Читать книгу Ruhe sanft - Annette Meyers - Страница 9

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Als sie sich kennenlernten, arbeitete Hazel Osborn ehrenamtlich im Museum für amerikanische Volkskunst. Wetzon war damals noch Tänzerin und besserte ihr Einkommen auf, indem sie Kissen aus alten Stoffresten und Steppdecken für den Museumsladen nähte. Eines Tages, als Wetzon vorbeigekommen war, um einen neuen Stapel abzuliefern, hatte Hazel im Laden bedient. Sie waren ins Gespräch gekommen und hatten kein Ende mehr gefunden. Hazel war wie eine Ersatzmutter, die einen verstand, liebte und akzeptierte, wie man war, ohne das übliche psychologische Wechselspiel zwischen Mutter und Tochter.

»Ich bin Freiwillige von Beruf«, hatte sie sich charakterisiert. Sie verbrachte einen Tag in der Woche im Museumsladen, drei Vormittage als Hilfslehrerin an einer Grundschule in Spanish Harlem und einen Tag bei einer Organisation, die Kinder mit Musik vertraut machte.

Sie war pensionierte Sozialforscherin, Dr. phil., war auf Kinderpsychologie spezialisiert und hatte in Chicago bei Bruno Bettelheim studiert. »Mein Mentor«, nannte sie ihn ehrfürchtig. Sie war nach New York gekommen, um an der Columbia zu lehren, und hatte in den Jahren vor ihrer Pensionierung bei einem großen sozialen Hilfswerk mit benachteiligten Kindern gearbeitet.

Kurz bevor sie sich im Volkskunstmuseum kennenlernten, hatte Hazel wegen einer Brustamputation eine Weile kürzertreten müssen, aber sie hatte sich nicht lange bremsen lassen. Sie ging jetzt auf die Siebzig zu, und Wetzon liebte ihren Schwung und ihr Engagement. Und ihre Neugier.

»Sie hält mich jung«, behauptete Hazel. »Wie Woody Allen. Und wie Sie«, hatte sie gesagt, als Wetzon sie zum letztenmal besucht hatte. »Sie müssen immer junge Freunde haben, Leslie. Die hindern Sie daran, sich zu ernst zu nehmen.«

Wetzon stieg an der 72. Street aus dem Bus und ging über die Straße zum San Ambroeus. Sie und Hazel liebten das Café, obwohl es sündhaft teuer war. Es war reine Verschwendung, aber es war ein schönes Gefühl, sich mal etwas Besonderes zu gönnen.

Sie lief schneller, als sie Hazels Silhouette in dem alten Sealmantel durch die beschlagenen Scheiben des Cafés erkannte. Wetzon blickte argwöhnisch – irgend etwas war jedenfalls … komisch. Sie stieß die Tür auf, und Hazel drehte sich um. Unwillkürlich hielt Wetzon den Atem an. Hazels Gesicht war kreidebleich und spitz unter dem burgunderroten Filzhut mit der kessen Feder. Als sie Wetzon sah, lächelte sie, ein Schatten ihres alten Lächelns, und kam langsam auf sie zu. Da sah Wetzon den Stock.

»He, was ist das?« Wetzon beugte sich hinunter und umarmte Hazel, die plötzlich so zerbrechlich, sogar klein wirkte. Eine alte Frau. Wie konnte sich jemand in so kurzer Zeit so sehr verändern? Wetzon tadelte sich insgeheim, daß sie sich nicht mehr um sie gekümmert hatte. »Hoffentlich haben Sie nicht lange gewartet«, sagte sie, den Arm noch um Hazels schmale Schultern.

»Nein, bin gerade vor einer Minute gekommen, und das«, sie zeigte mit einer behandschuhten Hand auf den Stock, »das ist bloß ein kleiner Anfall von Arthritis. Sie sehen wunderbar aus, wie immer, Leslie, und ich bin ausgehungert.«

Sie ging mit mühsamen Schritten und stützte sich schwer auf den Stock. Wetzon folgte ihr grübelnd. Hazel hatte bestimmt in der ganzen Zeit, die sie sich nun kannten, nie etwas von Arthritis gesagt.

