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1.1 Herkunft und Bedeutung des Wortes »EthikEthik«

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ARISTOTELESAristoteles war der Erste, der die EthikEthik als eine eigenständige philosophische Disziplin behandelt und von den Disziplinen der theoretischen Philosophie (LogikLogik, PhysikPhysik, MathematikMathematik, MetaphysikMetaphysik) unterschieden hat. Die praktische Philosophie untergliederte er in EthikEthik, ÖkonomikÖkonomik und PolitikPolitik. Während es die theoretische Philosophie mit dem veränderlichen und unveränderlichen Seienden zu tun hat, geht es in der praktischen Philosophie um menschliche HandlungenHandeln/Handlung und ihre Produkte.

Doch schon nahezu alle Dialoge PLATONPlatons enthalten ethische Überlegungen – insbesondere gilt dies für die zwischen SOKRATESSokrates und den Sophisten ausgetragene Auseinandersetzung über das Ziel der ErziehungErziehung:

ErziehungErziehung wurde von den Sophisten (insbesondere von PROTAGORASProtagoras und GORGIASGorgias) als Einübung in die von den Vätern überkommenen SittenSitte und Satzungen, deren Geltung fraglos und unbestritten anerkannt war, verstanden. SOKRATESSokrates dagegen sah Erziehung als einen an der Idee des GutenGuteIdee des orientierten Lernprozess an, dessen Ziel der Erwerb von Mündigkeit im Sinne kritischer Urteilsfähigkeit war.

Während ErziehungErziehung also für SOKRATESSokrates ein ethisch begründeter Lernprozess ist, betonen die Sophisten den Wert der Rhetorik als Mittel zur Gewinnung und Aufrechterhaltung von politischer MachtMacht. Entsprechend verstanden sie ErziehungErziehung primär als Anleitung zu Rhetorik.

PLATONPlaton hat also zweifellos Untersuchungen zum Ethischen durchgeführt, jedoch sind derartige Überlegungen von ihm nicht systematisch zu einer EthikEthik zusammengefasst worden. Vielmehr durchziehen sie die einzelnen Dialoge in unterschiedlicher Gewichtung und sind von PLATONs metaphysischem Denkansatz nicht abtrennbar. Die menschliche PraxisPraxis wird von PLATON immer im Zusammenhang mit der Ideenlehre und damit verbunden der Frage nach den unveränderlichen, ewigen Prinzipien des SeiendenSein insgesamt erörtert.

Ausgehend von sophistischen und sokratisch-platonischen Thesen über die menschliche PraxisPraxis und das GuteGute, das hat dann ARISTOTELESAristoteles die praktische Philosophie von der theoretischen abgegrenzt und die EthikEthik als eine eigenständige Disziplin begründet. Dies dokumentieren verschiedene Werke, vor allem seine Vorlesungen über das Thema EthikEthik: die ›Eudemische Ethik‹ und die sog. ›Große Ethik‹. Am berühmtesten aber ist seine ›Nikomachische Ethik‹ geworden, die ihren Titel vermutlich vom Namen des Sohnes Nikomachos her erhalten hat. Die Nikomachische EthikEthik enthält eine umfassende Theorie des Handelns, die sowohl eine Glücks- als auch eine TugendlehreTugend ist, und erhebt den Anspruch, den Schüler der EthikEthik so über sein Tun aufzuklären, dass er lernt, das GuteGute, das immer besser zu tun und sich dadurch immer mehr als ein guter Mensch zu erweisen.

Der seit ARISTOTELESAristoteles verwendete Disziplintitel EthikEthik leitet sich ursprünglich von dem griechischen Wort ethosEthos her, das in zwei Varianten vorkommt, nämlich einmal als ἔθοςEthos – Gewohnheit, SitteSitte, Brauch: Wer durch ErziehungErziehung daran gewöhnt worden ist, sein Handeln an dem, was SitteSitte ist, was im antiken Stadtstaat, in der Polis Geltung hat und sich daher ziemt, auszurichten, der handelt »ethisch«, insofern er die Normen des allgemein anerkannten ›MoralkodexMoral‹ befolgt. Im engeren und eigentlichen Sinn ethisch handelt jedoch derjenige, der überlieferten Handlungsregeln und Wertmaßstäben nicht fraglos folgt, sondern es sich zur Gewohnheit macht, aus Einsicht und Überlegung das jeweils erforderliche GuteGute, das zu tun: Das ἔθοςEthos wird dann zum ἦθοςEthos im Sinne von Charakter; es verfestigt sich zur Grundhaltung der Tugend.

