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2.2 Nur der Kohlenstoff kann es
ОглавлениеWie bereits beschrieben, ist Methan (CH4) ein perfekt gebautes Molekül. Der Kohlenstoff befindet sich im Zentrum, geborgen in einer Umgebung von vier Wasserstoffatomen. Es gibt auch keinen Streit um das jeweils bindende Elektronenpaar, da die Elektronegativitäten von Kohlenstoff und Wasserstoff ähnlich sind. Solch ein Molekül kann eigentlich nichts aus der Ruhe bringen. Außer einem Radikal! Der Begriff kommt aus dem lateinischen radix und bedeutet „Wurzel“ oder „Ursprung“. Tatsächlich fängt mit dem Auftreten von Radikalen das Leben erst an. Radikale, insbesondere im politischen Leben, haben meist die unangenehme Eigenschaft, den strukturierten Alltag saturierter Zeitgenossen in Unruhe zu versetzen. Die Rolle des Extremisten kommt im Leben dem auf der Erde am meisten verbreiteten Radikal, dem Sauerstoffmolekül (O2), zu. Die alternative Bezeichnung für Sauerstoff, Oxygenium (altgriech. ὀξύς oxýs, „scharf, „spitz“, „sauer“; γεννάν gennan, „erzeugen, hervorbringen“), weist bereits auf diese aggressive Ausnahmerolle hin. Sauerstoff ist mit 21 % in der heutigen Erdatmosphäre vorhanden und damit auch mengenmäßig in der Lage, Unrast in das abgeklärte Dasein von Methan und anderen Kohlenwasserstoffen zu bringen. Generell zeichnen sich chemische Radikale durch ein einzelnes Elektron aus, das nicht durch Paarung mit einem zweiten Elektron ruhiggestellt ist. Oftmals werden in den Ernährungswissenschaften Radikale mit dem Attribut „frei“ versehen, um ihre Gefährlichkeit noch semantisch zu verstärken. Tatsächlich gibt es „Gefängnisse“ für bestimmte Sauerstoffradikale in Form von Mitochondrien und Chloroplasten, was eine biologisch grundierte Form ist, um die Radikalwirkung einzugrenzen. Wir kommen im Kapitel 13 darauf zurück.
Wenn ich in dem vorhergehenden Abschnitt die große Realitätsnähe von chemischen Formeln gerühmt habe, muss ich an dieser Stelle eine Einschränkung vornehmen. Unsere gezeichneten Formeln bewegen sich selbstverständlich nicht, alle Atomsymbole bleiben an ihrem Platz. Das Gleiche gilt auch für Modelle aus Plastikkugeln und Verbindungsstücken aus Draht, die Atome und Bindungen symbolisieren sollen. In der physikalischen Realität sieht es anders aus: Die Atome sind in ständiger Bewegung. Ein an Kohlenstoff gebundenes H-Atom ändert kontinuierlich seine Lage in Bezug auf seinen Bindungspartner. Beispielsweise verändert sich unablässig der Abstand zwischen C und H. Gleichzeitig schwingt das H-Atom nach oben und unten oder zur Seite, ohne dass die Bindung zum Kohlenstoff gespalten wird. Die Situation ist vergleichbar mit einer Schale „Götterspeise“, die angestoßen wurde, nur mit dem Unterschied, dass sich unsere Atome unablässig und ohne Ende bewegen. Diese Bewegungen sind temperaturabhängig.47
Durch Zufuhr von Energie in Form von Wärme oder Strahlung kann die Bindung zwischen C und H sogar gespalten werden. Im Fall des Methans verlässt dann ein H-Atom kurzzeitig die Einflusssphäre des Muttermoleküls. Es entsteht ein Methylradikal (die roten Punkte symbolisieren jeweils ein einzelnes ungepaartes Elektron), was keine Konsequenzen hat, da das H-Atom sofort wieder eingefangen wird.
