Читать книгу Ruhe sanft - Annette Meyers - Страница 6

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Der Mann auf Sofa blutete. Dicke rote Tropfen quollen aus seinen Nasenlöchern und liefen in den grauen Schnurrbart.

Im ersten Augenblick des Schocks rührte sich niemand. Nicht einmal das Opfer.

»Um Gottes willen!« Die überforderte junge Frau an der Anmeldung ließ den Telefonhörer fallen und sprang auf. »Mr. Mitosky! Sir!« Sie stürzte aus dem Zimmer, wobei sie überflüssigerweise rief: »Warten Sie, bin gleich wieder da.« Durch einen geräumigen Korridor lief sie weg. Es blieb der Eindruck eines zu eleganten Kostüms mit zu kurzem Rock.

Wetzon, die an der Anmeldung gestanden und auf das Kuvert gewartet hatte, das von Bobby Kohn für sie hinterlegt worden war, zerrte ein Päckchen Kleenex aus der Handtasche und zog ein paar Tücher heraus. »Hier, bitte, lassen Sie mich Ihnen helfen.«

»Ist nicht nötig, bitte, keine Sorge, bitte. Passiert mir dauernd.« Der Mann sprach mit russisch klingendem Akzent, während immer noch dunkelrotes Blut aus seiner Nase tropfte, über den gezwirbelten Schnurrbart auf das Kinn und weiter auf das weiße Hemd und die Revers des braunen Tweedanzugs. Er preßte die angebotenen Taschentücher an die Nase und versuchte aufzustehen. Seine Augen hinter der starken Brille waren verschwommen. Ein brauner Filzhut mit einer feschen Feder im Band lag neben ihm auf dem Sofa. Ein Spazierstock stand schräg an der Lehne.

»Bitte, Mr. … äh … Mr. Mitosky. Sie sollten besser den Kopf in den Nacken legen.«

Die Empfangsdame kam mit einem Stapel nasser Papierhandtücher und einem Plastikbeutel voller Eiswürfel zurück, aber inzwischen hatte der Blutstrom erheblich nachgelassen, nachdem der Mann den Kopf nach hinten geneigt hatte.

In diesem Augenblick bemerkte Wetzon, daß sein Make-up nur bis zum Kinn aufgetragen war, weshalb sein Hals Nuancen heller war als das ungesunde Grau seines Gesichts. Sie stutzte mitten in dem Gedanken. Make-up?

»Soll ich einen Arzt kommen lassen?« Die Empfangsdame hielt ihm die nassen Papierhandtücher hin. Ihr Gesicht drückte echte Besorgnis aus.

»Nein, nein. Bitte.« Seine schmalen Hände zitterten ein wenig, als er sich mit den nassen Tüchern abtupfte.

Zwei flotte junge Männer, die in den dunklen Nadelstreifenanzügen aussahen, als wären sie soeben aus einer Paul-Stuart-Anzeige herausgetreten, kamen aus dem breiten, dezent beleuchteten Korridor auf sie zu.

»Ich habe also zu ihm gesagt, so, es gefällt Ihnen nicht, was ich mit Ihrem verdammten Konto anstelle? Sie glauben, Sie werden von diesem Typ bei Bache besser bedient? Bitte, dann tun Sie mir doch den Gefallen und gehen zu ihm. Du hättest hören sollen, wie der aufgeschrien und gebettelt hat, daß ich ihn behalte … Ich habe gesagt, stecken Sie sich …«

»Undankbares Pack. Die sind alle gleich. Da machst du Geld für sie, und wenn du einmal verlierst, vergessen sie plötzlich, wieviel du für sie gescheffelt hast. Hast du die Börsenberichte über Eastern Norfolk gesehen?«

»Hm, sieht aus, als ob das Management irgendwas vorhat …«

»Jerry hat einen Kumpel, der jemand kennt, dessen Schwester was mit einem bei Wasserella hat. Angeblich wollen sie sich die Sache mal ansehen.«

Sie gingen ohne Neugier und kommentarlos an der Szene im Empfangsbereich vorbei und durch die Glasschwingtür auf die Fahrstühle zu.

Wetzon schlenderte über den weichen blaßblauen, mit cremefarbenen Lilien gemusterten Teppich zu den großen Fenstern, die einen Blick auf den New Yorker Hafen boten. Rechterhand strahlte die Freiheitsstatue auf ihrem Sockel Ruhe und heitere Schönheit aus, links lag die Wall Street, hektisches Finanzzentrum der Welt.

Warum trug der Mann Make-up, um sich ein älteres Aussehen zu geben? Denn genau das war es, was die graue Mischung bewirkte. Wetzon kannte das noch gut aus ihrer Zeit als Gruppentänzerin am Theater. Heute wollte doch jeder unbedingt jünger aussehen. Mitoskys Hände gehörten zu einem viel jüngeren Mann, und er trug einen falschen Schnurrbart.

Die Telefonanlage summte, und die Empfangsdame hob ab. »Ja?« Sie hörte einen Augenblick zu und legte wieder auf. »Mr. Mitosky, Sir, der Kassierer hat jetzt Zeit für Sie. Kann ich noch etwas für Sie tun? Es ist der erste Schreibtisch links.«

Mr. Mitosky setzte den Filzhut auf den Kopf, griff nach dem Stock und stand auf. Er schien das Nasenbluten gut überstanden zu haben, als er steif über den Flur humpelte.

