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BEDÜRFNISSE ERKENNEN, FREIRÄUME SCHENKEN

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Der Dämon ist also keine äußere Macht, die die Tochter im Griff hat. Er ist vielmehr innere Verwirrung und Verwicklung zwischen Mutter und Tochter. Beide sehen sich selbst nicht richtig. Der trübe Geist hindert sie daran, sich gegenseitig so zu sehen, wie sie in Wirklichkeit sind.

Man könnte die Geschichte auch noch anders deuten: Die Tochter ist nicht krank. Sie ist scheinbar vom Dämon besetzt, weil die Mutter sie nicht richtig wahrnimmt. Diese Erfahrungen machen manche Mütter pubertierender Töchter.

Eine Mutter erzählte mir, ihre 15-jährige Tochter bringe sie oft zur Weißglut. Sie mache nur das, was ihr gefiele. In ihrer Wut fuhr die Mutter ihr Kind an: »Du erfüllst nur deine eigenen Wünsche. Ich würde auch mal gerne freinehmen. Aber ich bin immer nur für euch da.« Die Tochter antwortete darauf ruhig: »Mach’s halt. Geh doch ins Museum. Ich koche für dich.« Die Mutter erfüllte sich den Wunsch und als sie zurückkam, war die ganze Familie zufrieden. Die Tochter hatte gut gekocht, sogar alles nachher aufgeräumt. Da erkannte die Mutter: Das Kind ist nicht krank, es lebt nur meine Schattenseiten. Meine Tochter deckt mir meine verdrängten BEDÜRFNISSE auf.

Offensichtlich rebellieren pubertierende Töchter und Söhne oft gegen ihre Eltern, weil sie spüren, dass Mutter und Vater Wünsche und Bedürfnisse verdrängt haben. Die Kinder merken genau, was hinter einer scheinbar makellosen Fassade der Eltern an verdrängten Bedürfnissen verborgen ist. Mit ihrem Verhalten decken sie auf, was die Eltern in den Schatten gedrängt haben.

BIBELGESCHICHTE

Eine Vater-Sohn-Geschichte stammt ebenfalls von Markus. Der Vater erzählt Jesus: »Meister, ich habe meinen Sohn zu dir gebracht. Er ist von einem stummen Geist besessen; immer wenn der Geist ihn überfällt, wirft er ihn zu Boden, und meinem Sohn tritt Schaum vor den Mund, er knirscht mit den Zähnen und wird starr.« (Mk 9,17f)

Wenn wir diese Beschreibung nicht einfach auf einen epileptischen Anfall hin deuten, sondern auf die Eltern-Kind-Beziehung, dann können wir uns vorstellen: Im Umfeld des Vaters fand der Sohn keine Möglichkeit, seine aggressiven Gefühle zu äußern. Vielleicht traute er sich nicht, weil er immer brav sein wollte. Vielleicht strahlte auch der Vater aus, dass Aggressionen etwas Schlechtes seien. Jesus lässt den Jungen zu sich bringen. Doch sobald sich jener näherte, zerrte der unreine Geist »den Jungen hin und her, sodass er hinfiel und sich mit Schaum vor dem Mund auf dem Boden wälzte.« (Mk 9,20) Jesus reagiert aber nicht mit Angst vor diesem Anfall, sondern er macht ganz nüchtern eine Anamnese, indem er fragt: »Wie lange hat er das schon?« Er möchte sich den Jungen genau anschauen und erkennen, woher diese Anfälle kommen. Der Vater erzählt, dass sein Kind sie schon von klein auf hätte. Der unreine Geist habe seinen Sohn sogar oft ins Feuer oder ins Wasser geworfen, um ihn umzubringen. Die negativen Gefühle waren offensichtlich so heftig, dass sie den Jungen völlig im Griff hatten und ihm schadeten. Der Vater fühlt sich hilflos, so sagt er zu Jesus: »Wenn du kannst, hilf uns; hab Mitleid mit uns!« (Mk 9,22) Jesus antwortet: »Wenn du kannst? Alles kann, wer glaubt.« (Mk 9,23) Er spiegelt dem Vater, dass dieser nicht an seinen Sohn geglaubt hat. Er hat hinter dem Verhalten des Kindes nicht dessen Sehnsucht erkannt, dass er als Sohn alle seine Gefühle leben wollte, auch die aggressiven, und dass er sich von seinen Eltern innerlich freimachen wollte durch seine Anfälle. Der Vater erkennt durch die Antwort Jesu, dass es darum geht, an sein Kind zu glauben. Und so antwortet er: »Ich glaube. Hilf meinem Unglauben. – Ich möchte ja glauben. Aber hilf du mir, dass ich an meinen Sohn glauben kann.«

Jesus befiehlt nun dem stummen Geist, der den Sohn zu Boden geworfen hat: »Ich befehle dir, du stummer und tauber Geist: Verlass ihn und kehr nicht mehr in ihn zurück.« Da zerrte der Geist den Jungen hin und her und verließ ihn mit lautem Geschrei.« (Mk 9,25f) Der stumme Geist, der den Sohn zum nonverbalen Ausdruck seiner Wut in den Anfällen gezwungen hat, fährt aus mit einem lauten Schrei.

So große Gefühle!

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