Also entstehen die sittlichen Vorzüge in uns weder mit Naturzwang noch gegen die NaturNatur, sondern es ist unsere NaturNatur, fähig zu sein sie aufzunehmen, und dem vollkommenen Zustande nähern wir uns dann durch Gewöhnung. … Mit einem Wort: aus gleichen Einzelhandlungen erwächst schließlich die gefestigte Haltung. Wir philosophieren nämlich nicht, um zu erfahren, was TugendTugend sei, sondern um tugendhafte Menschen zu werden. (Eth. Nic. 11, 1–2; 1103a 23–b28)

Das lateinische Wort mos (Plural: mores) ist eine Übersetzung der beiden griechischen ethosEthos-Begriffe und bedeutet daher sowohl SitteSitte als auch Charakter. Von mos wiederum leitet sich das deutsche Wort MoralMoral her, das ein Synonym für SitteSitte ist. Zur MoralMoral oder SitteSitte werden jene – aus wechselseitigen Anerkennungsprozessen in einer Gemeinschaft von Menschen hervorgegangenen und als allgemein verbindlich ausgezeichneten Handlungsmuster zusammengefasst, denen normative Geltung zugesprochen wird. Die Ausdrücke MoralMoral und SitteSitte bezeichnen mithin Ordnungsgebilde, die gewachsene Lebensformen repräsentieren, Lebensformen, die die Wert- und Sinnvorstellungen einer Handlungsgemeinschaft widerspiegeln. Während der Bedeutungsgehalt von MoralMoral/SitteSitte mehr dem entspricht, was mit ἔθοςEthos gemeint ist, stehen die Abstrakta Moralität/Sittlichkeit in ihrer Bedeutung dem näher, was unter ἦθοςEthos verstanden wird: der Qualität eines Handelns, das sich einem unbedingten Anspruch (dem GutenGute, das) verpflichtet weiß.

Die Adjektive moralisch/sittlich dagegen sind doppeldeutig und können sowohl im Sinne von ἔθος wie von ἦθος verwendet werden. Wenn eine HandlungHandeln/Handlung als moralisch/sittlich beurteilt wird, so kann dies sowohl heißen: sie folgt einer Regel der geltenden MoralMoral/SitteSitte, als auch: sie hat ihren Grund in der Moralität/Sittlichkeit des Handelnden. Wenn ich von jemandem sage, er sei ein unmoralischer Mensch, so meine ich entweder, sein Verhalten entspreche nicht dem von den meisten anerkannten MoralkodexMoralkodex, oder aber, er habe einen verdorbenen Charakter.


Hinsichtlich der Verwendung der Wörter EthikEthik und ethisch ist folgendes festzustellen: Sowohl in der traditionellen EthikEthik als auch in der Umgangssprache wird das Adjektiv ethisch häufig synonym mit moralisch bzw. sittlich gebraucht: es ist die Rede von ethischen HandlungenHandeln/Handlung, ethischen Ansprüchen, ethischen Normen usf. Dieser Sprachgebrauch ist keineswegs unberechtigt, wenn man an die Herkunft des Wortes EthikEthik aus ἔθοςEthos denkt. Um jedoch die verschiedenen Reflexionsniveaus von vornherein bereits sprachlich scharf gegeneinander abzugrenzen, ist man in der EthikdiskussionEthik weitgehend dazu übergegangen, den Titel EthikEthik wie auch das Adjektiv ethisch ausschließlich der philosophischen Wissenschaft vom moralischen/sittlichen HandelnHandeln/Handlung des Menschen vorzubehalten.

Nach einem sich einbürgernden Sprachgebrauch bezeichnen wir als ›Moral‹ den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile, Institutionen, während wir den Ausdruck ›Ethik‹ (sprachgeschichtlich mit ›MoralMoral‹ bedeutungsäquivalent) für die philosophische Untersuchung des Problembereichs der Moral reservieren. (G. PATZIGPatzig, G., Ethik ohne Metaphysik, 3)

Nicht immer wird zwischen ›Ethik‹ und ›MoralMoral‹ unterschieden. Trotzdem ist es nicht unzweckmäßig, eine solche Unterscheidung zu treffen – selbst wenn sich herausstellen sollte, dass die beiden entsprechenden Bereiche aneinander grenzen und dass eine exakte Grenzziehung kaum möglich ist. Deshalb wollen wir in Übereinstimmung mit einem in der Philosophie nicht ganz ungewöhnlichen Sprachgebrauch im Folgenden ›Ethik‹ als gleichbedeutend mit ›Moralphilosophie‹ verstehen. (N. HOERSTERHoerster, N., Texte zur Ethik, 9)

Die Sprache der MoralMoralSprache der oder die moralische Sprache umfasst das umgangssprachliche Reden über Handlungen, sofern sie einer kritischen Beurteilung unterzogen werden. Die Sprache der Ethik oder Moralphilosophie dagegen ist ein reflektierendes Sprechen über die moralische Sprache.

