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WIE ENTWICKELT SICH AUS EINER PANIKATTACKE EINE STÖRUNG?

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DR. DORIS WOLF: Bei Menschen, die unter Angstzuständen wie Panikattacken leiden, liegt der Anteil von Frauen bei 60 bis 75 Prozent. Die Betroffenen laufen meist jahrelang zu Ärzten und werden mit Tabletten behandelt, ohne dass die Ursachen erkannt oder behandelt werden. Sie bekommen den Eindruck, verrückt zu sein, weil sie körperliche Beschwerden verspüren, aber kein Arzt eine organische Ursache finden kann.

Oft entwickelt sich begleitend mit den Angstzuständen eine Agoraphobie. Es ist die Angst, sich in bestimmten Situationen hilflos und überfordert zu fühlen und aus diesen Situationen nicht flüchten zu können. Die Betroffenen spüren körperliche Beschwerden, sobald sie sich einer befürchteten Situation nähern, wie z. B. Herzklopfen, Schweißausbrüche, Atembeschwerden, Beklemmungsgefühle, Schwindel, Unwirklichkeitsgefühle, Hitzewallungen, Kälteschauer oder Todesangst. Sie beginnen, die Situationen zu meiden, aus denen sie glauben, nicht entkommen zu können, und wo es im Falle eines Panikanfalls keine Hilfe gäbe. Meist sind es Situationen, in denen die Betroffenen glauben, keine Kontrolle über die Situation zu haben, wie etwa im Kino, im Stau, beim Warten in der Schlange vor der Kasse, beim Friseur, im Kaufhaus. Auch werden oft Busse, Bahn oder andere Transportmittel gemieden, oder Veranstaltungen, die man nicht verlassen kann, ohne unangenehm aufzufallen, werden nicht mehr besucht.

Außerdem stellen Betroffene sich oft immer wieder ihren ersten Anfall vor und erzeugen allein mit ihrer Vorstellung erneut eine ähnliche Anspannung im Körper. Sie beginnen dann zu glauben, dass sie unter einer schweren Erkrankung, einer Geisteskrankheit, einer Herzschwäche, Epilepsie oder einem Hirntumor leiden. Es entwickelt sich ein sogenannter Teufelskreis der Angst. Die Angst vor der Angst kann so stark sein, dass es zu einem Rückzug in die eigene Wohnung kommt, die nicht mehr verlassen wird. Dadurch entsteht eine starke Abhängigkeit vom Partner, von Freunden und Angehörigen.

Ich war nach der Sendung fix und fertig und wäre am liebsten gleich nach Hause gefahren. Aber es war der Abend der jährlichen Verleihung des Deutschen Fernsehpreises in Köln. Im Sender waren die Karten für dieses glamouröse Event begehrt. Und ich hatte das Glück, eingeladen zu sein. Meine Freundin und Moderationskollegin hatte ich als meine Begleitung angegeben. Während ich noch versuchte, die Redaktionssitzung durchzustehen, wartete sie schon auf mich, voller Vorfreude auf einen unvergesslichen Abend mit mir. Absagen kam nicht infrage. Das konnte ich ihr, so elend es mir ging, nicht antun. Allein der Wirbel darum, welches Kleid wer an diesem Abend trug … Wir hatten wirklich auf dieses Ereignis hingefiebert.

In schönster Abendrobe und schick aufgebrezelt saßen wir schließlich zusammen im Taxi auf dem Weg zum Coloneum, wo in diesen Minuten das Who’s who der deutschen TV-Prominenz über den roten Teppich wandelte. Es war fast unvorstellbar für mich, selbst gleich über den roten Teppich zu gehen, für die Kameras zu posieren und auch noch Autogramme zu geben. Letztes Jahr hörte ich noch hier und da Getuschel: Wer ist das? Kennt die einer? Aber dieses Jahr würde es anders sein, ich war mittlerweile über ein Jahr auf Sendung und die Fotograf*innen kannten mein Gesicht. Das würde es einfacher machen, sagte ich mir zur Beruhigung, ich müsste nur das Kleid ein bisschen schwenken, hier und da lächeln und fertig. Eigentlich mochte ich diese Momente ganz gern, Glamour, sehen und gesehen werden. Auf nichts hätte ich an diesem Abend besser verzichten können. Mir war hundeelend und ich hatte Angst, dass man mir meinen Zustand ansehen würde. Ich erzählte meiner Freundin auf der Fahrt alles, versuchte ihr zu beschreiben, wie es mir ging und wie verzweifelt ich war. Meine zitternden Hände und mein offensichtlicher Kampf mit den Tränen sprachen wohl für sich. Ich wollte am liebsten losheulen und nicht mehr aufhören, aber dann wäre mein ganzes Make-up verschmiert gewesen, das hätte alles noch schlimmer gemacht. Also riss ich mich zusammen. Meine Freundin spürte genau, wie ernst die Lage war. Sie war voller Mitgefühl und versuchte mich zu beruhigen, aber sie drang nicht zu mir durch. Ich war so sehr in meinen Grundfesten erschüttert. Was hatte ich nicht schon alles an Druck und Stress in meinem Leben ausgehalten! Und jetzt hatte mir eine Welle der Panik, der ich nichts entgegenzusetzen hatte, einfach die Beine weggerissen.

