Читать книгу Liebe Angst, Zeit, dass du gehst - Annett Möller - Страница 6

DIE ERSTE ATTACKE

Оглавление

Hätte ich damals gewusst, dass mich dieser Tag verändern, über Jahre hinweg extrem herausfordern und bis an den Rand der Verzweiflung bringen würde: Ich wäre morgens einfach im Bett geblieben. Aber es gab keine Vorwarnung, der Tag war einer wie jeder andere. Das ganze Wochenende war eines wie jedes andere. Ich hatte – wie immer, wenn ich Dienst hatte – bereits Freitag und Samstag in der Nachrichtenredaktion verbracht, um mit den Kolleg*innen die anliegenden Themen für das Wochenende zu erarbeiten. Inzwischen war es Sonntag, nach 15 Uhr, die Nachmittag- und die Abendmoderation der Nachrichten am Samstag hatte ich schon hinter mir. Nach mehr als eineinhalb Jahren beim Sender war das Routine für mich. Meine Nacht zum Sonntag war kurz gewesen, wie auch die davor, auch das war wie fast immer, wenn ich ein Moderationswochenende zu übernehmen hatte. Ich hatte mich am Abend noch lange in die aktuellen Themen eingelesen und dazu laufende Diskussionen verfolgt. Ich brauchte das, um das Gefühl zu haben, dran zu sein, an dem, was ich da vor der Kamera erzählte, gerade in Bezug auf Nachrichten aus der Politik. Eine gute Vorbereitung gab mir die Souveränität und Gelassenheit, die ich vor der Kamera ausstrahlen wollte.

Und da stand ich nun. Sonntagnachmittag, inhaltlich bestens präpariert und fertig geschminkt für die nächste Moderation – die Maskenbildnerin hatte mit Pinsel und Make-up wieder ein Wunder vollbracht, ich sah aus wie das blühende Leben, keine Spur von Augenringen und müder Haut. Vor mir lag der kurze Nachrichtenüberblick für den Nachmittag. An den Wochenenden wurden meistens gegen 15, 16 Uhr Kurznachrichten live ausgestrahlt. Etwa drei Minuten lang. Dabei las ich mehrere Themen hintereinander weg und war nur kurz zu sehen, wenn ein neues Thema begann. Der Rest wurde von passenden Bildern begleitet, sogenannten Off-MAZen.

Nach außen war

ich völlig gelassen

Ich war wie fast immer ein bisschen aufgeregt. Ein angenehmes Flattern im Bauch. Ein Gefühl, das ich liebte. Gleich sollte es losgehen. Die Kameras waren auf Position, ich mittendrin im Scheinwerferlicht, der Regisseur über einen kleinen Knopf in meinem Ohr mit mir verbunden. Nach außen war ich völlig gelassen.

Heute wollte ich besonders cool sein, denn an der Studiotür lehnte eine der erfolgreichsten Moderatorinnen Deutschlands und sah zu. Sie wartete auf eine Aufzeichnung, die nach meinem Nachrichtenüberblick stattfinden sollte.

Kurz vorher hatten wir uns in der Maske getroffen und uns ganz locker unterhalten. Ich weiß nicht mehr worüber, nur noch, dass es ein netter Small Talk gewesen war. Es war eine der bisher wenigen persönlichen Begegnungen mit ihr in meiner noch kurzen Zeit im Sender. Von dieser charismatischen Frau wollte ich als Vertretung für einen der bekanntesten Nachrichtenanchor Deutschlands als kompetent und souverän wahrgenommen werden.

Der Regisseur zählte runter: „In 30 Sekunden gehts los … Noch 10 Sekunden … 3 … 2 … 1 …“ Die kurze Openingmusik der Sendung ertönte, und das rote Licht an der Kamera ging an, als Zeichen, dass ich auf Sendung war. „Herzlich willkommen zu einem kurzen Nachrichtenüberblick am Nachmittag …“, begann ich. Ich war jetzt live auf Sendung in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Hundertausende hatten in diesen Stunden das Programm eingeschaltet. Sahen alles, was ich tat, hörten alles, was ich sagte. Der erste Satz ging mir noch ganz gut über die Lippen. Ich hatte nur blöderweise viel zu tief angefangen zu sprechen und anstatt in den Bauch nur in den Brustkorb geatmet. Mit der Absicht, cool rüberzukommen, hatte ich meine Stimme gefühlt drei Oktaven tiefer angesetzt. Für ein paar Sekunden kam mir das extrem lässig vor, bis ich merkte, dass ich mit der Luft nicht hinterherkam. Ich erschrak richtig, denn gleichzeitig derart tief zu sprechen und dabei zu atmen schien mir in meiner Aufregung ganz plötzlich unmöglich. Ich spürte Panik in mir aufsteigen, doch ich war mitten im Nachrichtenüberblick. Ich musste weitersprechen. Die Zeit lief gegen mich. Ich musste die Texte zu den vier, fünf verschiedenen Themen vom Teleprompter vorlesen. Die Bilder, die die Zuschauer auf ihren Bildschirmen sahen, waren genau an meinen Text angepasst.