Zwei Methylradikale können auch miteinander reagieren; das Produkt dieser Kupplung ist Ethan. Die Probleme gehen erst los, wenn Sauerstoff zugegen ist. Das Sauerstoffradikal (O2) nutzt die offene Flanke des Methylradikals und bricht wie ein Wolf in die Schafherde ein. Zunächst entsteht ein Peroxidradikal. Dieses attackiert ein weiteres Methanmolekül und holt sich von diesem ein Wasserstoffatom, wobei neben einem Methylradikal ein Peroxid gebildet wird. Damit könnte die ganze Aufregung eigentlich zur Ruhe kommen, wenn sich nicht im Peroxid die beiden benachbarten Sauerstoffatome mit ihren insgesamt vier freien Elektronenpaaren gehörig auf die Nerven gehen würden. Solche freien Elektronenpaare, oftmals dargestellt durch zwei gegenläufige Pfeile, umgeben von einer ovalen Hülle, haben eine spezielle Eigenschaft, die wir später auch noch bei Ketten aus Stickstoffatomen sehen werden: Sie stoßen sich ab; die O–O-Bindung wird in der Mitte gespalten, und es entstehen zwei weitere Radikale, unter ihnen das Hydroxylradikal.
Ist dies erst einmal passiert, wird eine Kettenreaktion losgetreten, wobei weitere Methanmoleküle attackiert werden. Diese Reaktionen kommen erst zu einem Ende, wenn zwei Radikale sich verbinden. Bei diesem Prozess bilden sich daher letztendlich nicht nur ein Alkohol und Wasser, sondern zwischenzeitlich auch höchst gefährliche Peroxid- und Sauerstoffradikale (wie beispielsweise das Hydroxylradikal), mit denen wir es in späteren Kapiteln noch zu tun bekommen werden. Noch radikaler läuft der Vorgang im Motor eines Autos ab. Hier hält man sich nicht mit irgendwelchen Zwischenstufen auf. Der Sauerstoff verrichtet hier ganze Arbeit und oxidiert sämtliche C–H-Bindungen. Der Prozess hört erst beim CO2 auf.
Eine vergleichbare Kettenreaktion finden wir bei der Reaktion von H2 mit O2, wobei am Ende Wasser entsteht.
Auch dieser Prozess läuft in mehreren Stufen ab. Die Reaktionsfolge, in der ebenfalls Radikale die treibende Kraft darstellen, ist als Knallgasreaktion bekannt, ein Name, der nicht nur auf die freigesetzte Energie, sondern auch auf das dazugehörige Geräusch verweist.
Zum Glück ist molekularer, gasförmiger Sauerstoff nicht ganz so aggressiv wie soeben etwas überspitzt beschrieben. Viele Reaktionen finden unter den jetzigen Bedingungen auf der Erde gar nicht oder nur langsam statt. Die Kettenreaktion startet nicht von selbst, dazu braucht es einen Anschub, in der Chemie als Aktivierungsenergie bekannt. Das kann beispielsweise ein brennendes Streichholz sein. Man kennt das verheerende Ergebnis, wenn es in die Nähe eines undichten Gasbehälters mit Methangas kommt. Der fliegt dann in die Luft, begleitet von einer Stichflamme und einem Knall. Dosierter erfolgt die Reaktion beim Kochen mit Stadtgas, wo die Gaszufuhr gedrosselt und damit die Kettenreaktion immer wieder abgebremst wird, ehe sie sich aufschaukelt. Egal wo, wie laut und wie schnell Methan verbrennt – am Ende kommen immer Kohlendioxid und Wasser heraus.