Gleichzeitig hatte

ich ein schlechtes

Gewissen, weil ich

wusste, wie dankbar

ich sein sollte

Den roten Teppich überstand ich irgendwie mit einem aufgesetzten Lächeln. Auf meinem Platz war ich dann während der Veranstaltung einigermaßen ungestört. Trotzdem fiel es mir unendlich schwer, die drei Stunden des Programms durchzuhalten, mir war die ganze Zeit kotzübel und aufstehen und mich durch die Reihen schlängeln kam für mich nicht infrage. Ich fühlte mich so fehl am Platz. Ich wollte ein Teil des Ganzen, wollte eine erfolgreiche Moderatorin sein und gleichzeitig fühlte ich mich vollkommen falsch in meiner Rolle. Diese verdammte Angst zerstörte mir gerade meinen Lebenstraum. In mir tobte es: „Was machst du hier eigentlich, du bist doch im falschen Film und im falschen Job. Sonst würdest du doch jetzt nicht in so einer Situation stecken. Das ist doch der Beweis.“ Ich präsentierte hier nach Außen die seriöse Nachrichtenmoderatorin, die ich doch, wie ich meinte, eigentlich gar nicht war. Mit der Panikattacke war die ganze Unsicherheit wieder hochgekommen, nicht die Richtige für den Job zu sein und von dort, wo ich jetzt war, auch nie da hinkommen zu können, wo ich hinwollte. Ewig die Vertretung von jemandem zu bleiben, so wie ich schon zu Fun-Factory-Zeiten immer nur die Vertretungssängerin gewesen war. Immer nur die Zweite in der Reihe, auswechselbar. Das, was ich wirklich konnte, was ich wirklich wollte, würde ich nie zeigen, nie ausleben können. Und wieder fühlte ich mich wie verstoßen, ungeliebt, nicht richtig. Gleichzeitig hatte ich ein schlechtes Gewissen, weil ich wusste, wie dankbar ich sein sollte, so etwas Besonderes erleben zu dürfen. Es fühlte sich schrecklich an. Es war so, als könnte ich es mir selbst nicht recht machen. Ich fühlte mich komplett hilflos, wusste einfach nicht, wie ich mich aus diesem inneren Kampf hätte herausholen können.

Diese Gedanken belagerten mich, während ich der Moderatorin des Deutschen Fernsehpreises dort auf der Bühne dabei zusah, wie sie charmant und lustig, voll in ihrem Element an der Seite ihres Co-Moderators durch den Abend führte und der ganze Saal voller Begeisterung mitging. So eine leichte, lebensfrohe Art der Moderation wollte ich auch. Davon träumte ich. Ich konnte es kaum ertragen, still sitzen zu bleiben und zuzusehen. Am liebsten hätte ich losgeheult, musste es mir aber irgendwie, mitten im Saal unter den Hunderten Gästen, verkneifen.

Als sich alle nach der Preisverleihung im Foyer sammelten, konnte ich den Gesprächen nicht folgen, bekam nichts richtig mit – trotzdem lächelte ich die ganze Zeit. Ich weiß heute nicht mehr, wie ich das geschafft habe. Es war einfach die Hölle. Meine eigene Hölle, ganz im Verborgenen. Ich hatte zittrige Knie und fühlte mich extrem schwach. Es war, als wäre ich eingepackt in Watte. Meine Sicht war verschwommen, ich nahm überall Lichter und Nebengeräusche wahr, konnte die Menschen um mich herum aber nicht richtig sehen. Es kostete mich all meine Kraft, das Ganze irgendwie durchzustehen und meine Fassade aufrechtzuerhalten, um meiner Freundin den Gefallen zu tun und ihr einen schönen Abend zu ermöglichen. Dass das leider ziemlich in die Hosen ging, machen ihre Erinnerungen deutlich. Sie schildert den Abend folgendermaßen:

„Ich habe die ganze Zeit deine Angst und Unruhe gespürt und hatte das Gefühl, dass ich dir nicht helfen kann, nicht an dich rankomme. Du warst nicht du selbst. Irgendwie zwei Personen in einer. Auf der einen Seite die strahlende Annett, auf dem roten Teppich, die in die Kameras lächelt. Auf der anderen Seite die vollkommen panische und verängstigte Annett, der es schlecht ging, sehr schlecht. Und die die ganze Zeit verzweifelt versucht hat, das vor den anderen zu verbergen.

