Читать книгу Chemie - Armin Börner - Страница 10
1.3 Reaktionsgleichungen beschreiben den Verkehr auf molekularer Ebene
ОглавлениеChemische Formeln beschreiben nicht nur Istzustände, sondern es ist möglich, aus ihnen potenzielle Veränderungsmöglichkeiten, hervorgerufen durch andere chemische Verbindungen, vorherzusagen. Da diese Veränderungen meist als Antwort (Re-Aktion) auf die Anwesenheit einer oder mehrerer anderer Verbindungen eintreten,34 hat der Begriff der chemischen Reaktion eine zentrale Bedeutung in der Chemie erlangt. Entstanden ist der Begriff aus dem spätlateinischen Verb reagere („zurücktreiben, entgegenwirken“) bzw. aus dem daraus resultierenden Nomen reactio („Rückwirkung“, „Gegenwirkung“). Er wurde erstmals Ende des 18. Jahrhunderts im Bereich der Naturbeschreibung verwendet.35, 36 Im 19. Jahrhundert verbreitete er sich auch in anderen Sachgebieten wie dem Humanismus.37 Bei konsequenter Anwendung dieser semantischen Analyse auf die Chemie wird deutlich, dass keine chemische Verbindung von selbst oder sogar willentlich in Aktion tritt, sondern dass Veränderungen in der Struktur immer ein Anstoß von außen vorausgehen muss. Um diese Strukturveränderungen sichtbar zu machen, werden die chemischen Formelsymbole in Reaktionsgleichungen miteinander kombiniert. Diese Reaktionsgleichungen sind gleichzusetzen mit dem eminent wichtigen Begriff der Synthese, der bereits in den vorhergegangenen Kapiteln mehrere Male aufgetaucht ist. Als Synthese (altgriech. σύνθεσις sýnthesis, „Zusammensetzung“, „Zusammenfassung“, „Verknüpfung“) bezeichnet man die Vereinigung von zwei oder mehr Bestandteilen zu einer neuen Einheit, im Falle der Chemie zu einem Produkt (lat. producere, „etwas hervorbringen“).*
Wie viele Atome bzw. Moleküle an solch einer Reaktion teilnehmen, kann man nicht direkt zählen. Dazu sind die Untersuchungsobjekte viel zu klein und deren Anzahl viel zu groß. Um diesem Dilemma zu entgehen, wurde als physikalische Einheit der Stoffmenge das „Mol“ eingeführt. Aus physikalischen Gesetzmäßigkeiten des Atombaus und des Periodensystems lässt sich herleiten, dass 1 Mol ungefähr 6,022 x 1023 Atome, Moleküle, Elektronen oder andere Elementarteilchen enthält.38 Damit sich 1 Mol Methan bildet, müssen 1 Mol Kohlenstoffatome mit 4 Mol Wasserstoffatomen miteinander reagieren. Da ein einzelnes Kohlenstoffatom ungefähr 12-mal so viel wiegt wie ein Wasserstoffatom (1,67 x 10–24 g), bedeutet das: 4 g Wasserstoff vereinigen sich mit 12 g Kohlenstoff zu 1 Mol Methan, was insgesamt 16 g Methan ergibt. Natürlich können auch kleinere oder größere Mengen miteinander reagieren, aber das Verhältnis muss in jedem Fall gewahrt werden. Diese Schlussfolgerung ist nicht nur immens wichtig für die Zusammensetzung von chemischen Verbindungen (Summenformeln), sondern findet auch strikte Anwendung in Reaktionsgleichungen.
Anhand von Reaktionsgleichungen kann man sofort erkennen, ob und was auf molekularer Ebene passiert. Ein einziger Pfeil zeigt an, wie beim Schild „Einbahnstraße“, in welche Richtung die chemische Transformation abläuft.
Alternativ gibt es Situationen, in denen die Reaktionen in beide Richtungen ablaufen, wobei beide Richtungen gleichrangig oder eine begünstigt sein können. Diese Situation wird durch zwei gleich lange, entgegengerichtete Pfeile verdeutlicht. Der längere Pfeil im dritten Beispiel indiziert, in welche Richtung die Reaktion hauptsächlich abläuft. Nicht nur verkehrstechnisch, sondern auch chemisch gesehen sind solche Gleichgewichtsreaktionen weniger übersichtlich und anspruchsvoller zu interpretieren.