Für ein Anhalten, um mich kurz zu sammeln und dann weiterzumachen, war keine Zeit. Die Panik wuchs. Ich war überzeugt, das hier niemals zu überstehen. Und es wurde schlimmer. Während ich mich quälte, irgendwie Luft zu holen und den Text weiter vorzulesen, klopfte mein Herz wie wild und ich hatte das Gefühl, mir würde die Kehle zugeschnürt. Mir war gleichzeitig heiß und kalt, erst schwitzte ich wie verrückt, dann liefen mir Kälteschauer über den Rücken. Übelkeit stieg in mir hoch. Ich wollte nur noch weg, ich hatte Angst, keine Luft mehr zu bekommen und gleich in Ohnmacht zu fallen. Es war Wahnsinn, was in diesen wenigen Sekunden in meinem Kopf abging: Bilder blitzten auf, wie ich das Bewusstsein verlor oder weglief und mein Totalausfall am nächsten Tag die Schlagzeile auf den Titelseiten diverser Tageszeitungen sein würde, oder besser noch, mein Umfallen als Video im Internet kursierte! Was für ein Horror!

Ohnmächtig werden oder weglaufen, das durfte einfach nicht passieren – das zumindest wusste ich in diesen Sekunden der Panik, sonst wäre ich meinen Job wahrscheinlich für immer los. Ich musste sitzen bleiben! Ich musste durchsprechen. Ohne Pause. Zur Not ohne Luft.

Ich wusste überhaupt nicht, was gerade mit mir passierte, ich krümmte und wand mich innerlich, um diesem Klammergriff der Panik zu entkommen.

In meinem Hirn

pochte es: „Du fällst tot

um. Jetzt sofort!“

Ich las wie eine Getriebene weiter vom Teleprompter ab – mein Tempo war irre. Ich wurde immer schneller, hatte das Gefühl, einen 300-Meter-Sprint hinzulegen. Bereits am Ende meiner Kräfte spürte ich, wie die Beine mir immer weniger gehorchten und zu Pudding wurden. Alles in mir schrie: „Gib auf, du kannst nicht mehr, du bist erledigt!“ Aber ich machte weiter, hechelte nach Luft. Es waren doch nur gut drei Minuten. Wie konnte das alles nur so lange dauern? Die Scheinwerfer brannten in meinen Augen, ich konnte den Text kaum lesen. Schweiß lief mir den Rücken herunter. Meine Hände klebten an den Moderationsblättern, die vor mir auf dem Tisch lagen. Mein Atmen war flach, und das bisschen Luft, das ich irgendwie in meine Lungen einsaugen konnte, drückte auf meine Rippen. Mein Herz raste und in meinem Hirn pochte es: „Du fällst tot um. Jetzt sofort!“

Doch ich fiel nicht um. Ich krallte mich am Tisch fest und schleppte mich mit allerletzter Kraft durch die letzten Sekunden. Danach fühlte ich mich, als wäre ich in Todesangst vor einem angreifenden Raubtier geflohen und gerade noch entkommen: vollkommen fertig, zittrig, schweißgebadet, am Ende meiner Kräfte. Ein Panikmonster hatte mich überfallen, aus dem Nichts, und ich war dem Tod gerade noch mal von der Schippe gesprungen.

„Was war denn mit dir los?“, hörte ich eine verwunderte Stimme über den Knopf im Ohr aus der Regie. „Alles in Ordnung?“

„Ich hatte eine Migräneattacke“, stammelte ich. Mir war klar, dass das keine Migräne-, sondern eine handfeste Panikattacke gewesen war. Aber sollte ich dem Kollegen erzählen: „Du, ich hatte eben Todesangst und dachte, ich bekomme keine Luft mehr und falle einfach um …“ – das erschien mir wenig sinnvoll. Schnell riss ich mir den kleinen Kopfhörer aus dem Ohr und sah zu, dass ich raus aus dem Studio kam. Mir war flau im Magen. Ich hatte Angst, mich übergeben zu müssen. Mit zittrigen Beinen schaffte ich es zur nächsten Toilette. Einen Heulkrampf konnte ich auf dem Weg gerade noch unterdrücken. Wie lange ich auf dem Klodeckel saß und versuchte, wieder einen klaren Gedanken zu fassen und zu mir zu kommen, weiß ich nicht mehr. Ich weiß auch nicht, wie ich es am Abend noch schaffte, die ganze Sendung zu moderieren, und ob ich dabei auch in Panik geraten bin. Ich stand unter Schock. Äußerlich ruhig, innerlich wie gelähmt. Abgerückt von der Welt, wie gefangen unter einer Glasglocke. Ich nahm nichts mehr richtig wahr, versuchte nur noch, den Tag zu überleben. Ich funktionierte einfach.

Was ich zu dem Zeitpunkt nicht wusste: Diese wenigen Minuten waren der Anfang eines gut sechs Jahre andauernden Kampfes gegen Angst- und Panikattacken. Ein Kampf, den ich ganz allein kämpfen würde. Und von dem kaum jemand etwas wissen und on air niemand etwas mitbekommen würde: Ein Kampf, der mich an den Rand meiner Kräfte bringen und der mir alles abverlangen würde.

Liebe Angst, Zeit, dass du gehst

Подняться наверх