Читать книгу Ruhe sanft - Annette Meyers - Страница 10

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Peepsie Cunningham wohnte in einem eleganten alten Gebäude in der Fifth Avenue gegenüber vom Metropolitan Museum.

Ein untersetzter Portier mittleren Alters in grauer Wolluniform, der geschützt vor der Zugluft innen gestanden hatte, trat vor, als er sie kommen sah, und stieß die Tür aus verziertem Glas und Schmiedeeisen auf.

»Guten Tag, Ms. Osborn«, sagte er zuvorkommend, indem er die Hand zur Mütze hob. »Ich melde Mrs. Cunningham, daß Sie auf dem Weg nach oben sind.«

»Danke, Edward.« Hazel stützte sich, erschöpft von dem kurzen Spaziergang, schwer auf Wetzons Arm. »Meine Freundin, Ms. Wetzon.«

Edward nickte Wetzon zu, ging zu dem Schaltbrett an der Wand, steckte einen Stöpsel in einen numerierten Anschluß, nahm ein Telefon ab und wartete.

»Ja. Ms. Osborn und Ms. Whitman sind auf dem Weg.«

Hazel und Wetzon sahen sich an und lächelten. Kein Mensch verstand anscheinend Wetzons Namen beim erstenmal richtig.

»Zu den Aufzügen nach rechts«, sagte Edward wie ein Automat und hatte dann den Anstand, verlegen dreinzuschauen, als Hazel ihm leise dankte.

Zusammen gingen Hazel und Wetzon langsam durch die schöne alte Halle: Marmorböden mit Art-deco-Motiven, große Fensterflächen mit Blick auf einen geometrisch angelegten Garten, der ein wenig an den beim Frick Museum weiter unten an der Fifth Avenue erinnerte. Mehrere große Sträuße von Schnittblumen standen auf kleinen Tischchen aus Messing und Holz neben Lehnstühlen und Sofas. Alles sprach von einer anderen Zeit, von Anmut und Würde und einer stillen, zurückhaltenden Vornehmheit.

Wetzon drückte auf den Aufzugknopf, während Hazel sich auf eine gepolsterte Lederbank davor sinken ließ.

Die Aufzugtür ging auf, und ein älteres Paar, passend in Pelze und schwere Wintersachen gehüllt, stieg aus. Ein schlaksiger junger Mann in der grauen Hausuniform grinste sie aus dem mahagonigetäfelten Aufzug an. »Wie geht es Ihnen heute, Ms. Osborn? Kalt genug für Sie?« Die Frage war, wie diese Wetterfragen meistens, anscheinend rhetorisch, denn er trat beiseite, um sie eintreten zu lassen, ohne eine Antwort abzuwarten. Er drückte »20«, und die Tür schloß sich hinter ihnen.

Die kleine Vorhalle im zwanzigsten Stock hatte ebenfalls einen gemusterten Marmorboden. Leuchtendrote Tapeten mit einem Arabeskenmuster zierten die Wände. Eine alte Lampe aus geätztem Glas mit einem in Blei gefaßten Schirm hing an einer Messingkette von der Decke. Es gab zwei Türen, eine rechts und eine links.

Hazel läutete an der rechten, und als das Echo der Glocke verhallte, hörte sie einen kleinen unterdrückten Schrei. Hinter ihnen klickte etwas leise. Wetzon drehte sich um, aber die andere Tür blieb geschlossen. Vielleicht beobachtete sie jemand durch den Spion. Nichts Besonderes in einer paranoiden Stadt wie New York, überlegte Wetzon, wo sogar die wohlhabenden älteren Menschen Angst hatten.

Die Tür flog auf, und eine Erscheinung sagte: »Hallo, hallo, meine Liebe. Sehen Sie«, sprach sie zu jemandem über die Schulter weiter, »sehen Sie, Ihre Freundin ist hier. Ich habe Ihnen gesagt, daß sie kommt, meine Liebe. Und Sie müssen Ms. Whitman sein. Freut mich, Sie kennenzulernen.« Sie packte Wetzons Hand und schwenkte energisch ihren Arm auf und ab.

»Kommen Sie, ich nehme die Mäntel, es ist so kalt, nicht, und der Wind, was für ein Wind, ts, ts, ts.« Das alles kam in unglaublicher Geschwindigkeit und mit starkem russischem Akzent heraus. Die Sprecherin war eine kleine hühnerbrüstige Frau in weißer Uniform. Eine Masse platinblond gebleichter Locken türmte sich planlos auf ihrem Kopf auf. Sie hatte dichte falsche Wimpern an Lidern, die dick in Schwarz nachgezogen und mit graublauem, goldgesprenkeltem Lidschatten beschichtet waren, leuchtend rot geschminkte Wangen und glänzendrot lackierte Lippen. Schwere goldene Ohrringe baumelten an langgezogenen Ohrläppchen.

Sie hängte ihre Mäntel in den Flurschrank und redete immerzu weiter. »Ich koche uns einen schönen heißen russischen Tee«, kündigte sie an und schwankte in Sandaletten mit Pfennigabsätzen davon.

