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11. PLOTIN (204–270)

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Plotin ist der prägende Denker der neuplatonischen Philosophie und Lebensform, die unsere Kultur bis weit in das Mittelalter hinein bestimmten. Er lebte zwischen 204 und 270 n. Chr. in Alexandria und später in Rom. Dort hatte er eine Schule der platonischen Philosophie gegründet, an der er über zehn Jahre lang lehrte. Seine Gedanken hat er mit seinen Schülern schriftlich gefasst. Vor allem Porphyrios hat seine Lehre in neun Teilen (Enneaden) aufgeschrieben. In seiner Schule waren auch Frauen zugelassen, die voll Leidenschaft nach Wissen und Weisheit strebten.

In der Tradition Platons lehrte auch Plotin den unbedingten Primat des Seelischen vor dem Stofflichen. Er war begeistert von der Schönheit und Dynamik der ewigen »Ideen« sowie von der unaussprechlichen Transzendenz des höchsten Einen. Die menschliche Seele kommt aus der göttlichen Welt, doch sie hat Schuld auf sich geladen. Deswegen muss sie sich reinigen, um wieder zu ihrem Ursprung zurückkehren zu können. Wir erfahren die Außenwelt der Dinge und unsere Innenwelt. Unsere Seele wandert in die »obere Welt« bis hin zum höchsten Einen.

Die Welt des wirklich Seienden und der geschaffene Kosmos sind in einer hierarchischen Struktur aufgebaut. Alle Gegenstände und Körper bestehen aus Stoff (hyle) und aus Form (eidos, morphe); sie sind in drei Dimensionen geteilt. Hinter den vier Urelementen (Feuer, Wasser, Luft, Erde) wirkt ein allgemeines und unstoffliches Substrat, nämlich die »erste Materie«. Sie ist ohne Form und Qualität, nahezu nichts. Aus dem ersten und höchsten »Einen« fließen wie Wasser und Licht die verschiedenen Stufen des Seins und der Wirklichkeit. Die Güte einer Wirklichkeit besteht in ihrer Form, der Mangel an Form gilt als böse, folglich wird die ungeformte Materie als böse bewertet.

Der ganze Kosmos folgt einer zielstrebigen Ordnung, in ihm wirkt eine umfassende Seelenkraft (psyche). Diese »Weltseele« ist kein Körper, sie ist ohne Ausdehnung und unteilbar. An ihr haben alle Seelen der Menschen einen Anteil, diese sind ebenfalls nichträumlich und ungeteilt. Die Seele eines Menschen ist in seinem ganzen Körper anwesend. Die höchste Fähigkeit der Seele ist der Geist (nous), er hat keine körperlichen Wurzeln und bedarf keines leiblichen Organs. Dieser Geist hat einen unmittelbaren und überzeitlichen Zugang zur ewigen Wahrheit der »Ideen«. Er ist sich seiner selbst bewusst und schaut die Ideen als Einheit. Damit enthält er alles Sein in sich und überschaut die ganze intelligible Welt.

Das Reich der ewigen »Ideen« gilt dem göttlichen Schöpfer als kosmologisches Modell. Der Geist (nous) umfängt in seiner Schau die Welt der Ideen als ganze, er stiftet die Einheit. In ihm sind das Denken und das Sein identisch. Doch er ist noch nicht die höchste Einheit: über ihm existiert das höchste und letzte »Eine« (to hen). Dieses ist für uns Menschen unfassbar, wir dürfen ihm weder das Sein noch die Güte zuschreiben. Mittels unserer Sprache können wir gar nicht sagen, was dieses höchste Eine sei. Wir können es nur in der Intuition und der mystischen Schau erfassen.

