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1.2 Chemische Formeln und räumliche Perspektive
ОглавлениеDie uns umgebende Welt ist zweifellos nicht platt, sondern dreidimensional. Dies haben schon die großen Maler der Renaissance als Mangel in den Bildern ihrer Vorgänger erkannt. Erste perspektivische Ansätze sind bereits in den Malereien der Grotte von Chauvet (Frankreich) zu finden, die vor ca. 17.000 Jahren v. Chr. entstanden sind. Filippo Brunelleschi gilt aufgrund seiner im Jahr 1410 perspektivisch gemalten Tafel der Piazza della Signoria, dem zentralen Platz in Florenz (Italien), als der „Erfinder“ der Perspektive.31 Er und seine Malerkollegen versuchten in ihren zweidimensionalen Bildern einen Raumeindruck zu generieren, indem sie Gegenstände im Hintergrund verkleinerten. Damit war die Perspektivmalerei erfunden, die ihren Höhepunkt ab dem 14. und 15. Jahrhundert in den Trompe-l’œil-Fresken fand und bis heute für die virtuelle Raumerweiterung auch im Architekturbereich eingesetzt wird.
Bisonjagd, Grotte von Chauvet (Frankreich) (17.000 v. Chr.)
„Perspektivische Ansicht der Piazza della Signoria“, Filippo Brunelleschi (Anfang 15. Jahrhundert) (Rekonstruktion nach Carlo Ragghianti)xiv
Die räumlichen Eigenschaften von Verbindungen müssen selbstverständlich auch in der Symbolsprache der Chemie berücksichtigt werden, was sicher weniger künstlerisch, dafür aber eindeutig ist. Schauen wir uns der besseren Anschauung halber anstelle der etwas komplizierten Formel der D-Glucose das einfachste organische Molekül an: das Methan. Die Summenformel dafür ist CH4. Die Zusammensetzung eines Methanmoleküls aus jeweils einem Kohlenstoffatom und vier Wasserstoffatomen ist immer gleich, gleichgültig ob es auf der Erde oder auf dem Mars vorkommt. Das ergibt sich aus den Bindungseigenschaften der beteiligten Atomsorten. Aus der Summenformel kann man noch keine Schlüsse über die Anordnung der beteiligten fünf Atome im Raum ziehen. Fest steht, dass das Kohlenstoffatom sich im Zentrum befindet und von vier Wasserstoffatomen, die selbstverständlich völlig identische Eigenschaften haben, umgeben ist. Da Atome aus dem positiv geladenen Atomkern und den darum befindlichen negativ geladenen Elektronen bestehen, ergibt sich folgerichtig, dass sich Atome gegenseitig aus dem Weg gehen; negative Ladungen stoßen sich ab. Bezogen auf die H-Atome bedeutet dies, dass sie sich auf die größtmögliche Distanz zueinander positionieren. Dabei entwickelt sich zwangsläufig keine ebene Struktur, sondern die geometrische Figur eines Tetraeders. An den Ecken des Tetraeders sitzen die vier Wasserstoffatome. In einem gleichmäßigen Tetraeder nehmen alle Winkel den Wert 109,5° an, was man leicht nachmessen kann.32 Die geometrischen Relationen sieht man in einer alternativen Darstellung, in der die Atome als Kugeln und die Bindungen in Form von dicken Strichen dargestellt werden, besonders gut. Leider braucht man für diese realistische Darstellung Kugeln und Verbindungsdrähte, d.h. ein sperriges Modell, das nicht in die Hosentasche passt. Alternativ kann man auch einen Computer mit einem dreidimensionalen Zeichenprogramm verwenden. Aber auch das wollen wir möglichst vermeiden. Die chemische Symbolsprache nimmt darauf Rücksicht. Sie verwendet schwarze Keile, um anzudeuten, dass die sich an den Enden befindenden H-Atome nach vorn zeigen. Ein unterbrochener, sich verjüngender Keil versetzt das zugehörige H-Atom hinter die Zeichenebene.33 Das H-Atom, das nach oben weist und mit einem normalen Bindungsstrich an das C-Atom geknüpft ist, befindet sich genau in der Zeichenebene. Lassen wir zum Schluss sämtliche H-Atomsymbole weg, kommt der Tetraeder besonders gut zur Geltung.
Verschiedene Darstellungen des Methans
Diese geometrische Form gilt übrigens für alle C-Atom, die von vier anderen Atomen umgeben werden, unabhängig davon, ob es sich dabei um weitere C-Atome oder H-Atome handelt. Wir kommen bei der Diskussion von Kohlenstoffketten und -ringen darauf zurück. Der Tetraeder des Methans ist eine wunderschön regelmäßige und damit harmonische Struktur, begrenzt von lauter zueinander kongruenten regelmäßigen Dreiecken. Solche Strukturen werden zu Ehren eines der größten griechischen Philosophen auch als platonische Körper bezeichnet.
Der Kohlenstoff im Methan ist eingebettet in vier Wasserstoffatome, die ihn vor Angriffen von außen bestens schützen. Das betrifft auch den Schutz vor Wasser, von dem Methan manchmal in größeren Wassertiefen umhüllt wird und mit dem es Einschlussverbindungen, die Clathrate, bildet. Kein Wunder, dass Methan auch als Hauptbestandteil des Erdgases Millionen von Jahren in der Erde schlummern konnte, ohne eine Veränderung zu erfahren.