenNorm, die zu ein und demselben MoralsystemMoral gehören, miteinander kollidieren.

 Dies ist z.B. der Fall, wenn sich die Regel, immer wahrhaftig zu sein, in einer bestimmten Situation mit der Regel, niemandem Leid zuzufügen, nicht in Einklang bringen lässt, sodass das Sagen der WahrheitWahrheit mit der Zufügung großen Leids verbunden ist, das Verschweigen der WahrheitWahrheit aber zu ständigem Lügen zwingt.

 Ein anderer Fall liegt vor, wenn das Leben eines Menschen nur durch den Bruch eines Versprechens oder durch Verrat gerettet werden kann.

 Es kann zweitens der Fall eintreten, dass NormenNorm, die zu verschiedenen MoralsystemenMoral gehören, miteinander kollidieren.

 Für den Pazifisten ist z.B. die Forderung, keine Waffen zu tragen und sich aus Kriegshandlungen herauszuhalten, mit der Forderung des Staates, sein Vaterland notfalls mit Waffen zu verteidigen, unvereinbar.

 Das katholische Verbot einer Schwangerschaftsverhütung durch »die Pille« kann mit einer ärztlichen oder sozialen Indikation zusammenstoßen, der gemäß eine Schwangerschaft schwerste leibliche und seelische Schäden zur Folge haben würde.

 Es kann schließlich drittens eine bestimmte, allgemein anerkannte NormNorm oder WertvorstellungWert das Selbstverständnis eines einzelnen so tiefgreifend beeinträchtigen, dass ihre Befolgung seine freie Selbstverwirklichung, auf die er einen moralischen Anspruch hat, in unzulässiger Weise behindern würde. Hier entsteht der KonfliktKonflikt nicht durch die Unvereinbarkeit von allgemeinen NormenNorm oder NormensystemenNorm, sondern durch den Zusammenstoß einer allgemein anerkannten mit einer in bestimmter Weise ausgelegten Individualnorm.

  Dies ist z.B. der Fall, wenn jemand homosexuell veranlagt ist und mit einem gleichgeschlechtlichen Partner zusammenlebt, was gegen die Institution der Ehe verstößt.

Das Gemeinsame der oben geschilderten KonfliktsituationenKonflikt liegt darin, dass sie nicht durch irgendeine öffentliche Autorität oder Instanz allgemein verbindlich für jeden Einzelfall a priori gelöst werden können, sondern von dem betroffenen Individuum selbstverantwortlich entschieden werden müssen. Zwar können öffentliche oder private Diskussionen dazu beitragen, in Pro- und Contra-Argumenten gute Gründe für die eine oder die andere Lösung zu formulieren und auf die möglichen Folgen der jeweiligen Entscheidung aufmerksam zu machen; außerdem können gesetzliche Regelungen den Entscheidungsraum einschränken, aber treffen muss die Entscheidung der einzelne, der sich in der KonfliktsituationKonflikt befindet, und er muss sie im Bewusstsein seiner moralischen Verantwortung treffen, d.h. nicht nach Gutdünken und ausschließlich persönlichem Wunsch und Willen, sondern unter Berücksichtigung dessen, was in der Gemeinschaft gilt, zu der er gehört. Er muss somit bereit sein, sich vor dieser Gemeinschaft bezüglich seiner Entscheidung zu rechtfertigen, mithin die Gründe offenzulegen, die ihn bewogen haben, so zu handeln, wie er gehandelt hat bzw. handeln möchte. Ganz gleich wie seine Entscheidung de facto ausfällt, sie wird in den exemplarisch geschilderten Fällen immer gegen die eine oder die andere NormNorm verstoßen und insofern mit einem gewissen Maß an moralischer SchuldSchuld verbunden sein. Doch ist die grundsätzliche Bereitschaft, eine solche Entscheidung zu rechtfertigen, vor anderen zu verantworten, ein Indiz dafür, dass die betreffende Person nicht unmoralisch ist, sondern dass es vielmehr in Ausnahmefällen und Extremsituationen rechtens sein kann, den Anspruch einer bestimmten moralischen NormNorm zugunsten einer höher geschätzten NormNorm nicht zu erfüllen.

Eine geltende MoralMoral bzw. eine moralische Regel kann aus Moralität in Frage gestellt oder negiert werden.