Wie Sie im nachstehenden Cartoon sehen können, ist ein Strichmännchen, dem ein Hut aufgesetzt wurde, sofort als Hutträger zu erkennen. Ein neues Detail auf einer inhaltsreichen Fotografie ist hingegen nur schwer, möglicherweise überhaupt nicht, auf den ersten Blick zu benennen. Auch hieran zeigen sich erneut die Vorteile der chemischen Symbolsprache: Sie reduziert auf das Wesentliche. In der danebenstehenden chemischen Reaktionsgleichung wurde eindeutig der obere Teil in der Formel der Glucose verändert, es sind zwei H-Atom hinzukommen. Alles andere ist gleich geblieben.
Wir können obendrein die Atome auf der linken und der rechten Seite der Reaktionsgleichung nachzählen, keines ist unter den Tisch gefallen. Die Reaktion stellt eine Hydrierung (die Addition von Wasserstoff an andere chemische Elemente oder Verbindungen) dar, eine Transformation, der wir in diesem Buch noch oft begegnen werden.
Werfen wir nun einen Blick auf die folgende Reaktionsgleichung. Etwas daran kann nicht stimmen.
Auf der rechten Seite der Gleichung tauchen Atomsymbole auf, die auf der linken Seite entweder gar nicht (C) oder nicht in der entsprechenden Anzahl (H) existieren. Wasser besteht aus zwei H-Atomen und einem O-Atom. Hingegen baut sich Ethanol aus sechs H-Atomen, zwei C-Atomen und einem O-Atom auf. Es könnte sich bei dieser Reaktionsgleichung um eine beliebte Lässigkeit unter Chemikern handeln, die auf diese Weise nur auf die wichtigsten Komponenten der Reaktion hinweisen wollen. Auch ich werde hin und wieder dieses Verfahren in diesem Buch anwenden, um besonders komplexe Sachverhalte zu vereinfachen. Das ist hier aber nicht der Fall. Diese „Gleichung“ und die dahinter stehende Reaktion wollen ernst genommen werden. Die „chemische Reaktion“ kommt in einer berühmten Szene der Weltkultur vor. Von ihr wird im Neuen Testament der Bibel berichtet, wo auf der Hochzeit zu Kana Jesus Wasser in Wein, also Ethanol, verwandelt (Johannes 2, 1–11). Das Szenario wurde von Paolo Veronese, einem der bedeutendsten Maler der Spätrenaissance, ins Bild gesetzt.
„Die Hochzeit zu Kana“ (Ausschnitt), Paolo Veronese (1563), Louvre, Paris
Ohne Zweifel ist das Gemälde ein Meisterwerk. Bereits im dargestellten Bildausschnitt sind unzählige Details in schwelgender Farbenpracht abgebildet. Vor allem der Diener im Vordergrund des Bildes, der den roten Wein in eine kleinere Karaffe umfüllt, ist von zentraler Bedeutung für die Aussage der Erzählung. Das ändert aber nichts daran, dass die Prämisse aus chemischer Sicht nicht richtig ist. Aus Wasser kann auf diese Weise niemals Ethanol werden.
Diese biblische Geschichte gibt uns die Gelegenheit, über die Begriffe „Natur“ und „natürlich“ nachzudenken. Beiden kommt im allgemeinen Sprachgebrauch eine sehr nachdrückliche Bedeutung zu. Wenn wir beispielsweise Gewissheiten und Unhinterfragbares verkünden wollen, verstärken wir im Deutschen gern die Aussage mit dem Adjektiv „natürlich“, ohne dass tatsächlich eine Verbindung zur Natur hergestellt werden soll (Das ist „natürlich“ richtig!). Aus Sicht der Chemie bedenklich ist, dass mit den beiden Begriffen „Natur“ und „natürlich“ in der Alltagssprache sehr oft die Abgrenzung biogener („natürlicher“) Systeme von den synthesechemischen („unnatürlichen, widernatürlichen“) gemeint ist.* Diese Argumentation ist nicht konsequent. Mehr noch, sie ist falsch. Chemische Reaktionsgleichungen beschreiben chemische Abläufe, unabhängig davon, ob sie biogenen Ursprungs sind oder menschengemacht. Sie gehören damit zur real existierenden Natur und lassen sich durch Naturgesetze beschreiben. Sie sind „natürlich“, genauso wie das Fallgesetz oder das Gravitationsgesetz der Physik. Deshalb gehört die gesamte Chemie und nicht nur die Biochemie zu den Wissenschaften von der Natur, die man seit Mitte des 19. Jahrhunderts unter der Sammelbezeichnung Naturwissenschaften zusammenfasst. Die Erzählung aus der Bibel mit dem Wasser und dem Wein hingegen hat ein Wunder zum Inhalt und ist damit der Kategorie des Über-Natürlichen zuzuordnen.