»Leslie, jetzt dürfen Sie den Mund zumachen«, murmelte Hazel boshaft, wieder mehr wie die alte Hazel. »Das ist Ida.«

»Du meine Güte, Hazel, so was von aufgedonnert.«

»Sie ist Peepsies Privatpflegerin. Gehen wir hinein.«

Wetzon, die Hazel hinterhertrottete, war überwältigt von dem Reichtum, von der goldenen chinesischen Tapete, den alten Ölgemälden in schweren geschnitzten Rahmen, den erlesenen alten englischen Möbeln und dem chinesischen Porzellan. Ein matter alter Läufer lief über den gepflegten Parkettboden. Zwei riesige Urnen standen zu beiden Seiten des weiten Durchgangs.

Peepsie Cunningham war eine sehr wohlhabende Witwe.

Als Wetzon unter dem hohen, breiten Bogen durchging, befand sie sich in einem großzügigen quadratischen Zimmer mit ähnlicher Einrichtung: alte englische Beistelltische, ein Teppich in zartesten Blautönen und Beige und Rosarot, ein hervorragender Chinoiserie-Sekretär, noch mehr Porzellan, ein rosarotes Damastsofa mit dicker Daunenpolsterung. Klubsessel griffen die matten Blautöne des Teppichs auf. Schwere Vorhänge in einem tieferen Rosa verdeckten die Fenster an der gegenüberliegenden Wand, die sicher auf die Fifth Avenue und das Museum gingen.

Hazel hatte sich schon auf das Sofa neben eine winzige puppenhafte Frau gesetzt, die einen Zuchtnerzmantel und einen breitrandigen Nerzhut trug. Sie klammerte sich an Hazels Arm und starrte ängstlich auf Wetzon. »Ist alles in Ordnung, Peepsie«, sagte Hazel liebevoll, »das ist meine Freundin Leslie. Ihr werdet euch bestimmt mögen. Leslie, das ist meine älteste, liebste Freundin, Peepsie Cunningham.«

»Peepsie, Peepsie«, zirpte Peepsie Cunningham, sah Wetzon mit großen Augen an und streckte gehorsam wie ein kleines Mädchen die Hand aus.

Wetzon trat näher, beugte sich hinunter und nahm die winzige Hand.

»Ich habe dich so lange nicht gesehen«, klagte Peepsie Cunnigham, ohne Wetzons Hand loszulassen. Ihre Finger waren eiskalt. »Du schreibst nie. Ich weiß nicht, wo du steckst. Ich bin so allein.« Tränen rannen über die runden Bäckchen und verschwanden im Kragen des Nerzmantels.

»Oje, Leslie, ich glaube, sie hält Sie für Marion, ihre Nichte«, sagte Hazel traurig.

»Marion, setz dich hierher.« Peepsie Cunningham tätschelte die rosa Damastkissen und zog Wetzon mit überraschender Kraft auf das Sofa. »Peepsie«, wandte sie sich an Hazel, »sag Willie, er soll uns Tee bringen.«

»Willie ist nicht mehr bei uns, Liebes«, antwortete Hazel, »Ida bringt uns Tee.« Sie streichelte ihre winzige Freundin an der Schulter. »Warum ziehst du nicht auch deinen Mantel aus? Es ist so warm hier drinnen. Und den Hut.» Peepsie Cunningham folgte brav.

Unter dem Pelzmantel trug Peepsie Cunningham ein dunkelblaues Seidenkleid und eine lange, glänzende Perlenkette. Sie hatte passende Straßenschuhe von Gucci mit goldenen Bügeln an den zierlichen Füßen.

Ohne den großen Hut sah sie noch püppchenhafter aus. Verblichene braune Löckchen umrahmten ihr Kindergesicht mit den großen Augen.

»Marion«, begann Peepsie Cunningham. Ihre Finger kratzten Wetzons Arm. »Ich gab ihr die …«

Sie verstummte, als Ida wieder erschien. Die Frau trug ein großes Silbertablett mit dem Teeservice, Tassen und Untertassen, einen Teller mit Teegebäck, Leinenservietten und Silberlöffel, die laut klirrten.

»So, ihr Lieben, über was für schöne Dinge plaudern die Mädchen heute?« Ida sprach mit plumper Vertraulichkeit, als sie das Tablett auf dem runden Teetisch beim Sofa abstellte. »Wie möchten Sie den Tee, Ms. Whitman?«

»Pur.«

»Und Sie mit Zucker und Zitrone«, sagte Ida zu Hazel, ohne sie anzusehen. »Und wir wissen, daß wir ihn mit Milch und Honig mögen, ja, meine Liebe«, sagte Ida zu Peepsie Cunningham, die mit einem listigen Lächeln zu ihr aufschaute. Ida reichte ihnen die Tassen, goß dann eine für sich ein, gab reichlich Honig und Milch dazu und machte es sich auf einem Klubsessel bequem. Mit einem lauten Seufzer schüttelte sie die Schuhe ab, zog die Füße hoch und setzte sich darauf.