Wesentlich moderater läuft die Reaktion von Methan mit Sauerstoff in Gegenwart von Katalysatoren ab.* Das chinesische Schriftzeichen für Katalysator (Cui-Hua, phonetische Aussprache „tsoo mei“) kann man auch als „Heiratsvermittler“ interpretieren,*48 womit angedeutet wird, dass das Handwerk dieser Verbindungen im Zusammenbringen von Atomen und Molekülen besteht. Heiratsvermittler heiraten in den seltensten Fällen ihre Kunden und so halten es auch Katalysatoren. Sie verabschieden sich nach getaner Vermittlung und suchen sich neue Klienten. Dieses Verhalten kommt auch in einer weiteren Übersetzung zum Ausdruck, dem „Scheidungsanwalt“. Enzyme sind besonders effektive, aber auch sehr große Katalysatoren, deshalb widme ich ihnen ein eigenes Kapitel (Kapitel 10) in diesem Buch. Enzyme operieren in biologischen Zellen in Wasser bei Temperaturen bis ungefähr 40°C oder darunter. Dabei können sie nicht nur die Oxidation des Methans so lenken, dass keine Flammen aus den Organismen herausschlagen, was an die sagenhaften Drachen der Mythen erinnern würde, sondern Methan wird auch nicht umgehend in Kohlendioxid verwandelt. Zunächst wird nur eine C–H-Bindung oxidiert, dann die nächste und so weiter, bis keine mehr übrig ist. Oxidation bedeutet formal betrachtet nichts anderes als Einschub eines Sauerstoffatoms in eine C–H-Bindung, auch wenn Sie soeben erfahren haben, dass dahinter komplizierte Radikalreaktionen stecken. Da Sie nun den detaillierten Reaktionsmechanismus bereits kennengelernt haben, werde ich zur Vereinfachung im Weiteren „½ O2“ schreiben, obwohl wir wissen, dass es halbe Sauerstoffmoleküle in diesem Zusammenhang nicht gibt.
Aus Methan ist auf diese Weise Methanol geworden.** Methanol ist giftig und – Warnung! – nicht als „Alkoholersatz“ zu gebrauchen. Das soll uns aber hier noch nicht interessieren. Wichtiger ist, dass durch die Oxidation die ursprüngliche platonische Harmonie des Methanmoleküls gestört wurde. Ein H-Atom am Kohlenstoff wurde durch ein O-Atom ersetzt. Wenn ich nun die ergänzende Information aus dem Periodensystem ins Spiel bringe, dass Sauerstoff eine wesentlich größere Elektronegativität als Wasserstoff und damit auch als Kohlenstoff besitzt, kann man sich leicht vorstellen, welche Auswirkungen das hat: Es ist wie bei einem vierbeinigen Stuhl, bei dem mit der Säge ein Bein gekürzt wurde. Die Folge ist, dass der Stuhl kippelt. Auf die atomare Ebene bezogen bedeutet das: Der Sauerstoff zieht das bindende Elektronenpaar zu sich herüber. Das lässt den Kohlenstoff an Elektronen „verarmen“, und er wird nun leicht zum Opfer durch andere Reagenzien, zum Beispiel durch ein weiteres Sauerstoffradikal. Im Ergebnis der zweiten Oxidation ist der Kohlenstoff mit zwei Hydroxygruppen verbunden. Die Verbindung wird allgemein als Hydrat bezeichnet.
Nach der Erlenmeyer-Regel, benannt nach Richard August Carl Emil Erlenmeyer (1825–1909), dem Erfinder des gleichnamigen Glaskolbens, sind zwei Hydroxygruppen an einem kleinen Atom wie Kohlenstoff nicht günstig: Sie beanspruchen zu viel Platz. Das Molekül behilft sich aus dieser Notsituation, indem es Wasser (H2O), eine besonders stabile Verbindung, abspaltet. Es entsteht Methanal, auch Formaldehyd genannt, eine Verbindung, die man in Form der wässrigen Lösung als Formalin zum Konservieren von toten Fröschen und Schlangen einsetzen kann. Diese Verwendung ist an dieser Stelle von nachgeordnetem Interesse, da wir ja an der Entstehung von Leben und nicht am Aufbewahren von einstmals Gelebtem interessiert sind. Was bedeutsamer für unsere Diskussion ist: Am Kohlenstoffatom im Methanal befinden sich nur noch drei andere Atome, zwei H-Atome und ein O-Atom. Wenn wir davon ausgehen, dass sich auch diese Atome möglichst aus dem Weg gehen, folgt, dass das neue Molekül im Unterschied zum Methan kein Tetraeder, sondern platt wie eine ausgewachsene Flunder ist. Die Halbräume ober- und unterhalb des Moleküls sind nicht mehr abgeschirmt und dem Angriff von aggressiven Reagenzien ist Tür und Tor geöffnet. Diese Carbonylgruppe ist deswegen die Unruhe in Person und wahrscheinlich die wichtigste „Innovation“ der Chemie des Lebens. Ich komme im Kapitel 5 wieder darauf zurück.