Aus dem »Ersten Einen« fließen wie Wasser und Licht der Geist und die Weltseele, dann die vielen Einzelseelen und zuletzt die Welt der Körper. Das höchste Eine wird mit der Sonne verglichen, weil aus ihm unerschöpfliches Licht fließt. Das Fließen (Emanation) des Lichtes erfolgt ohne Anfang und ohne Ende. Die Geistwesen (nous) und die Seele (psyche) fließen aus dem Ureinen heraus und sind selbst am Fließen beteiligt. Doch zuletzt kehren sie wieder zum Ureinen zurück. Die Seelen der Menschen sind selbstständige Wesenheiten, sie haben an der einen Weltseele Anteil. Alle Seelenkräfte sind unsterblich und unteilbar, unveränderlich und ohne Affekte (apathia).

Da sie eine Ursünde begangen haben, steigen die Seelen in die »untere Welt« hinab. Ihr Abstieg folgt einem allgemeinen Weltgesetz, sie werden von der Gottheit herabgeschickt. Wenn die Seelen sich in einem Körper einnisten, dann folgen sie dem göttlichen Weltplan. In jeder Menschenseele findet sich ein bewusster und ein unbewusster Teil. Wenn wir im Leben etwas Neues lernen, dann erinnert sich unsere Seele an das, was sie in ihrem wahren Selbst immer schon wusste. Viele Tätigkeiten und Wirkungen unserer »oberen Seele«, aber auch einige Wünsche, Begierden und Erinnerungen gelangen nicht in unser Bewusstsein.

Der weise Mensch gleicht sich an die Gottheit an, indem er die Tugend verwirklicht. Sie ist das Ziel seines Lebens. Das Ureine strebt nicht zu uns, wir Menschen müssen zu ihm streben. Der Aufstieg zum Ureinen ist uns nur durch die Kraft des Geistes und der Ideen möglich. Doch solange unsere Seele an materiellen Dingen hängt, ist uns die Schau des Ewigen nicht möglich. So verharrt der weise Mensch in der Ruhe und wartet, bis sich ihm das höchste Eine zeigt. Dann erlebt er es voll Schauer wie die Strahlen der aufgehenden Sonne. Sogleich wird seine Seele mit dem Ureinen vereinigt, und er erlebt tiefes Glück.

Das Ureine ist das Urgute, mit unserer Vernunft allein können wir es nicht erkennen. Es überschreitet unser Erkenntnisvermögen. Aus ihm strahlt und fließt der Weltgeist (nous), der die Welt der Ideen in sich vereinigt. Diese Ideen bilden die wahre Wirklichkeit, die sinnlich erfassbaren Dinge sind nur »Abbilder« der letzten Wirklichkeit und der ewigen Ideen. Aus dem Weltgeist strahlt und fließt die eine Weltseele, die alle Menschenseelen umschließt. Diese haben Sehnsucht nach der Vereinigung mit dem Ureinen.

Aus den vielen Seelen fließt die Welt des Stofflichen und der Körper. Sie sind vom Ureinen am weitesten entfernt, ihnen fehlt das Licht und die Kraft des Guten und des Seins. Damit haben die körperlichen Dinge nur ein vermindertes Sein; weil ihnen das Urgute fehlt, sind sie böse. Die Menschen leben in der Scheinwelt der Körper, doch in ihnen ist die tiefe Sehnsucht nach der Rückkehr zum Ureinen. Durch die Techniken der Ekstase können sie das Ureine schauen und sich mit ihm für kurze Zeit verbinden.

So hat die Lehre Plotins eine extrem leibesfeindliche Kultur zur Folge, die im Christentum zur Entfaltung gekommen ist. Sinnlichkeit und Sexualität werden fundamental abgewertet, sie gelten als böse und gefährlich. Hier wird Platos Ideenlehre in ihr Extrem geführt, die reale Welt der Körper und der Dinge wird vollkommen entwertet. In dieser Denkform entwickelt sich das frühe Christentum, es liefert einer leibesfeindlichen Kultur den religiösen Überbau. Friedrich Nietzsche hat mit Recht angemerkt, das Christentum sei ein »Neuplatonismus für das einfache Volk«.

Werke: Keine Schriften; seine Lehren wurden in den »Enneaden« von Porphyrios zusammengestellt.

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