Die Ethik hat somit MoralMoral (SitteSitte) und Moralität (Sittlichkeit)1 zu ihrem Gegenstand. Ihre Fragen unterscheiden sich von denen der MoralMoral dadurch, dass sie sich nicht unmittelbar auf singuläre Handlungen bezieht, also auf das, was hier und jetzt in einem bestimmten Einzelfall zu tun ist, sondern auf einer Metaebene moralisches Handeln grundsätzlich thematisiert, indem sie z.B. nach dem MoralprinzipMoralprinzip oder nach einem Kriterium zur Beurteilung von Handlungen fragt, die Anspruch auf Moralität erheben; oder indem sie die Bedingungen untersucht, unter denen moralische Normen und WerteWert allgemein verbindlich sind.

Aus dieser begrifflichen Differenzierung zwischen MoralMoral und Ethik folgt, dass ethische Überlegungen nicht eo ipso moralisch sind, aber durchaus aus einem Interesse an einer bestimmten Problematik der MoralMoral hervorgehen können, so wie umgekehrt moralische Überlegungen nicht eo ipso ethisch sind, aber durchaus zu ethischen Fragestellungen radikalisiert werden können.

Zusammenhang und Unterschied zwischen Ethik und MoralMoral lassen sich durch folgende Analogien verdeutlichen:

Gegenstand der Literaturwissenschaft ist die sog. »schöne Literatur«, die unter verschiedenen (z.B. linguistischen, formaltechnischen, inhaltlichen) Aspekten untersucht und klassifiziert wird. Wer Literaturwissenschaft betreibt, schreibt – indem er dies tut – keinen Roman, kein Gedicht etc., obwohl er dazu durchaus in der Lage sein mag; vielmehr analysiert er literarische Texte im Hinblick auf bestimmte regelmäßige Strukturelemente und -formen, um zu allgemeinen Aussagen über »den« Roman, »das« Drama, »die« Ode etc. zu gelangen, und versucht, vermittels dieser Regeln wiederum einzelne Romane, Dramen, Oden kritisch zu beurteilen. Wer dagegen einen Roman schreibt, betreibt nicht – indem er dies tut – Literaturwissenschaft, obwohl ihm literaturwissenschaftliche Kenntnisse bei der Abfassung durchaus von Nutzen sein können.

Eine andere Analogie:

Ein guter Theaterkritiker muss nicht notwendig auch ein guter Schauspieler sein (in der Regel wird er dies gerade nicht sein). Ihn zeichnet ja eben die Distanz zum Stück, zum Spiel aus, und nur aus dieser Distanz heraus gelingt es ihm, etwas Treffendes über das Stück, über den Schauspieler zu sagen. Wenn er selber ein unmittelbar Beteiligter wäre, könnte er nicht zugleich und in derselben Hinsicht als Kritiker fungieren, weil ihm die nötige Distanz fehlte.

Analog zum Literaturwissenschaftler und Theaterkritiker urteilt auch der Ethiker aus einer gewissen Distanz zu seinem Gegenstand über diesen Gegenstand, die MoralMoral nämlich. Indem der Ethiker Ethik betreibt, handelt er nicht moralisch, sondern reflektiert aus theoretischer Perspektive über das Moralische und damit aus der kritischen Distanz des Wissenschaftlers.

Diese Distanz kann im Extremfall so weit gehen wie in der folgenden Anekdote: Max SCHELERScheler, M., einer der führenden Wertethiker um die Jahrhundertwende, hat sich angeblich nicht immer moralisch einwandfrei verhalten und gelegentlich gegen die sogenannten guten Sitten verstoßen. Darauf angesprochen, ob dies denn nicht im Widerspruch zu dem stehe, was er in seinen ethischen Arbeiten vertrete, soll er sinngemäß gesagt haben: Kennen Sie einen Wegweiser, der selber in die Richtung geht, die er anzeigt?

Das mag zunächst frivol klingen, ist aber durchaus nicht absurd, denn die Ethik als Theorie der moralischen PraxisPraxis ist nicht selber schon die PraxisPraxis der MoralMoral, und man kann sich sehr wohl eine richtige Theorie der PraxisPraxis vorstellen, die unabhängig davon richtig ist, ob derjenige, der diese Theorie entwickelt hat, sie auch praktiziert oder nicht. AndersAnders, G. gesagt: Über die Richtigkeit der Theorie entscheidet nicht die Tatsache, dass ihr Urheber sie praktiziert. Aber wenn die Theorie richtig ist, kann man sagen, dass es praktisch inkonsequent ist, wenn sie für die PraxisPraxis ihres Urhebers folgenlos bleibt. Das Bild des Wegweisers ist somit insofern zutreffend, als man den Wegweiser und den zu gehenden Weg voneinander trennen muss. Man kann also nicht sagen, im Idealfall müsste der Wegweiser tatsächlich den von ihm gewiesenen Weg gehen, d.h. Ethik und MoralMoral müssten zusammenfallen. Der Wegweiser steht für eine richtige Theorie der Ethik, und jeder, der sie verstanden hat, hat damit zugleich eine bestimmte Form von PraxisPraxis als verbindlich anerkannt, die er handelnd verwirklichen soll.

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