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2.5 Eingeklemmt zwischen Sand und künstlicher Intelligenz – Silicium

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Silicium ist Bestandteil von Lehm und Ton und damit, wie bereits erwähnt, aus Sicht einiger Weltreligionen ein geeignetes Material, um die Basis für Leben zu konstruieren. Immer wieder griffen auch Naturforscher diese Hypothese auf und versuchten, die Genesis-Erzählung aus dem ersten Buch des jüdischen Tanach und der christlichen Bibel auf wissenschaftliche Grundlagen zu stellen.63 Schon 1891 spekulierte der deutsche Astrophysiker Julius Scheiner über Leben auf der Grundlage von Siliciumdioxid (SiO2), indem er auf die Formelähnlichkeit mit dem Kohlendioxid (CO2) hinwies.64 Diese Idee wurde von dem irischen Chemiker James Emerson Reynolds um die vorletzte Jahrhundertwende aufgenommen, der auf die besondere Hitzestabilität von Siliciumverbindungen aufmerksam machte und daraus auf Leben unter extremen Temperaturen schloss.65 Diese Vorstellungen wurden von H. G. Wells, dem Verfasser des berühmten Science-Fiction-Romans „Die Zeitmaschine“, weiterentwickelt, der 1894 daraus eine romantische, aber stark überhitzte Vision von Menschen aus Silicium und Aluminium („silicon-aluminium men“) ableitete, die „[…] wandering through an atmosphere of gaseous sulphur […] by the shores of a sea of liquid iron some thousand degrees or so above the temperature of a blast furnace“.*66 30 Jahre später wird einer der Begründer der Populationsgenetik, John Burdon Sanderson Haldane, Leben tief in das heiße Innere der Erde verlagern, wo Organismen auf der Basis von geschmolzenen Silicaten ihre Energie aus der Oxidation von Eisen entnehmen.** Bis heute zieht die Vorstellung von siliciumbasiertem Leben seine Spur durch die fantastische Literatur.67 Nicht zuletzt wird in der Star-Trek-Episode „The Devil in the Dark“ durch Captain Kirk und Spock ein Lebewesen auf Siliciumbasis, die Horta, entdeckt.68 Mister Spock findet heraus, dass alle 50.000 Jahre die Hortas aussterben bis auf eine, die über die Eier der nächsten Generation wacht. Natürlich ist auch die wieder aus Silicium.

Neben diesen fantastischen Spekulationen verbindet sich mit Silicium seit Kurzem ein völlig neuer Aspekt: Ein Teil der elektronischen Welt basiert auf diesem Element. Halbleiter auf Siliciumbasis ermöglichen wahrscheinlich schon in naher Zukunft künstliche Intelligenz. In Kalifornien gibt es das Silicon Valley und im Feuilleton der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) wurde von 2011–2015 eine Kolumne mit dem Titel „Silicon Demokratie“ veröffentlicht. Schon deshalb ist Silicium ein ernst zu nehmender Kandidat beim Wettbewerb um das zentrale Element des Lebens.

Was sagt die Chemie als Naturwissenschaft dazu? In der Erdhülle ist Silicium, auf den Massenanteil bezogen, nach Sauerstoff das zweithäufigste Element. Silicium steht sogar in der IV. Hauptgruppe des Periodensystems, direkt unter dem Kohlenstoff, was eine verwandtschaftliche Beziehung nahelegt. Es gibt eine Verbindung mit der Formel SiH4, das Silan, das dem Methan CH4 zumindest von der Summenformel her sehr ähnlich ist.

Das erste Problem: Silicium weist metallische Eigenschaften auf. Dies wäre nicht weiter schlimm bei der Frage nach der Grundlage für die Chemie des Lebens, denn einen dauerhaften und schützenden Metallpanzer hatten sich schon die „alten Rittersleut“ zugelegt. In Der Zauberer von Oz des Schriftstellers Lymann Frank Baum wird die kleine Dorothy von einem Blechmann begleitet, der sich nichts sehnlicher wünscht als ein menschliches Herz, was er am Ende auch bekommt. Auch standhafte Zinnsoldaten soll es geben, wie im Märchen von Hans Christian Andersen überliefert ist.