Dieser Abend war sehr seltsam. Deine Zerrissenheit, deine Überzeugung, unbedingt das Gesicht wahren zu müssen, das hat auch mir wehgetan. Diese Gefühle haben sich auf mich übertragen, ich habe sie mit dir gefühlt. Und ich konnte dir trotzdem nicht helfen. Da waren lauter schöne, fröhliche, strahlende Menschen, die alle nach außen zeigten: ‚Hey, mir geht es gut, ich bin glücklich.‘ Menschen, die einander Komplimente machten, wie toll sie doch aussehen würden, wie großartig ihr Erfolg sei. Aber wenn wir uns wegdrehten, dann hörten wir oft noch den einen oder anderen flüstern: ‚Hast du die gesehen, die hat aber auch zugenommen …‘ Oder: ‚Die letzte Sendung von dem läuft ja gar nicht gut, ganz schlechte Einschaltquoten …‘ Es fühlte sich alles falsch an, unecht, auch für mich. Ein Grund war sicher, dass es dir so schlecht ging. Aber ein anderer ist wohl auch, dass in dieser TV-Welt viel von der Fassade, dem schönen Schein gelebt wird.“

Wir verließen die Veranstaltung früh. Endlich zu Hause, warf ich mir einen der Tranquilizer ein. Ich war verzweifelt, am Ende meiner Kräfte. Und jetzt kamen die Tränen, die ich den ganzen Abend zurückgehalten hatte. Ich konnte nur noch weinen und wünschte mir nichts mehr als Erlösung. Die Nacht über schlief ich dank der Beruhigungstablette tief und so fest, dass ich am nächsten Morgen kaum aus dem Bett kam. Doch ich musste. Ich war für den Dienst eingeteilt. Es war der 27. September 2009. Bundestagswahl. Ich sollte im Nachrichtenstudio des Partnersenders sitzen, für den ich parallel arbeitete, und moderieren. In der Redaktion anzurufen und zu sagen, dass ich es nicht schaffte, traute ich mich nicht. Wer sollte denn sonst so schnell für mich einspringen?

Vollkommen benommen von der Beruhigungstablette, die ich, wie mir jetzt klar wurde, viel zu spät noch genommen hatte, quälte ich mich wie gejetlagt und völlig neben der Spur auf die Autobahn. Eigentlich hätte ich in diesem Zustand gar nicht fahren dürfen. Ich war unendlich müde und kraftlos. Ich weinte während der gesamten zwanzigminütigen Fahrt voller Verzweiflung über meinen Zustand. Ich wollte zurück ins Bett, allein sein, und doch trieb mich mein Pflichtgefühl vorwärts.

Dank leerer Straßen am Sonntagmorgen schaffte ich es, ohne Zwischenfälle zum Sender zu kommen. Wie ich den Tag dort überstehen sollte … ich wusste es noch nicht. Ich musste versuchen, irgendwie noch eine Mütze Schlaf zu bekommen, vielleicht in der Maske. Das Schminken dauerte etwa eine Stunde und manchmal war es möglich, währenddessen noch mal für einen Moment wegzunicken. So weit kam es aber nicht, denn noch bevor ich an meinen Schreibtisch kam, lief ich einer befreundeten Kollegin direkt in die Arme. Sie war für die Tagesplanung zuständig. Ich muss wirklich furchtbar ausgesehen haben. Sie zog mich sofort aus der Redaktion raus, weg von möglichen Blicken anderer Kolleg*innen, die glücklicherweise in ihre Arbeit vertieft waren und mich noch nicht wahrgenommen hatten.

Im ersten Moment vermutete sie wahrscheinlich, dass ich eine etwas zu heiße, lange Nacht beim Fernsehpreis hinter mir hatte. Aber als sie mich genauer ansah, war ihr schnell klar, dass mein Zustand wenig mit zu viel Spaß zu tun hatte. Ich musste nicht viel sagen. Sie nahm mich kurz in den Arm und schob mich zur Ausgangstür. „Fahr nach Hause und ruh dich aus. Wir kriegen das schon hin.“ Und damit war sie verschwunden.

Ich fuhr und kam für den nächsten Monat nicht wieder. Die lebendige, fröhliche Annett gab es zu diesem Zeitpunkt nicht mehr. Ich war nur noch ein Häufchen Elend.

Liebe Angst, Zeit, dass du gehst

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