Alle Versuche, diese beiden Sphären miteinander zu vereinen, sind offenbar schon mithilfe einer simplen chemischen Reaktionsgleichung zum Scheitern verurteilt. Schon bei Hegel lässt sich nachlesen: Religion ist eine „auch rational kaum kontrollierbare Neigung zum Phantastischen, […] [sich] eine ganz andere Wirklichkeit als die hier und jetzt gegebene vorzustellen.“39* Aber auch Mythen und Religionen sind nicht im luftleeren Raum entstanden.40 Mit den ihnen zugrunde liegenden Erzählungen, Geboten und Verboten spiegeln sie die Lebensrealität von Menschen in ihrer Umwelt zu einer bestimmten Zeit wider und lassen somit Rückschlüsse zu, wie sich Menschen kognitiven Zugang zu Erscheinungen der unbelebten und belebten Natur und damit auch über sich selbst zu verschaffen suchten. Mittlerweile gibt es zahlreiche Versuche, die Entstehung von Religionen in einen evolutionsbiologischen Rahmen einzubetten,41 auch für mich ein Anlass, in diesem Buch hin und wieder auf theologische Begründungen zu verweisen.
Ungeachtet dieser lobenswerten Anstrengungen zur friedlichen Koexistenz von Theologie und Wissenschaften führt die Stringenz der Naturwissenschaften oft zu Unbehagen bei den Menschen. Bereits von Goethe wurde dieses Gefühl auf den Punkt gebracht: „Die Natur versteht gar keinen Spaß, sie ist immer wahr, immer ernst, immer strenge, sie hat immer recht, und die Fehler und Irrtümer sind immer des Menschen.“42
* Aus diesem Grund wird in diesem Buch auf die formelfernen Begriffe „Stoff“ und „Substanz“ weitgehend verzichtet. Der Begriff der „Chemikalie“ ist in der deutschen Sprache synthesechemisch hergestellten Substanzen vorbehalten und findet deshalb hier ebenfalls keine Anwendung (in der englischen Sprache gibt es übrigens keine Entsprechung für Chemikalie, nur die Ausdrücke chemical und chemical substance, die meist synonym verwendet werden). Der Begriff des „Moleküls“ bezieht sich hingegen auf molekulare Individuen, in denen Atome miteinander verbunden sind, und entspricht daher genau dem Symbolgehalt von Formeln.
* Leider ist in der modernen Biochemie, die historisch aus der organischen Chemie hervorgegangen ist, die Tendenz zu beobachten, dass chemische Formeln durch kryptische Abkürzungen ersetzt werden. Diese meist schlecht aussprechbaren Kürzel lassen sich nicht nur schlechter merken als Trivialnamen, sondern der Informationsgehalt chemischer Formeln bleibt weithin unerkannt. Die Aufforderung „back to the roots“ scheint angebracht.
** Die Bezeichnung Kohlenhydrate geht auf die allgemeine Summenformel Cn(H2O)m vieler (aber beileibe nicht aller) Zucker zurück. Sie wurde von Carl Schmitt 1844 geprägt (C. Schmitt, Ueber Pflanzenschleim und Bassorin, Annalen der Chemie und Pharmacie 1844, 51, 29–62) und stammt noch aus einer Epoche, wo verschiedene Arten der Bindung zwischen Atomen noch keine Rolle spielten.
*** Hydroxygruppen erhöhen die Wasserlöslichkeit, vorausgesetzt, sie sind nicht mit sich selbst beschäftigt, wie ich später am Beispiel von Cellulose und Bilirubin noch zeigen werde.
* Der Begriff Amin leitet sich vom Ammoniak (lat. sal ammoniacum, „ammonisches Salz“) her, wobei die verkürzte Form „Am-“ mit der Nachsilbe „in“ kombiniert wurde.
* Ein Beispiel sind die verschiedenen Gattungen aus der Familie der Sperlinge (Passer), bei denen es unter anderem den Haussperling (P. domesticus), den Feldsperling (P. montanus) und den Weidensperling (P. hispaniolensis) gibt.