Wir haben nun schon etwas Routine bei Oxidationsreaktionen und stellen fest, dass noch zwei weitere oxidierbare C–H-Bindungen im Formaldehyd übrig geblieben sind. Wir schieben nun sukzessive weitere Sauerstoffatome zwischen C und H ein. Zunächst entsteht die Methansäure, besser bekannt unter ihrem Trivialnamen Ameisensäure.
Diese Verbindung wurde zuerst von dem preußischen Apotheker und Zuckerrübenzüchter Andreas Sigismund Marggraf beschrieben, der zu ihrer Gewinnung Ameisen destillierte, eine besonders brutale Methode, die anscheinend im 17. Jahrhundert noch keinen aufgeregt hat. Bei der Ameisensäure wollen wir nicht weiter verweilen und folgen damit den Überlegungen von Ulrich, der Zentralfigur in Robert Musils Roman Der Mann ohne Eigenschaften: „Denn was fängt man am Jüngsten Tag, wenn die menschlichen Werke gewogen werden, mit drei Abhandlungen über die Ameisensäure an.“49 Auch wenn wir an dieser Stelle nicht wissen, ob die Ameisensäure während des Jüngsten Gerichtes nicht doch eine überragende Rolle spielen wird – wir müssen weiter und schauen uns den Rest des Oxidationsgeschehens an.
Beim Einschub von Sauerstoff in die letzte übrig gebliebene C–H-Bindung überschreiten wir die mittlerweile sehr brüchig gewordene Theoriegrenze zwischen organischer und anorganischer Chemie. Es entsteht Kohlensäure, eine äußerst schwache und damit gesundheitlich ungefährliche Säure. Sie kennen das aus der alltäglichen Erfahrung mit diversen Kaltgetränken, die mit gasförmigen CO2 angereichert wurden, um deren Haltbarkeit zu verlängern. Da, wie oben erläutert, nach der Erlenmeyer-Regel zwei Hydroxygruppen an einem Kohlenstoffatom ungünstig sind, zerlegt sich die Kohlensäure und es entsteht neben Wasser das Gas Kohlendioxid – auch das eine Alltagserfahrung beim Öffnen von Mineralwasserflaschen.
Da Blut in einem relativ abgeschlossenen System zirkuliert, wird es nach dem Genuss von Methanol aufgrund des Kohlendioxids immer saurer und es kommt zur gefürchteten Übersäuerung. Gleichzeitig tragen auch die Vorstufen Formaldehyd und Ameisensäure zur Giftigkeit von Methanol bei, was bis zur Blindheit oder sogar zum Tod führen kann.* Aus diesem Grund ist von dem Genuss von Methanol nachdrücklich abzuraten.
Fassen wir die Befunde kurz zusammen: Bei der sukzessiven Oxidation von C–H-Bindungen im Methan entstehen neue organische Verbindungen und am Ende die anorganische Verbindung Kohlendioxid. Auch Kohlendioxid ist wie Methan zu Beginn der Abfolge von Oxidationsreaktionen eine stabile Verbindung.
