Читать книгу Der Eine Million Kilometer Mann - Armando Basile - Страница 17
Italienreisen
ОглавлениеDen Ort, in dem er aufgewachsen ist, zeigte Armando 1988 seinen Lieben. Die erste Italienreise mit dem Fahrrad erstreckte sich aber nur bis Jesolo und Sohn Dirk war gerade dreizehn Jahre alt − und fuhr mit. Die Reise hören wir uns an. Armando war ja erst seit zwei Jahren Radfahrer, nachdem er zuvor sportlich höchstens ein bisschen getanzt hatte. Da gab es was nachzuholen, er war sechsunddreißig Jahre alt und er schonte weder sich noch seine Familie.
„Am 3. August 1985 sind wir alle drei losgefahren. Über die Schweiz, Schaffhausen, Kreuzlingen, Sankt Margareten und Lustenau. In Hohenems haben wir nach 240 Kilometern übernachtet. Die Alpen hat der Dirk, der damals dreizehn Jahre alt war, zum ersten Mal gesehen, und die hohen Pässe auch. Wir sind am zweiten Tag über Bludenz auf den Arlbergpass gefahren, 1800 Meter, und später am Abend fuhren wir über den Reschen Pass. In zwei Tagen waren wir in Italien. Und weiter Richtung Venedig, Triest… da habe ich einmal Militärdienst gemacht, ich kannte jeden Platz, jede Sehenswürdigkeit, und alles habe ich Dirk und Gisela gezeigt.
Und dann am Zoll in Jugoslawien… Italien war damals nicht so sauber, aber Jugoslawien schlimmer, wir sind in einem zwielichtigen Restaurant gelandet, wo alle Leute nicht schön angezogen waren, die Männer nur Bier getrunken und geraucht und geschimpft haben, unfreundlich waren sie, und das Essen war auch nicht besonders. Nur weg von hier, dachte ich. Wir sind weiter, nochmal durch Triest und am Wasser entlang. Es war heiß im August, Dirk sprang immer gleich ins Wasser und konnte gut schwimmen. Am Po entlang bis nach Jesolo zu dem bekannten Strand. Da haben wir eine größere Pause gemacht, bevor wir nach Venedig gefahren sind. Man muss mit der Fähre zum Markusplatz, und zurück sind wir mit den Fahrrädern, also Brücke rauf, Brücke runter, das alles mit dem riesen Gepäck und den schweren Fahrrädern. Scheiß Venedig, schimpfte Dirk.
Weiter Richtung Genua, mit Etappen von 165 und 189 Kilometern, auf den Passo di Giovi (472 Meter) und an der Côte d’Azur entlang. In Alassio entdeckten wir einen wunderschönen kleinen Strand. Leider waren in Sanremo alle Hotels besetzt. Auch Autofahrer suchten ein Hotel, doch ich bin mit dem Rad schneller über die Straße gekommen und habe noch das letzte Zimmer bekommen. Monaco, Cannes, immer am Strand entlang, es war sehr heiß, St. Tropez, Toulon, im Bahnhof am Boden geschlafen auf dem jeweiligen Regenmantel, Tasche unter den Kopf. Durch Marseille und durch Lyon und das Rhônetal zurück wieder nach Hause.
Richtig nach Hause
„Am 16. Juli 1988 ging es los: Italienreise mit Frau und Sohn. Dirk war sechzehn. Und wir sind am ersten Tag bis zum Genfer See gefahren, 245 Kilometer. Und am zweiten Tag sind wir auf den Großen St. Bernhard, 2469 Meter hoch, gefahren und runtergerollt ins Aostatal. Und dann in einem Albergo gelandet, die Besitzer waren sehr freundlich, wir haben gegessen und der Chef hat am Klavier gespielt, die Männer am Stammtisch haben gesungen und wir haben die Volkslieder auch mitgesungen. Das war in Champeriou, Albergo del Castello. Und dann am anderen Tag nochmal 185 Kilometer bis nach Scrivia, Hotel Giacomino, und da war schon die erste Speiche an Giselas Fahrrad gebrochen. Wir haben damals komplette Hinterräder als Reserve mitgehabt. So konnten wir austauschen und die nächste Werkstatt ansteuern. Wenn ein Schlauch kaputt ist, ist das nicht schlimm, aber Felge oder Mantel… sind ein Problem. Danach auf den Passo del Bracco und Passo del Giove, und dann sind wir in Genua angekommen. La Spezia und Pisa besucht, bis nach Vada (Provinz Livorno).