** Wie in der Glucose steckt auch im Glycerol die altgriechische Bezeichnung für γλυκύς glykýs, „süß“, was auf diese Eigenschaft verweist.
* Komplexe Mixturen von „natürlichen“ Verbindungen in Parfümen und Hautcremes bereiten seit einiger Zeit den Allergologen Kopfschmerzen. Brisante Verbindungen sind dabei Eugenol, Isoeugenol, Limonen und Linalool. Die beiden Letzteren kommen hauptsächlich im Rosenöl vor, das eine Mischung aus ungefähr 350 Verbindungen darstellt. Die Komposition von allergievermeidenden Verbindungen scheint der einzige Ausweg und wird von nationalen und internationalen Regulierungsbehörden ins Auge gefasst (C. Walther, B. Huber, L. Neumann, H. Raddatz, Nachrichten aus der Chemie 2015, 63, 533–538).
* Da sich auch die DNA langsam zersetzt, schätzen Paläontologen wie der renommierte Leipziger Max-Planck-Forscher Svante Pääbo, dass die Altersbestimmung im besten Fall (Objekt wurde im Permafrost tiefgekühlt) nicht weiter als eine Million Jahre zurückgehen kann (E. Kolbert, Das 6. Sterben. Wie der Mensch Naturgeschichte schreibt, Suhrkamp, 2016, S. 246).
** Es ist daher ein echtes Versäumnis, dass sich auf den Datenplatten, die den interstellaren Raumsonden Voyager 1 und Voyager 2 (1977) mitgegeben wurden, keine chemischen Formeln befinden, obwohl auf Bildern und Audiodaten eine Reihe von Symbolen verzeichnet ist, die als Botschaften an Außerirdische gedacht sind.
* Es gibt verschiedene Interpretationen für die Entstehung des Wortes „Alkohol“ in der Literatur: Einige vermuten die Sprachwurzel im persischen Wort für Blume (gol). Ein altes Verfahren zur Extraktion von Duftstoffen aus Blumen wird als golâbgiri („Rosenwasser destillieren“) bezeichnet. Bei der Einwanderung in die arabische Sprache wurde das g durch k ersetzt, da es im arabischen Alphabet den Buchstaben g nicht gibt, und der arabische Artikel „al“ vorangestellt. Eine andere Interpretation verlagert die Entstehung des Wortes in den spanisch-arabischen Raum, wo es ein feines, trockenes Pulver aus Antimonpulver (, al-kuhl) mit Ethanol vermischt zum Schminken der Augen bezeichnet.
* Damit ist der Begriff der Synthese ein Synonym für den Begriff der Chemie selbst, der auf eine Operation der Alchemisten mit der altgriechische Bezeichnung χυμεία chymeia, das bedeutet „Metalle zusammenschmelzen“, zurückgeführt werden kann.
* Dieser Einteilung liegt die Unterscheidung zwischen Natur und Kultur zugrunde. Unter Natur wird in diesem Kontext die vom Menschen unberührte Umwelt verstanden. Tatsächlich gibt es auf der ganzen Erde kaum noch Gebiete, die nicht in direkter oder indirekter Weise von Menschen beeinflusst wurden. Auch sogenannte Renaturierungsanstrengungen sind letztendlich auf das Wirken des Menschen zurückzuführen und damit eine konservierende Kulturleistung. Geeigneter erscheint daher der Begriff der „Landschaft“ oder auch der der „Umwelt“ (vgl. z.B. H. Küster, Die Entdeckung der Landschaft. Einführung in eine neue Wissenschaft, C.H.Beck, 2012).
* Um das nicht immer konfliktfreie Verhältnis zwischen Religion und Wissenschaften zu glätten, hat der prominente Evolutionsbiologe Stephen Gould Ende des letzten Jahrhunderts den Begriff der nonoverlapping magisteria (NOMA), zu Deutsch „sich nicht überschneidende Lehrgebiete“ eingeführt (S. J. Gould, Nonoverlapping Magisteria, Natural History 1997, 106, 16–22). Eine gleichlautende, aber etwas poetischere Beschreibung lieferte der Soziologe Georg Simmel mit der Aussage, dass sich die beiden „prinzipiell so wenig kreuzen [können,] wie Töne und Farben“ (http://gutenberg.spiegel.de/buch/die-religion-7/1 [abgerufen am 06.11.2016]).