Oxidation bedeutet nicht nur Aufnahme von Sauerstoff, sondern auch Abgabe von Elektronen. Als ἤλεκτρον ḗlektron wurde von den alten Griechen eine Legierung aus Gold und Silber bezeichnet. Das sich davon ableitende lateinischen Wort electrum heißt direkt übersetzt „Bernstein“ und wurde später auch für die Bezeichnung von Silbergeld verwendet. Es war also schon immer etwas Wertvolles, etwas, das man nur ungern hergibt. Wie viele Elektronen jeweils ein Atom in einer chemischen Verbindung während einer Reaktion abgibt, kann man nicht direkt beobachten. Glücklicherweise gibt es eine einfach zu berechnende und zuverlässige Interpretationshilfe in Form der Oxidationszahlen (auch als Oxidationsstufen bezeichnet), die reale Übergänge von Elektronen symbolisieren. Für unsere Diskussion an dieser Stelle reicht es aus, wenn wir die Oxidationszahlen ermitteln, indem wir in organischen Verbindungen dem Wasserstoff die Oxidationszahl + 1 und dem Sauerstoff die Oxidationszahl –2 zuweisen. Der beteiligte Kohlenstoff erhält am Ende eine Zahl, die in der Summe zur Neutralität der Gesamt- oder Teilstruktur führt.
Wir sehen anhand der Änderungen der Oxidationszahlen, dass bei jedem Einschub von Sauerstoff in eine C–H-Bindung gleichzeitig zwei Elektronen pro Kohlenstoffatom abgegeben werden. Auf dem Weg vom Methan zum Kohlendioxid sind insgesamt acht Elektronen frei geworden. Auf 1 Mol Methan bezogen (das sind ca. 16 g), entspricht das 8 Mol Elektronen oder in Zahlen ausgedrückt: achtmal 6,022 x 1023 Elektronen. Mit diesen Elektronen kann man entweder ein Auto fahren lassen, eine Waschmaschine betreiben oder – Leben ermöglichen. Das Problem ist: Am Ende hat der Kohlenstoff im Kohlendioxid seine höchste Oxidationszahl +4 erreicht. Weiter kann er nicht oxidiert werden, gleichzeitig kann er von selbst nicht wieder zurück auf eine niedrigere Oxidationszahl. Er ist somit im doppelten Sinn für das Leben gestorben. Nur wenige sind auserwählt, ihn wieder zum Leben zu erwecken.
Stark vereinfacht kann man formulieren: Leben spielt sich zwischen den beiden Polen Methan und Kohlendioxid ab, die sich zueinander wie eine volle zu einer entleerten Batterie verhalten. Damit das Leben mit dem Kohlendioxid an diesem Punkt nicht sein Ende gefunden hat, muss der Akku wieder aufgeladen werden.
Tatsächlich sind Archaeen (auch Archaebakterien genannt, die aber nicht mit Bakterien verwandt sind), in der Lage, mittels Methanogenese (altgriech. γένεσις génesis, „Quelle“, „Entstehung“) aus Kohlendioxid und organischem Abfall Methan aufzubauen.50 Das heißt, sie können den Kohlenstoff mit Elektronen, sprich Energie, betanken und ihm damit wieder zu einer niedrigeren Oxidationszahl verhelfen. Dieser Prozess, der auch unter sehr widrigen Bedingungen (hohe oder niedrige Temperaturen, Umgebung mit hohen Säure- und Salzgehalten) ablaufen kann, spielte wahrscheinlich zu Beginn des Lebens vor Milliarden Jahren auf der noch unwirtlichen Erde eine zentrale Rolle und trägt heute im Pansen von Rindern in beträchtlichem Maße zum Treibhauseffekt auf der Erde bei. Verstärkt wird dieser Effekt noch durch den Nassanbau von Reis in Asien. Methan ist ein ungefähr 25-mal stärkeres Treibhausgas als Kohlendioxid. Daher muss seine aktuelle Konzentration sorgfältig beobachtet werden.
