Читать книгу Die Kunst des guten Arguments - Anthony Weston - Страница 19
11. Rechnen Sie mit Gegenbeispielen
ОглавлениеGegenbeispiele sind Beispiele, die Ihrer Verallgemeinerung widersprechen. Sie machen vielleicht keinen Spaß. Doch wer Verallgemeinerungen vornimmt, für den können Gegenbeispiele tatsächlich äußerst wertvoll sein, wenn sie früh und gut eingesetzt werden. Ausnahmen »bestätigen die Regel« nicht – ganz im Gegenteil: Sie drohen sie zu widerlegen. – Doch sie können und sollten uns dazu ermutigen, sie weiterzuentwickeln. Suchen Sie daher frühzeitig und systematisch nach Gegenbeispielen. So können Sie Ihre eigenen Verallgemeinerungen am besten präzisieren und Ihr Verständnis des Themas optimal vertiefen.
Solarenergie ist weit verbreitet.
Wasserkraft ist seit langem weit verbreitet.
Windkraft war früher weit verbreitet und ist heute wieder weit verbreitet.
Also sind erneuerbare Energien weit verbreitet.
Sicherlich helfen die Beispiele hier durchaus, zu zeigen, dass viele erneuerbare Energiequellen weit verbreitet sind: Sonne, Wind und Wasser. Sobald Sie jedoch anfangen, über Gegenbeispiele statt einfach nur über mehr Beispiele nachzudenken, werden Sie vielleicht feststellen, dass das Argument ein wenig zu stark verallgemeinert.
Sind alle erneuerbaren Energieträger weit verbreitet? Sobald Sie die Definition von »erneuerbare Energien« nachschlagen, werden Sie feststellen, dass es auch noch andere Formen gibt wie etwa Gezeiten und Geothermie (die in der Erde gespeicherte Wärme). Diese wiederum sind, ob das nun gut ist oder schlecht, nicht so weit verbreitet. Zum einen sind sie nicht überall verfügbar und zum anderen lassen sie sich vielleicht trotz ihrer Verfügbarkeit nur schwer nutzen.
Sobald Ihnen Gegenbeispiele für eine Verallgemeinerung einfallen, die Sie verteidigen möchten, müssen Sie Ihre Verallgemeinerung entsprechend anpassen. Wäre zum Beispiel das Argument zu den erneuerbaren Energien von Ihnen, könnten Sie die Konklusion in »Viele erneuerbare Energieformen sind weit verbreitet« umändern. Ihr Argument trifft sozusagen immer noch ins Schwarze, obwohl es Grenzen und Verbesserungsmöglichkeiten in einigen Bereichen einräumt.
Gegenbeispiele sollten Sie dazu ermuntern, gründlicher über das nachzudenken, was Sie eigentlich sagen wollen. Wenn Sie zum Beispiel über erneuerbare Energien diskutieren, besteht Ihr Interesse vielleicht darin, zu zeigen, dass es einsatzbereite und praktikable Alternativen zu den üblichen nicht-erneuerbaren Energiequellen gibt. Sollte das Ihr Ziel sein, müssen Sie nicht zwangsläufig dafür argumentieren, dass alle erneuerbaren Energieträger weit verbreitet sind. Es reicht, dass einige weit verbreitet sind. Sie könnten sogar fordern, dass die weniger stark verbreiteten stärker ausgebaut werden sollten.
Oder vielleicht wollen Sie, statt zu argumentieren, dass jede erneuerbare Energiequelle weit verbreitet ist oder verbreitet sein könnte, in Wirklichkeit dafür argumentieren, dass an jedem (oder fast jedem?) Ort zumindest einige erneuerbare Quellen verfügbar sind, auch wenn es an unterschiedlichen Orten unterschiedliche Quellen geben mag. Dies ist eine ganz anders gelagerte und subtilere Behauptung als die ursprüngliche und gibt Ihrer Ansicht einen interessanten Spielraum. (Könnte es für dieses Argument auch Gegenbeispiele geben? Diese Frage überlasse ich Ihnen.)
Stellen Sie sich die Frage nach Gegenbeispielen, wenn Sie die Argumente anderer bewerten, ebenso, wie wenn sie Ihre eigenen beurteilen. Fragen Sie, ob ihre Konklusionen vielleicht korrigiert und begrenzt oder in subtilere und komplexere Richtungen überdacht werden müssen. Dieselben Regeln gelten sowohl für die Argumente anderer als auch für Ihre eigenen. Der einzige Unterschied besteht darin, dass Sie die Chance haben, Ihre vorschnellen Verallgemeinerungen selbst zu korrigieren.