Читать книгу Ruhe sanft - Annette Meyers - Страница 8

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Es war bitterkalt. Wetzon zog den Kragen des schwarzen Alpakamantels um den Hals hoch und band den Schal mit dem Leopardenmuster fester. Die große lavendelfarbene Baskenmütze rutschte über die Stirn, daß sie fast die Augen bedeckte. Wetzon schob sie hoch und atmete tief ein, mit dem Zwerchfell, wie sie es als Tänzerin gelernt hatte, dann stieß sie die Luft aus und erzeugte eine weiße Fahne.

Es erinnerte sie immer an eine Kurzgeschichte, die sie in der Highschool gelesen hatte, von den Forschern am Nordpol, deren Atem die Worte, die sie sprachen, in die Luft schrieb. Die Stille hatte etwas für sich, dachte sie, als sie sich vorstellte, wie es wäre, wenn man nur noch lautlos Worte in der Luft bildete.

»Wunderschön«, stieß sie laut aus und erschrak ein wenig über den Klang der eigenen Stimme. »Wetzon, du träumst«, schalt sie sich, gab sich einen Ruck und marschierte über die Second Avenue. Sie wollte zur Madison gehen und dort mit dem Bus hochfahren. Ein guter flotter Spaziergang war Balsam für die Seele. Das redest du dir ständig ein, dachte sie. Vier und eine halbe Straße für die Seele, vielleicht fast eine Meile, und außerdem verbrauchte sie dabei eine anständige Menge Kalorien.

Der Wind fegte die Third Avenue hoch, wo die neuen, gewaltigen Gebäude alle ein gutes Stück auf den Bürgersteig zurückgesetzt waren, was kräftige Windkanäle geschaffen hatte. Die liebe schäbige Lexington Avenue mit ihren alten niedrigen Bürogebäuden und verwahrlosten Sandsteinhäusern war eine willkommene Atempause von dem schneidenden Wind. Eine starke Bö riß ihr beinahe die Füße weg, als sie die Park Avenue überquerte, die wie die Third nur aus großen Geschäftshäusern bestand.

Sie bog rechts in die Madison ein und ging auf die Bushaltestelle an der 50. Street zu. Ein stämmiger bärtiger Mann stand da, der einen Dufflecoat und eine braune Pelzmütze mit Ohrenklappen trug. In der einen Hand hielt er ein Pappschild mit der Aufschrift Ich habe Hunger und in der anderen einen Pappbecher. Er verwandte viel Energie darauf, die Passanten, die ihn übersahen, auf sich aufmerksam zu machen. Gedankenlos stellte Wetzon Blickkontakt zu ihm her und bereute es sofort. Das machte man einfach nicht bei den Spinnern in New York, wenn man schlau war.

»Bitte.« Der junge Mann trat einen Schritt vor und hielt seinen Becher hin. »Geben Sie mir etwas, damit ich Essen kaufen kann.« Er machte eine dramatische Vorstellung daraus, charmant und mitleidheischend.

Wenn er nur diese ganze Energie in einen Job stecken würde … oder vielleicht war er Börsenmakler gewesen, der seine Lizenz wegen unerlaubter Geschäfte verloren hatte. Sie lächelte bei dem Gedanken.

»Bitte, bitte«, sagte er singend, als sie an ihm vorbeiging.

Er sprach gut – zu gut, um an Straßenecken zu betteln.

»Ein bißchen Zucker dazu« schmeichelte er und schüttelte die wenigen Münzen im Becher. Er hatte etwas zu Berechnendes an sich.

Such dir einen Job, du Schnorrer, dachte sie und ging weiter.

»Reiche Schlampe!« schrie er ihr nach. »Reiche Schlampe, reiche Schlampe!« Als ob er Gedanken lesen könnte.

Verdammt, dachte sie. Es war ihr peinlich, daß sich Köpfe nach ihr umdrehten. Es war wieder wie in dieser Kurzgeschichte. Sie dachte etwas, und es war laut zu hören.