Sie bestellten Käserisotto und Tremezzini: Schinken, Mozzarella und Tomaten auf kleinen italienischen Broten. Wetzon nippte an dem heißen Kaffee und setzte die Tasse ab. »Also dann, ich höre. Was ist los?«

»Nichts, überhaupt nichts«, sagte Hazel, »außer daß ich bei dem kleinen Emilio einen großen Schritt weiter bin. Er fängt gerade an, für sich zu lesen. Aber erzählen Sie mir lieber, wie es bei Ihnen geht. Sie haben ein viel aufregenderes Leben. Bringen Sie mich auf den neuesten Stand.« Ihr Blick sagte: Ich sage Ihnen, wann ich bereit bin – und keine Minute früher.

»Sie sind die widerspenstigste …«

»Sagen Sie nicht alte Dame, weil …«

»Okay, Sie haben gewonnen. Wie Sie wünschen.« Wetzon brach ein Stück von der knusprigen Brotstange ab und strich Butter darauf. »Ich bin auch hungrig. Dieses Wetter …«

»Wie geht es Carlos?« unterbrach Hazel, gerade als ihr Essen kam. Sie fand Wetzons besten Freund sehr sympathisch. Als Wetzon Hazel zum letztenmal gesehen hatte, waren sie zum Abendessen in Carlos’ großer Dachwohnung im West Village eingeladen gewesen. Er hatte eine Bouillabaisse gekocht und eine herrliche Schokoladentorte gebacken, und sie hatten drei Flaschen Wein weggeputzt. Carlos hatte ihnen reichlich allerneusten Theaterklatsch aufgetischt, Wetzon hatte ihre letzten Maklergeschichten zum besten gegeben, und Hazel hatte wieder einmal die Peepsie-Geschichten erzählt, die keinen erkennbaren Sinn hatten, aber so lustig waren, daß alle drei vor Kichern und Lachen nicht mehr konnten.

»Er ist sehr beschäftigt mit dem neuen Musical. Wir telefonieren, aber ich habe ihn seit ein paar Wochen nicht mehr gesehen.«

Sie aßen ungewohnt schweigsam und bestellten zum Nachtisch Schokoladensoufflés.

»Ich mache mir Sorgen wegen Peepsie Cunningham, Leslie«, begann Hazel unvermittelt, ohne Einleitung.

Als junges Mädchen in Cleveland hatte Hazel es sich in den Kopf gesetzt, daß sie auf ein College im Osten gehen würde, und mit sechzehn war sie am Connecticut College für Frauen angenommen worden. Die Peepsies waren die Mädchen, mit denen sie zusammengewohnt hatte, sechs waren es mit ihr. Wie aus ihnen die Peepsies geworden waren, war eine verworrene Geschichte, und Hazel mußte beim Erzählen immer so sehr lachen, daß sie es nie bis zum Ende schaffte. Hazel war Peepsie Osborn für die anderen Peepsies. Jedenfalls waren beim letzten Erzählen noch vier Peepsies übrig: Peepsie Cunningham, eine wohlhabende Witwe, die in der oberen Fifth Avenue wohnte, Peepsie Webber, die mit ihrem Mann in einer Seniorensiedlung in Hartford lebte, Peepsie Kennedy, die immer noch die eigene PR-Firma in D.C. leitete, und Peepsie Osborn, Hazel also, die jede über die anderen auf dem laufenden hielt.

»Warum?« fragte Wetzon, die Soufflé im Mund hatte und die Schokolade genießerisch zergehen ließ. Sie hatte dunkle Schokolade viel lieber, denn der Anblick war der halbe Geschmack, und es war irgendwie eigenartig, wenn etwas wie satte, dunkle, bittersüße Schokolade schmeckte, aber gebrochen weiß und gesprenkelt wie die Schale eines Vogeleis aussah.