Die Methanogenese wird heutzutage mit hohem ökologischem Gewinn in Biogasanlagen zur Erzeugung von Heizgas verwendet. Das chemische Wissen um diesen nachhaltigen Prozess hätte wahrscheinlich einige Opernbesucher von ihren Buhrufen abgehalten, die der Regisseur Sebastian Baumgarten bei den Bayreuther Festspielen nach der Premiere von Richard Wagners Tannhäuser im Jahr 2011 aushalten musste.51 Er hatte kurzerhand die Handlung von der Wartburg in eine Biogasanlage verlagert, einer der ganz wenigen Fälle, in dem das große Musiktheater Anleihen bei der Chemie genommen hat.
„Tannhäuser“, Richard Wagner, Szenenfoto © Bayreuth 2011, Inszenierung: Sebastian Baumgarten; Foto © Enrico Nawrath
Auch Cyanobakterien und grüne Pflanzen sind mithilfe von Sonnenlicht in der Lage, den Kohlenstoff-„akku“ wieder aufzuladen. Bei der Fotosynthese entsteht Glucose, die Kohlenstoffatome in den drei Oxidationszahlen –1, ±0 und +1 und damit größer als –4 wie im Methan enthält. Trotzdem ist dieser Weg, bei dem die chemische Batterie nur zum Teil geladen wird, in der belebten Natur am meisten verbreitet. Glucose ist aufgrund seiner typischen molekularen Struktur wesentlich variabler verwendbar als Methan.
Übrigens erhalten auch Elemente die Oxidationszahl ±0 (die Schreibweise „±“ verhindert mögliche Verwechslungen mit dem Buchstaben O und hat hier nur abgrenzende Bedeutung). Der Kohlenstoff trägt somit nicht nur im Methanal, sondern auch im elementaren Kohlenstoff C, zum Beispiel in der Stein- oder Braunkohle, die Oxidationszahl ±0. Dies sollten Kraftwerksplaner bei der Entscheidung berücksichtigen, ob ein Gaskraftwerk oder ein Kohlekraftwerk gebaut werden sollte; im Vergleich zum Erdgas kann man aus Kohle nur die Hälfte der Energie in Form von Elektronen gewinnen. Wir werden später noch sehen, dass auch der Abbau von Kohlenhydraten und Fetten in lebenden Organismen ähnlichen energetischen Gesichtspunkten unterliegt.
Wir haben bisher einige interessante Eigenschaften des Kohlenstoffs festgestellt. Reichen diese aber aus, um daraus seine einzigartige Position in der Chemie des Lebens zu begründen?
Eine wichtige Eigenschaft fehlt noch: Dabei geht es um das Problem der Stabilität großer Moleküle, die für die chemische Evolution erforderlich ist. In allen oben gezeichneten Formeln können wir sämtliche H-Atome durch C-Atome ersetzen. Diese Kohlenstoffatome lassen sich wiederum mit anderen C-Atomen verknüpfen. Auf diese Weise entstehen strapazierfähige, lineare oder verzweigte Kettenmoleküle: Das ist die wichtigste Bedingung, um große Moleküle und damit Abertausende von Variationsmöglichkeiten zu kreieren.
Die Kohlenstoffketten sind sehr robust, was erstaunen mag, da eine C–C-Bindung weniger stabil ist als eine C–H-Bindung.* Schauen wir uns jedoch eine beliebig lange Kette an, so fällt auf, dass die Wasserstoffatome eine schützende Hülle um die zentrale Kohlenstoffkette bilden. Ein angreifendes Reagenz wie der Sauerstoff hat es somit ziemlich schwer, bis in das Innere dieses Gebildes vorzudringen.52
Aus diesem Grund werden lange Kohlenstoffketten, wie sie beispielsweise in gesättigten Fetten anzutreffen sind, im Rahmen der biochemischen Fettsäureoxidation nicht irgendwo in der Mitte, sondern immer dort attackiert, wo die C–C-Bindung durch sogenannte funktionelle Gruppen geschwächt wird. Mit ihnen werden wir uns im Kapitel 5 noch eingehender beschäftigen.** Die Eigenschaft des Kohlenstoffs, lange, stabile Ketten zu bilden, ist somit auch eine der wichtigsten Voraussetzungen für die Chemie des Lebens. Angefangen vom Methan mit nur einem Kohlenstoffatom bis hin zum Naturkautschuk, in dem bis zu 150.000 Kohlenstoffatome miteinander verknüpft sein können, bietet der Kohlenstoff in der belebten Natur für jeden Verwendungszweck etwas.* Ich werde Ihnen gleich beweisen, dass andere Elemente des Periodensystems nicht nur an dieser Hürde scheitern.