Hazel zog die linke dunkle Braue fast bis zum Rand ihres burgunderroten Filzhutes hoch, den sie nicht abgesetzt hatte, wie Wetzon jetzt plötzlich auffiel. Jede Strähne von Hazels schneeweißem Haar war unter den Hut gesteckt. Auf einmal bekam sie Angst. Es war nicht Arthritis, was an Hazels Kräften zehrte. Der Krebs hatte sich zurückgemeldet.

Wetzon wurde von einem klirrenden Geräusch aus ihren Gedanken gerissen. Peepsie Cunninghams Arm war noch in die Luft gestreckt. Sie hatte ihren Löffel durch das Zimmer geschleudert. Hazel wirkte schockiert.

»Aber, aber, was für ein ungezogenes Mädchen wir sind«, schalt Ida und drohte Peepsie mit einem Finger. Sie stand widerwillig auf und schob die Füße in die Schuhe. »Ich hole einen frischen. Ts, ts, ts.«

Fasziniert starrten sie auf Idas schaukelnden Gang in den hochhackigen Schuhen, auf ihr vorstehendes Hinterteil, das in die enge weiße Uniform gezwängt war.

»So schlau, so schlau«, sagte Peepsie Cunningham gehässig. Sie nahm einen großen Schluck Tee und wandte sich flehend an Hazel. »Ich kann sie nicht finden. Ich habe sie nach Hause gebracht und kann sie nicht finden. Bitte, Peepsie, hilf mir.«

Hazel beugte sich vor. »Was kannst du nicht finden?«

»Du weißt schon«, antwortete Peepsie Cunningham. »Sag es Marion.« Sie wandte sich um und starrte Wetzon an. Ihre Stimme wurde laut vor Schreck. »Wer sind Sie? Was machen Sie in meinem Haus?«

Hazel sah Wetzon entschuldigend an. Peepsie Cunningham kicherte und stieß mit der Teetasse nach Hazel.

»Möchte jetzt schlafen, Peepsie, Peepsie, Peepsie«, sang sie und gähnte breit. Sie schien Mühe zu haben, die Augen offenzuhalten.

»Zeit, daß wir ein Schläfchen machen, Liebe.« Ida war wieder da.

»Dann gehen wir wohl besser.« Man hörte Hazel an, daß sie ungern ging.

Sie und Wetzon erhoben sich und sahen mit einem unguten Gefühl zu, wie Ida Peepsie Cunningham in die Arme nahm und aus dem Zimmer trug.

Wie ein Sack mit Wäsche, dachte Wetzon.

»Sie finden allein hinaus, ja?« sagte Ida, ohne sich nach ihnen umzudrehen.

Schweigend wappneten sie sich gegen die Kälte. In der kleinen roten Vorhalle sagte Hazel: »Sehen Sie, warum ich mir solche Sorgen mache?«

»Ja. Ist diese panische Angst ein Symptom für Alzheimer?«

»Ich weiß nicht. Aber sie hat schreckliche Angst, finden Sie nicht?«

»Das steht fest. Kann ihre Nichte nicht kommen und sich um sie kümmern?«

»Peepsie weiß anscheinend nicht, wohin sie Marions letzten Brief gelegt hat. Und ich erinnere mich nicht, wie sie jetzt heißt.«

»Es tut mir so leid, Hazel. Mein Gott, dieser ganze Reichtum, und dann ist alles so traurig.«

Der Aufzug brachte sie wieder in die Halle.

»Taxi, die Damen?« fragte Edward.

»Ja, bitte«, sagte Hazel. Sie sah Wetzon an, die den Kopf schüttelte.

»Ich gehe hoch zur 86. Street und fahre mit dem Bus rüber.«

Sie standen hinter der Eingangstür, lauschten dem Wind, beobachteten Fußgänger, die gegen die ekelhaften Böen ankämpften, in Mäntel, Hüte und dicke Schals gepackt, vorgebeugt vor Anstrengung. Es war kein Tag zum Bummeln. Sogar die Stufen vor dem Metropolitan Museum, auf denen normalerweise massig Leute saßen und sich unterhielten, waren verlassen.

Edward hielt seine Mütze fest, tanzte auf dem Bürgersteig draußen und versuchte, ein Taxi herbeizuwinken. Abfall, Schnipsel und Seiten von Zeitungen, Zweige von Bäumen und Büschen wirbelten hilflos im Wind. Ein großer dunkler Gegenstand flog an der Tür vorbei, scheinbar von hoch oben hergeweht. Edward blieb stehen und warf sich herum. Seine Hand schoß vor, zuckte zurück und bedeckte die Augen. Einen Augenblick lang schien er wie starr, dann drehte er sich um und rannte auf Hazel und Wetzon zu. Ein Schwall kalter Luft traf sie, als er die Tür aufstieß.

»Jesus, Maria«, schrie er, »es ist Mrs. Cunningham!« Er rannte mit aschfahlem Gesicht vorbei. »Jesus, Maria.« Schwer atmend griff er nach dem Hörer und tippte drei Ziffern. »Kommen Sie sofort, kommen Sie sofort in die Fifth Avenue 999. Eine Mieterin hat sich gerade heruntergestürzt.«

Ruhe sanft

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