Lebende Organismen aus Metall gibt es nur im Märchen oder in Hollywoodfilmen. Denn wenn ein Element metallische Eigenschaften besitzt, bedeutet das automatisch, dass es nur eine geringe Elektronegativität aufweist und damit beim Gezerre um die beiden Bindungselektronen mit vielen anderen Partnern ins Hintertreffen gerät. In einer Si–H-Bindung ist bereits der Wasserstoff das dominante, weil elektronegativere Element. Schon wenige Hydroxidionen (OH) in leicht basischem Wasser reichen aus, diese Wasserstoffatome auszutauschen; es entsteht die Kieselsäure, H4SiO4.


Kieselsäure lässt sich alternativ durch Einschub von Sauerstoff in alle vier Si–H-Bindungen herstellen. Bei beiden Reaktionen entsteht als zweites Produkt molekularer Wasserstoff (H2). Entweder würde dieser Wasserstoff aufgrund seiner Flüchtigkeit aus der Erdatmosphäre hinaus in das Weltall entweichen oder mit Sauerstoff und in Anwesenheit eines katalytischen Zünders unmittelbar weiter zu Wasser im Rahmen der Knallgasreaktion reagieren. Keine guten Aussichten für eine friedliche Welt.

Wenn wir das Silicium hinsichtlich seines Potenzials zum Kettenwachstum befragen, bekommen wir im Unterschied zum Stickstoff eine etwas optimistischere Antwort. Silicium ist durchaus zum Aufbau von längeren Ketten geeignet. Derzeit sind Polysilane (griech. πολύ polý, „viel“) mit bis zu 15 Siliciumatomen69 hintereinander in einer geraden Reihe oder auch verzweigt bekannt. Insbesondere der etwas unorthodoxe Anorganiker Peter Plichta konnte zeigen, dass die höheren Silane stabil und nicht mehr selbstentzündlich sind. Im Unterschied zu Kohlenstoffketten verbrennen die Siliciumketten mit Luftstickstoff bei Temperaturen über 1400 °C. Daher ist eine Anwendung als alternativer Treibstoff seit Längerem im Gespräch („Benzin aus Sand“).70 Ungeachtet dessen sind die Laborverfahren zu ihrer Herstellung nicht kompatibel mit jenen Bedingungen, die wir auf der Erde finden.

Das ändert sich umgehend, wenn zwischen die einzelnen Siliciumatome Sauerstoff insertiert wird. Um dieses Verhalten zu verstehen, müssen wir zur Struktur der Kieselsäure zurückkehren. Ebenso wie der im Periodensystem benachbarte Phosphor ist das zentrale Siliciumatom groß genug für vier benachbarte Hydroxygruppen. Die Erlenmeyer-Regel gilt in diesen unteren Regionen des Periodensystems nicht mehr. Trotzdem wird Wasser abgespalten. Vergleichbar zu zwei Phosphorsäuremolekülen (wie in Kapitel 2.4 diskutiert) – und damit erneut im Unterschied zur Kohlensäure – wird Wasser intermolekular abgespalten und es bildet sich die Dikieselsäure. Wiederholt sich dieser Vorgang viele Male mit weiteren Kieselsäuremolekülen, verarmt das Produkt immer mehr an Wasserstoff und es entstehen Polykieselsäuren unterschiedlicher Kettenlänge. Am Ende des gesamten Entwässerungsprozesses steht eine wasserstofffreie Verbindung mit der allgemeinen Verbindung (SiO2)n. Nun ist diese Verbindung zwar ein beliebtes Baumaterial, aber nicht die Grundlage für die Konstruktion lebender Organismen, sondern für Häuser und Brücken: Es ist Sand, womit auch die Bedeutung des Begriffes Silicium, abgeleitet vom lateinischen Wort „silex“ für „harter Stein“ oder „Fels“, einen Sinn ergibt.