Als sie noch Tänzerin am Broadway gewesen war, hatte sie einmal unter einem Regisseur gearbeitet, der ihr vorgeworfen hatte, ihre eigene Meinung einzubringen. »Es steht Ihnen ins Gesicht geschrieben«, hatte Morton Hornberg sie angeschrien. Während der Proben hatte sie nach ihrer Nummer an der Bühnenseite gestanden und ihn beobachtet, wie er eine Szene mit den Hauptdarstellern einstudierte. Es war faszinierend, Hornberg zuzusehen. Der Regisseur hatte eine romantische Phantasie und eine gewisse Überspanntheit, und die Kombination war entweder wunderschön und sensibel oder aber grauenhaft. Sein Problem war, daß er den Unterschied nicht kannte. Wetzon kannte ihn und andere auch, aber alle hatten Angst, es ihm zu sagen.

Seine Kritik hatte sie verlegen gemacht und gedemütigt. Sie war danach nicht mehr früher gekommen und länger geblieben, sondern hatte nur noch die eigenen Proben absolviert. Ein paar Tage später hatte Hornberg Blumen geschickt und sie eingeladen, sich zu ihm zu setzen, wenn sie nicht gerade ihre Auftritte probte. Sie mußte lächeln, als sie daran dachte. Das war vor Jahren gewesen, und heute war Morty ein Starregisseur. Sie fragte sich, wer jetzt bei ihm saß. Wetzon, du bist ungezogen, dachte sie und schüttelte den Kopf.

Sie erwischte einen Vierer und setzte sich auf einen der freien Plätze im hinteren Teil. Es war Viertel nach zwölf.

Sie saß ein paar Minuten still und ließ die Gedanken schweifen, dann zog sie ihre halbgelesene New York Times aus der Einkaufstasche, faltete sie auf und überflog rasch die Nachrichtenspalten. Auf der Seite mit den Nachrufen sah sie eine kleine Notiz, daß Jimmy Bronson, ein Inspizient, den sie von früher kannte, in Kalifornien an einem Herzinfarkt gestorben war. Im Alter von vierundsechzig Jahren. Er hatte vor Jahren beim Theater aufgehört und eine erfolgreiche Hauswartungsfirma für die Besitzer von Wochenend- und Sommerhäusern in den Hamptons aufgemacht. In dem Artikel hieß es, er habe vorgehabt, ein Tourneetheater mit Anateuka zu begleiten. Na ja, allein der Gedanke daran dürfte genügt haben, ihn umzubringen. Es war traurig. Sie fragte sich, was ihn zu dem Versuch veranlaßt haben mochte, in den alten Beruf zurückzukehren. Vielleicht fühlte er sich alt und einsam und wollte wiederfinden, was er an Kameradschaft bei den – mein Gott, warum hatte sie solche morbiden Gedanken?

Als sie die Zeitung wieder in die Tasche stecken wollte, fiel ihr Blick auf einen anderen Nachruf direkt über Jimmys. Die Überschrift lautete:

Maxwell Mitosky, 78, Volkswirt i. R.

Der Name ließ sie stutzen. Mitosky … Mitosky. Seltsamer Name, aber sie war sicher, daß sie ihn schon einmal gesehen oder gehört hatte. Sie schloß die Augen und hörte: »Mr. Mitosky, Sir, der Kassierer hat jetzt Zeit für Sie.«

Sie schlug die Augen auf. Vor Wochen. Der Mann bei Bradley, Elsworth … der mit dem schlimmen Nasenbluten … der mit dem Make-up.

Sie zog die Zeitung aus der Tasche und las den Nachruf. Mitosky war in London geboren, Examen in Oxford, weitere akademische Grade an der London School of Economics. Emeritierter Professor … New York University. Hatte die letzten dreißig Jahre unter der Adresse 601 East 72. Street gewohnt. Keine Hinterbliebenen.

Es konnte nicht derselbe Mann sein, weil dieser Mann – falls er überhaupt einen Akzent hatte … Nein, er konnte keinesfalls so einen starken russischen Akzent imitiert haben. Höchst eigenartig.

Sie packte die Zeitung wieder in die Einkaufstasche, lehnte sich zurück und dachte daran, daß der Russe Maxwell Mitosky aus dem Haus gerannt war, wie es kein achtundsiebzigjähriger Mann fertigbrachte, und seinen Spazierstock in einen Mülleimer geworfen hatte.

Ruhe sanft

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