Noch 180 Kilometer bis nach Montalto di Castro, und irgendwo da haben wir an einem See angehalten und mich hat ein böses Viech gestochen. Ich habe einen dicken Fuß gehabt, eine Blase, doch wir sind trotzdem weiter. Die Besitzerin hat mir Essig zum Einschmieren empfohlen, er ist noch dicker geworden, der Fuß ist blau geworden, doch wir sind immer weiter und weitergefahren. Die nächste Übernachtung in Civitavecchia, also sind wir in sieben Tagen von Heitersheim nach Civitavecchia, siebzig Kilometer vor Rom. Am Abend haben wir nichts mehr zu essen bekommen, es war zu spät, also Kekse und Kartoffelchips verspeist und Limonade getrunken. In Rom sind wir alle Sehenswürdigkeiten abgefahren, haben immer in Alberghi übernachtet, danach durch Napoli, Pompei und Salerno, immer am Strand entlang, am Wasser.
Nachher in Scalea (wir sind jetzt in Kalabrien), bergauf, bergab, der Fuß ist allerdings um die Wade herum schlimmer geworden. Dirk und Gisela sind essen gegangen und ich war auf dem Balkon und habe vom Fenster aus Open-Air-Kino gesehen… Sie haben mir etwas zu Essen mitgebracht. Dann, fast in Sizilien, kamen (wir haben das Freiburg-Schild am Rad) Touristen aus Frankreich, ‘Hallo monsieur, vous voulez bière‘ (bei vierzig Grad), ‘no‘. In Catanzaro habe ich Arbeitskollegen besucht, die haben mal in der Mühlenstraße am Bach gewohnt, dann weiter bis Scanzano, zweihundertfünfzig Kilometer an einem Tag, und am letzten Tag zweihundertzehn bis Gallipoli, dort Trinkpause … von dort waren’s nur noch fünfunddreißig Kilometer bis Ugento. Als wir in Ugento ankamen, glaubte eine Frau es nicht. ‘Wenn du willst, fahren wir von Ugento nach Taranto‘, sagte ich. ‘Nein‘, wehrte sie ab, ‘ich habe kein richtiges Fahrrad, ich kann nicht.‘ ‘Dann musst du mir glauben‘, erwiderte ich. In drei Tagen haben wir alle Verwandten besucht.
Sechs Tage bis Süditalien
Elf Jahre später, 1996, war er allein und machte mächtig Dampf, wie man es von ihm gewohnt ist. In sechs Tagen von Südbaden nach Süditalien mit Etappen von durchschnittlich zweihundertsechzig Tageskilometern! Das geht nur, wenn man wie Armando bis zwei oder drei Uhr morgens fährt und dann irgendwo im Zelt schläft.
„Ich bin losgefahren über die Schweiz – Schaffhausen und Chur ― und am ersten Tag gleich zweihundertsechzig Kilometer gefahren. In Chur habe ich gegenüber einer großen Fabrik im Zelt übernachtet, am anderen Tag weiter, bergauf, auf den Splügen-Pass, und ein Mann auf Skiern mit Rollen kam an mir vorbei, man schwitzte, aber jede Serpentine schenkte einem einen schönen Blick, und als ich hochkam, war der Zöllner der Skifahrer von vorher. Dann auf den Pass, 2100 Meter. Am zweiten Tag zweihundert, am dritten Tag zweihundertfünfundfünfzig Kilometer. Immer an der Adria entlang, parallel zur Autobahn, und dann über Bologna, Venedig, Ravenna, Rimini, Cattolica, bin in der Nacht gefahren und wollte die Landschaft am Tag genießen. Nachts Ehepaare und amanti, mit Musik, oder an einer Tankstelle angehalten, die Tag und Nacht geöffnet hat: mein Lieblingshotel weltweit. Im Zelt, da bin ich sicher. Du hast etwas über dem Kopf, Gepäck kommt mit ins Zelt, Fahrrad wird angeschlossen.
Dann der letzte Teil über Bari und Brindisi − und Lecce erreicht. Die Strada statale (SS) 16 ist in den großen Städten für Fahrräder verboten, da musste ich ausweichen, das kostet Zeit … ich fuhr immer nachts bis um drei, bis ich müde war. Am vierten Tag zweihundertfünfundfünfzig, am fünften zweihundertfünfundachtzig und auf der letzten Etappe dreihundertzehn Kilometer. In sechs Tagen von Heitersheim bis Lecce! Am Strand von Ugento, San Giovanni, mein Zelt aufgebaut und in meinem Geburtsort alle besucht, die ich kenne, alle, alle, Cousins und Cousinen. Das war das Jahr 1996. Meine Mutter war 1987 gestorben.