Gleichwohl trifft man Silicium relativ häufig in lebenden Organismen an, jedoch ausschließlich in Form von Kieselsäuren oder Quarz. Das heißt, diese Siliciumverbindungen unterliegen im Gegensatz zu den organischen Verbindungen des Kohlenstoffs keinen biochemischen Umwandlungsprozessen. Trotzdem erfüllen sie wichtige biologische Aufgaben: Kieselalgen (Diatomeen) verdanken ihren Namen der schützenden Zellhülle aus Silicaten, den Salzen der Polykieselsäuren. Aufgrund ihrer starken Verbreitung und ihrer enormen fotosynthetischen Aktivität haben diese Algen nicht nur einen Anteil von ungefähr 25% an der weltweiten CO2-Fixierung, sondern sind auch die Hauptakteure im globalen Silicatkreislauf.71 Diese Algen, von denen ungefähr 100.000 Arten bekannt sind, verbrauchen jährlich knapp sieben Gigatonnen Silicium (1 Gigatonne = 1.000.000.000 Tonnen) in Form seiner Sauerstoffverbindungen.72 Auch in höheren Pflanzen wie Weizen oder Reis kommen solche Siliciumverbindungen vor.* Die Getreidearten lagern Sandkörner, die kleine spitze Kanten und scharfe Ecken aufweisen, in den Ähren als Fraßschutz ein.73 In Bambusstämmen verstärkt (SiO2)n – vergleichbar zum Lignin (siehe weiter unten) – die stabilisierende Wirkung von Cellulose und ermöglicht deren Riesenwuchs.

Verbindungen des Siliciums, die neben Silicium-Sauerstoff- auch Silicium-Kohlenstoff-Bindungen aufweisen, werden als Silicone bezeichnet. Sie finden als synthetische Klebemittel vielfältige Verwendung. Polysilicone werden darüber hinaus als Brustimplantate verwendet. In dieser Form dienen sie vor allem einigen Frauen, um eine subjektiv motivierte Veränderung natürlich gewachsener Formen herbeizuführen. Letztendlich sind sie Erfindungen der modernen Synthesechemie und keine Basis für Leben auf der Erde.

Seit einiger Zeit hat auch die pharmazeutische Chemie das Silicium für sich entdeckt. Ersetzt man in bekannten Wirkstoffen wie im Terfenadin, ein Mittel gegen Allergien, an einer Position ein Kohlenstoff- gegen ein Siliciumatom, erhält man neue Verbindungen, die sich in der medizinischen Anwendung annähernd ebenso verhalten wie die Ursprungsverbindung. Ihr Vorteil: Sie sind nicht durch herkömmliche Patente geschützt.74

Zu beachten ist, dass im Sila-Terfenadin keine gefährdete Si–H-Bindung vorkommt. Somit stellt die Reaktion mit Wasser kein Problem dar und bei der Einnahme einer Tablette mit diesem Wirkstoff kommt es zu keinen lebensgefährlichen Explosionen.


Wir können zusammenfassend feststellen, dass Siliciumverbindungen nicht geeignet sind, um mit Kohlenstoffverbindungen in der Chemie des Lebens zu konkurrieren. Auch reinem Silicium, das vielfach als Elementhalbleiter in der Computertechnik eingesetzt wird, kann man diese Eigenschaft nicht zusprechen. Der gewünschte elektronische Effekt kommt über Fehlstellen im Halbleiter zustande, die eine Elektronenwanderung durch das Material ermöglichen. Die Siliciumstruktur wird bei diesen Vorgängen nicht verändert. Einen Computer kann man getrost abschalten, in den (trockenen) Keller stellen und erst nach Jahren wieder einschalten. Höhere biologische Organismen würden eine solche Prozedur nicht überstehen (eine Ausnahme bilden Viren, bei denen man noch nicht ganz sicher ist, ob sie wirklich zu den Lebewesen gezählt werden sollten, da sie keinen eigenen Stoffwechsel haben). Das Prinzip des Lebens beruht auf kontinuierlicher Veränderung und einer nur zeitweiligen Differenzierung in Funktions-, Informations- und Energiemoleküle. Die Unterscheidung zwischen Hardware und Software ist organischem Leben fremd. Für biologische Organismen gilt uneingeschränkt ein Leitgedanke der Systemtheorie: „Entweder das System operiert oder: Es ist nichts“,75 wie wir in Kapitel 17 noch detaillierter feststellen werden.

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