In den verschiedenen historisch entstandenen Moralsystemen kommt ein NormenpluralismusNorm zum Ausdruck, durch den die Alltagspraxis und damit zugleich das Freiheitsverständnis von Menschen bestimmt wird. Das spiegelt sich in einer Vielzahl von inhaltlich differierenden Geboten, Verboten, Handlungsanweisungen, Regeln, Vorschriften und dergleichen mehr. Es fragt sich nun, ob es sich bei der Mannigfaltigkeit dieser NormenNorm um eine heterogene Vielfalt handelt, oder ob sie sich nicht trotz aller inhaltlichen Differenz doch allesamt auf einen als Moralkriterium fungierenden formalen Grundsatz zurückführen lassen. Ein solcher Grundsatz, der auf die Bibel zurückgeht, ist z.B. als »Goldene RegelRegelGoldene« allgemein bekannt:

Was du nicht willst, das man dir tu, das füg’ auch keinem andern zu;

oder positiv formuliert:

Behandle deine Mitmenschen so, wie du von ihnen behandelt werden willst. (Vgl. AT: Tobias 4, 16; NT: Matth. 7, 12; Luk. 6,31)

Diese Regel verlangt somit vor jeder konkreten Einzelentscheidung, dass man sich in die Lage des oder der von ihr Betroffenen versetzen soll, um zu prüfen, ob man die Entscheidung auch dann gutheißen würde, wenn ein anderer sie fällen würde und ich dadurch unmittelbar oder mittelbar betroffen wäre.

Die Goldene RegelRegelGoldene ist nicht selber eine moralische NormNorm, sondern soll als Maßstab von moralischen NormenNorm fungieren, d.h. sie schreibt nicht inhaltlich vor, was im Einzelnen getan werden soll; sie gebietet vielmehr rein formal, wie generell gehandelt werden muss, damit die Handlung als moralischHandeln/Handlungmoralische(s) anerkannt werden kann. Die HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) gilt dann als moralisch, wenn sie nicht Folge eines bloß subjektiven, unmittelbaren WollensWollen (BedürfnissesBedürfnis oder Interesses) ist, sondern Ausdruck eines sich von seinem unmittelbaren Begehren distanzierenden und auf den WillenWille anderer Subjekte beziehenden, intersubjektiv vermittelten WillensWille.

Allerdings gibt es ein Problem, das auch die Goldene RegelRegelGoldene nicht zu lösen vermag, nämlich das Problem des Fanatikers, der dem Grundsatz huldigt: fiat iustitia, pereat mundus – Gerechtigkeit muss sein, auch wenn die Welt daran zugrunde geht. Der Fanatiker wäre also grundsätzlich bereit, Gewalt und Tod zu erleiden, wenn er selber in der Rolle des Betroffenen wäre. Die Goldene RegelRegelGoldene versagt in diesem Fall; sie funktioniert nur, solange es um ›normales‹ moralisches Verhalten geht. Sobald jemand die katastrophalen FolgenFolgen einer unmenschlichen Tat für sich selbst akzeptiert und zu tragen bereit ist, endet nicht nur die Plausibilität der Goldenen RegelRegelGoldene, sondern die Wirksamkeit jedes noch so vernünftigen Arguments, da moralische Eiferer und Fanatiker sich auf keinen echten Dialog einlassen.

Lenkt die Goldene RegelRegelGoldene den Blick auf die Qualität des Willens, durch den eine Tat zu einer moralischen HandlungHandeln/Handlung wird, so bezieht sich eine andere Formulierung des Maßstabs der Moral, der in der Alltagspraxis ebenfalls häufig Verwendung findet, auf die möglichen FolgenFolgen einer HandlungHandeln/Handlung: Nach dem Prinzip der VerallgemeinerungPrinzip der Verallgemeinerung (umgangssprachlich in dem Argument enthalten: »Stell’ dir vor, was passieren würde, wenn alle so handelten wie du.«) gilt eine HandlungHandeln/Handlungmoralische(s) dann als unmoralisch, wenn ihre generelle Ausführung unzumutbare Konsequenzen nach sich zöge.

In einem sehr trockenen Sommer herrscht Wasserknappheit, und jeder ist gehalten, seinen Wasserverbrauch einzuschränken. Herr X füllt seinen Swimmingpool neu auf. Frau Y lässt den ganzen Tag den Rasensprenger laufen. Nachbar Z weist beide auf die katastrophalen FolgenFolgen hin, die sich ergäben, wenn jeder die gleichen Wassermengen verbrauchte.

Das Prinzip der Verallgemeinerung appelliert somit an das VerantwortungsbewusstseinVerantwortung des Handelnden, indem es ihn dazu verpflichtet, die Zukunft mitzuberücksichtigen und nicht um der Befriedigung eines aktuellen Bedürfnisses willen die eventuellen FolgenFolgen einer HandlungHandeln/Handlung außer Acht zu lassen. Dieses Problem stellt sich heute in besonderem Maß im Zusammenhang mit Umweltfragen. Können wir es moralisch verantworten, unseren Nachkommen eine durch Abgase, Müll und atomare Verseuchung zerstörte Welt zu hinterlassen, nur um uns einen möglichst hohen Lebensstandard zu ermöglichen?

Einführung in die Ethik

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