Radfahren in Italien? Die Autofahrer respektieren einen nicht. Es ging weiter nach Gallipoli und Matera bis Battipaglia, die Straße wie immer bergauf und bergab, Italien ist schrecklich hügelig, auf Kurven geht’s durch die Städte, bis kurz vor Napoli. Da gibt es auch – wie in Battipaglia ― viele ungebildete Leute, Analphabeten, die aus dem Auto ‚stronzo‘ herausschreien, ich sag jetzt nicht, was das heißt. Neapel sehen und sterben… es gibt eine Stadt, die Mori heißt; du siehst Neapel und Mori, heißt es eigentlich, aber es heißt eben auch Neapel sehen und sterben. Und in Pozzuoli wollte ich mein Zelt aufbauen, aber einer sagte, dass es dort viele Drogenabhängige gäbe. ‘Die bringen dich um, geh in ein Hotel.‘ Ich bin bei Rom in Anagni geblieben. Bin die ganze Nacht gefahren, morgens war es noch zu früh, und ich besuchte zwei frühere Kollegen einer Partnerfirma. In Rom war ich von 12 Uhr bis 13.45 Uhr, jedes Mal San Pietro und das Colosseo, und hinter San Pietro fängt die Via Aurelia an, die habe ich genommen und um 18.30 habe ich schon in Civitavecchia gebadet. Das war am 27. August.
Gegessen: Sandwich mit Mortadella und Provolone, einen Käse, etwas scharf. Dann Marina Montalto, weiter am Strand entlang. Am andern Tag weiter, Pisa nach zweihundertfünfundzwanzig Kilometern erreicht, am Bahnhof geschlafen, eigentlich im Bahnhof drin, immer den Regenmantel auf den Boden und als Kissen die Bürotasche, auf die ich ein Handtuch lege. Die Bürotasche ist mein Tresor. Wenn was ist, dann nehme ich diese Tasche und hau ab. Richtung Norden die Marmorfabriken, weiter nach Genua, Pizzeria Il Tucano. Kann das der Pelikan sein? Zweihundertvierundfünfzig Kilometer von Pisa nach Genua. Es ist immer schönes Wetter gewesen. An der Rivera entlang, ein Badeort war schöner als der andere, Ventimiglia, Karten geschrieben, das ist mir wichtiger wie telefonieren, Telefon hatte ich sowieso keins, früher gab es noch Telefonkabinen …
Weiter ging es dann in Frankreich. Die Route Napoléon von Nizza in Richtung Genfer See. Straße bergauf bergab die ganze Strecke, manchmal meinst du, du kommst nicht vorwärts; und keine schöne Aussicht, Wald und Steine, dann über Grenoble, Annecy, Sion auf 786 Metern Höhe, und dann: Genf. Die letzte Etappe von Genf nach Heitersheim betrug dreihundert Kilometer. Machte ich an einem Tag. Ich habe Ausdauer. Diese Tour war viertausend Kilometer lang, in sechzehn Tagen. Ich habe damals noch gearbeitet und hatte nur diese Tage frei.“
Süditalien. Der Süden. Dazu wäre vieles zu sagen. Etwa: Der italienische Staat vernachlässigt den Süden des Landes, seit er gegründet wurde, also seit 1871. Rom ist zwar auch eine südliche Stadt, aber die Regierung, die dort amtiert, vertritt den reichen Norden. Die Lebensqualität ist dort besser, die Leute verdienen mehr, die gesundheitliche Versorgung ist der im Süden überlegen, wo es kaum Arbeit und die kriminellen Vereinigungen gibt. Neunzig Prozent der Touristen bleiben nördlich von Florenz, und der Giro d’Italia, das große Radrennen der Halbinsel, wagt sich höchstens mal vor bis Benevent oder Foggia. Das liegt in Apulien, aber bis zu Armandos Lecce fehlen noch einhundert Kilometer. Der Giro von 2019 hat den Süden komplett ignoriert. Funktionäre sagen, es gäbe dort oft Probleme mit den Geldern, die eingeplant sind, dann aber nicht eintreffen.
Man sucht verzweifelt nach erfolgreichen italienischen Radprofis aus dem Süden und findet keinen. Doch, halt: Vinzenzo Nibali, den „Hai aus Messina“. Das liegt auf Sizilien, an der Meerenge von Messina. Nibali gewann den Giro 2013 und 2016 sowie die Tour de France 2014, nun nähert er sich freilich der Pensionierung. Fabio Aru stammt aus Südsardinien.