Die Espressomaschine gab ein lautes asthmatisches Kreischen von sich. Ein Mädchen und ein junger Mann in der Uniform einer Militärakademie setzten sich an den Nebentisch und fingen an, mit einem gehässigen Unterton zu streiten.

»Sie ist so geistesabwesend geworden.« Hazels klare blaue Augen verrieten tiefe Sorge. »Sie erinnert sich nicht, wo sie etwas hingelegt hat. Sie wußte nicht einmal, wer ich bin, als ich gestern dort war. Wenigstens nicht genau. Sie war sehr verschreckt. Ich glaube, sie kannte mich, aber sie erkannte mich nicht. Meine Güte.« Sie tätschelte nervös den burgunderroten Hut. »Ich rede wohl ziemlichen Unsinn.«

»Hat sie Alzheimer?« fragte Wetzon leise.

»Ja, ich glaube, aber es scheint so schnell schlimmer zu werden.« Hazels Finger trommelten nervös auf den Tisch. »Sie hatten keine Kinder, wissen Sie. Sie hat eine Nichte, ein nettes Ding … Ich habe sie seit Jahren nicht gesehen … lebt irgendwo in Europa … mit einem Diplomaten verheiratet, glaube ich. Es ist Jahre her …« Hazel war durcheinander und aufgewühlt. Das paßte überhaupt nicht zu ihr.

»Wohnt Peepsie Cunningham allein?«

»Ja – nein – eigentlich nicht. Sie hat eine Frau, ganz anständig, glaube ich, die täglich kommt, sie badet, anzieht und für sie kocht. Diese Sachen eben.« Sie legte die Gabel hin und wischte mit der Leinenserviette die Lippen ab. »Wir gingen früher oft zum Lunch aus oder ins Kino … mit unseren Seniorenpässen. Das haben wir wirklich gern gemacht. Ich weiß noch, wie wir in Tootsie waren. Haben wir uns amüsiert.« Sie brach ab. Die Espressomaschine holte tief Luft und zischte heiser.

»Wir mußten es aufgeben. Sie wußte dann nicht mehr, wo wir waren. Einmal wollte sie den Kellner nicht den leeren Teller abtragen lassen. Sie machte eine gräßliche Szene.« Hazel hatte Tränen in den Augen, und sie kramte in ihrer Tasche nach einem Taschentuch.

»Ach, Hazel, wie mir das leid tut«, sagte Wetzon. Wenn man junge Freunde hat, sagte Hazel immer, braucht man sie nicht verfallen und sterben zu sehen. Sie fröstelte.

»Leslie, tun Sie mir bitte einen Gefallen.« Hazel machte eine Pause, und für einen flüchtigen Augenblick zeigte sich ein schuldbewußter Ausdruck auf ihrem Gesicht. Sie begann, die Serviette zwischen den Fingern zu zerknittern. »Ach nein, lieber nicht. Ich will auf keinen Fall jemand hineinziehen …«

»Doch, bitte, Hazel, fragen Sie nur. Wie kann ich helfen? Ich möchte helfen. Ich bin Ihre Freundin.«

Hazel sah sie scharf an und seufzte leise. »Na gut. Könnten Sie jetzt mit mir rüber zu Peepsie gehen? Es fällt mir ein bißchen schwer …« Sie zeigte auf den Stock, der hinter ihrem Stuhl an der Wand lehnte.

Sie teilten sich die Rechnung und traten, warm eingepackt, auf den Bürgersteig hinaus in den arktischen Wind.

Wetzon schaute nach oben auf die dunkel umrandeten, bedrohlichen Wolken, die über den Himmel jagten, und schnupperte. »Ich wette, daß wir Schnee bekommen.«

»Beschwören Sie es bitte nicht, Leslie .«

Hazel wirkte so ängstlich, so traurig. Was war aus Wetzons schwungvoller junger Freundin geworden? Jetzt mußte sie langsamer gehen, um sich an Hazels unbeholfenen Gang, den schlurfenden Schritt einer alten Frau, anzupassen.

»Was ist Peepsie Cunninghams Adresse?« fragte Wetzon munter und hakte sich bei Hazel unter.

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