Auf dem Sofa, wo er gesessen hatte, lag ein zerknüllter Briefumschlag. Wetzon hob ihn auf und strich ihn glatt. Er war aufgerissen und leer. Die Rückadresse war Bradley, Elsworth Securities, in deren Empfangsbereich sie stand. Der Umschlag war an Dr. Maxwell Mitosky, 601 East 72. Street, New York, New York 10021, adressiert. Wetzon legte ihn auf den Schreibtisch, und die Empfangsdame, die gerade am Telefon sprach, nickte ihr zu.

Ein Mädchen in einem grünen Hemdblusenkleid aus Wildleder kam mit einem großen braunen Umschlag in der Hand in hochhackigen Schuhen über den Flur geklappert. »Ms. Watson? Mr. Kohn sagte, Sie möchten ihn anrufen, wenn Sie den Bericht gelesen haben. Dann informiert er Sie über die Zahlen.«

Wetzon lächelte und nahm den Umschlag, der das Verzeichnis der Börsenmakler in Bobby Kohns Büro enthielt. »Vielen Dank.« Sie verstaute den braunen Umschlag in der Aktentasche. »Sagen Sie ihm, daß ich es schnell lese und mich dann bei ihm melde.« Er hatte ihr versprochen, neben jeden Namen auf der Liste Bemerkungen zu schreiben, der Gute.

Sie zwängte sich in den Aufzug zu den Leuten, die zum Mittagessen fuhren, und stieg in der schwarzen Marmorhalle aus. Die meisten Büroangestellten und ziemlich viele Direktoren nahmen die Rolltreppe ins Untergeschoß, wo eine Cafeteria alles von Salaten, Hamburgern und Pizzen bis zu den feinsten Delikatessen und frischem Fisch anbot. Für jeden etwas.

Nur die Wertpapierhändler und die meisten Verkäufer aßen an ihren Schreibtischen. Da der Wertpapierhandel weltweit abgewickelt wurde, waren die Mittagspausen praktisch verschwunden. Die meisten Firmen waren sogar so weit gegangen, daß sie ihren Händlern gratis einen Gourmetimbiß liefern ließen, um sie an den Schreibtischen und Telefonen zu halten. Ein verpaßter richtiger Augenblick konnte für die Firma ein Minus von Millionen bedeuten. »Händlerfütterungsprogramm« wurde es genannt, Wetzon mußte dabei immer an Tiere im Zoo denken.

Sie blieb am Zeitungsstand stehen, um die Schlagzeile in der Post zu lesen: BUSH TREIBT STEUERN IN DIE HÖHE. Soviel zu Wahlversprechen. Sie ging durch die Drehtür hinaus auf die grauen Marmorstufen, die auf die Wall Street führten.

»Hallo, Donna Rhodes.« Sie erkannte die Frau, die eben in die Drehtür treten wollte, durch die Wetzon gerade herausgekommen war.

»Wetzon! Tag.« Donnas männliche Züge schmolzen zu einem Lächeln.

Donna Rhodes arbeitete bei einer kleinen Regionalfirma, die auf Kommunalobligationen spezialisiert war, obwohl Makler zur Zeit dank der neuen Steuergesetze nicht genug steuerfreie Papiere bekommen konnten, um die Aufträge von ungeduldigen Kunden auszuführen, die bei steuerfreien Dividenden anlegen wollen. Nicht einmal bei Merrill und Shearson mit ihren legendären Anleihebeständen.

»Wie geht es Ihnen? Wie läuft das Geschäft?« Wetzon trat beiseite, um dem Fußgängerstrom auszuweichen, und Donna folgte ihr.

»Na ja, okay, denke ich.« Die hellgelb getönte randlose Brille färbte ihre normalerweise bläßliche Haut golden im herbstlichen Sonnenschein, aber ihre Mundwinkel zeigten nach unten. Sie trug ihr volles braunes Haar kurz und hinter die Ohren gekämmt und an den Ohrläppchen Paloma Picassos silberne »Scribbles«.

»Kommen Sie, was ist los?«

»Was soll schon los sein? Ausgebrannt. Gelangweilt. Am Markt tut sich nichts. Nichts zu verkaufen. Ich überlege, ob ich nicht aus dem Verkauf aussteigen soll, ob ich vielleicht Portefeuillemanagerin oder so was werden soll … bei einer Bank …«

Wetzon berührte das weiche, glänzende Leder von Donnas schwarzem Mantel. »Unterhalten wir uns bei einer Tasse Kaffee darüber. Ich kann’s nicht glauben, daß ich das von einer höre, die mir nach dem Crash sagte, daß sie das Geschäft liebt und nie davon lassen wird.«

»Jetzt geht es nicht, Wetzon. Ich habe einen Termin mit einem Rentenkunden, aber ich rufe Sie an.«

»Sie müssen mir versprechen, daß Sie nichts Voreiliges tun, bevor Sie mit mir gesprochen haben.«

Donna lächelte und nickte. »Versprochen.« Sie winkte Wetzon zu und wollte gerade durch die Drehtür hineingehen, als die Tür sich heftig drehte und ein Mann in braunem Tweedanzug herausstürzte, überglücklich die Treppe hinuntersprang, zwei Stufen auf einmal, und im Laufschritt den Bürgersteig erreichte.

Donna lächelte verwundert und winkte Wetzon noch einmal zu. Wetzon winkte zurück, dann folgte sie langsam dem Mann auf die Straße und beobachtete, wie er wie ein Mittelstürmer Haken um die Leute schlug. Er hatte einen Schirm unter dem Arm stecken, den er plötzlich an der Ecke Water und Wall Street in einen Abfalleimer warf.

Aber es war gar kein Schirm, es war ein Spazierstock.

Ruhe sanft

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