Die Variationsmöglichkeiten potenzieren sich durch Einbau von Heteroatomen, also Elementen, die nicht C oder H sind. Auch wenn dabei, wie bereits erwähnt, nicht annähernd das ganze Periodensystem Verwendung findet, reicht es aus, um eine für das menschliche Vorstellungsvermögen kaum fassbare Anzahl von Verbindungen zu generieren. Der pharmazeutische Chemiker Wayne C. Guida hat mit seinen Kollegen die Anzahl von Verbindungen berechnet, die gegen Wasser und Sauerstoff stabil sind und die man theoretisch erhalten kann, wenn nur die Elemente C, H, N, O, P, S, F, Cl und Br miteinander kombiniert werden und die Molekülmasse auf 500 Dalton (Dalton = Gramm/Mol) begrenzt wird: 1062 bis 1063.53 Das entspricht einer 1 mit 62 bzw. 63 Nullen dahinter! Eine unvorstellbare Zahl von Variationsmöglichkeiten. Wohlgemerkt, dabei wurden noch keine Makromoleküle, auch Polymere genannt, mit Molmassen größer als 500 Gramm/Mol berücksichtigt, die einen Großteil des organischen Lebens ausmachen. Die Naturstoffe, von denen sicher bisher noch nicht alle entdeckt und beschrieben worden sind, bilden dabei nur eine kleine Gruppe. Das ist die Grundlage für die in diesem Buch wiederholt vorgebrachte Evolutionsthese: Die Chemie bietet an und die Biologie wählt aus.
Berücksichtigt man, dass in dem umfangreichsten Sammelwerk der Chemie weltweit, den Chemical Abstracts, im Jahr 2015 „nur“ 100 Millionen (108) Verbindungen aufgelistet waren (das sind somit Verbindungen, die bisher von der Chemie untersucht worden sind), erhält man eine Vorstellung über das enorme Variationspotenzial von Kohlenstoffverbindungen.
Jede dieser 100 Millionen Verbindungen kann mittels der IUPAC-Regeln individuell benannt werden, was einer Zunahme von Wörtern seit 1986 um 80 Millionen entspricht.54 Zum Vergleich: Die Gesamtgröße des „restlichen“ deutschen Wortschatzes wird auf 300.000 bis 500.000 Wörter geschätzt, ein wahrhaft kulturbildender Beitrag der Chemie. Gleichzeitig wird damit der schöpferische Charakter der organischen Synthesechemie deutlich, vor dem sogar der Sprachvirtuose Johann Wolfgang von Goethe mit einem Repertoire von ungefähr 90.000 Wörtern kapitulieren müsste.55
Die belebte Natur – und damit die Biochemie – kommt mit weitaus weniger Verbindungen (Naturstoffen) aus, wobei spekulativ bleiben muss, wie viele Verbindungen im Laufe der chemischen und biologischen Evolution wegen mangelnder Pass- und Anschlussfähigkeit auf der Strecke geblieben sind.
Nachdem wir uns so intensiv mit dem Kohlenstoff beschäftigt haben, wollen wir nachfolgend untersuchen, ob es andere Elemente gibt, die Leben in ähnlicher Weise oder sogar noch besser organisieren können. Als Kandidaten sollen Stickstoff, Phosphor, Silicium und Bor, das sind die nächsten Verwandten im Periodensystem, vor die Jury unserer Chemiekommission zitiert werden.