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2.3 Probleme mit dem freien Elektronenpaar – Stickstoff
ОглавлениеWie wäre es mit Stickstoff (engl. nitrogen), obwohl sein deutscher Name nicht gerade verheißungsvoll im Zusammenhang mit Leben klingt? Stickstoff ist dem Kohlenstoff im Periodensystem direkt benachbart. Im Unterschied zum Kohlenstoff verfügt Stickstoff entsprechend zu seiner Stellung in der V. Hauptgruppe über fünf Valenzelektronen. Fünf sind immer besser als vier, sollte man annehmen, vor allem, wenn es um das Erzeugen von möglichst vielen Variationen geht. Hier allerdings stimmt diese Faustregel nicht.
Stickstoff ist mit einem Anteil von ungefähr 78 % an der Erdatmosphäre eines der häufigsten Elemente auf der Erde. Mit jedem Atemzug nehmen wir nicht nur Sauerstoff, sondern auch große Mengen Stickstoff zu uns. Das bemerken wir gleichwohl nicht, weil das Stickstoffmolekül N2 weder vom Menschen noch von einem Tier noch von irgendeiner Pflanze verwertet werden kann. Das Stickstoffmolekül ist äußerst robust, das bedeutet, es ist sehr reaktionsträge.* Die beiden N-Atome werden nicht nur durch eine oder zwei, sondern gleich durch drei Bindungen zusammengeklammert. Um diese Bindungen zu knacken, müssen 945 Kilojoule pro Mol (kJ/mol) investiert werden.
Eine vergleichbare C–C-Dreifachbindung wie im Ethin, das zur Klasse der Alkine gehört, ist mit 811 kJ/mol hingegen schwächer und lässt sich darüber hinaus auch wesentlich besser durch chemische Reagenzien attackieren. Daher gibt es nur sehr wenige Alkine in der Natur, die auf das Grundprinzip Veränderungsfähigkeit setzt, aber jede Menge molekularen Stickstoff. Beim Vergleich der Energien der Einfachbindungen sind die Verhältnisse umgekehrt: Die N–N-Bindung im Hydrazin zerfällt sehr rasch, während die C–C-Bindung im Ethan mehr als doppelt so stabil ist. Das hat Folgen.
Die stabile N–N-Dreifachbindung zu lösen, sind ausschließlich hoch spezialisierte Mikroorganismen (Bakterien und Archaeen) in der Lage. In der Vergangenheit wurde jeglicher Stickstoff, der in lebenden Systemen Verwendung fand, vorher von diesen Einzellern in eine für andere Organismen verwertbare Form, beispielsweise in Nitrate (NO3–), Ammonium (NH4+) oder direkt in Aminosäuren, umgewandelt. Besonders aktive Einzeller zum Knacken von Stickstoffdreifachbindungen sind Knöllchenbakterien, die jedes Jahr weltweit bis zu 1,7 x 108, das sind 170 Millionen Tonnen, Ammoniak produzieren.56 Diese Einzeller können in Gemeinschaft (Symbiose) mit Pflanzen wie etwa Erbsen oder Bohnen leben. Landwirte profitieren davon, indem sie Lupinen anbauen und damit den Gehalt an nutzbarem Stickstoff im großen Stil im Ackerboden erhöhen. Eine andere Bakteriengattung, die unter der Bezeichnung Actinomyces (zu Deutsch „Strahlenpilze“) zusammengefasst werden, vollbringt wahre Pionierleistungen bei der Besiedlung von Ödland oder Sanddünen, indem sie verwertbaren Stickstoffdünger für Erle, Sanddorn und Ölweide bereitstellt, sodass diese nach dieser Vorbehandlung ihre Pionierfunktion erfüllen können.
Seit ungefähr hundert Jahren ist auch der Mensch zur Umwandlung von molekularem Stickstoff in der Lage, indem er unter sehr extremen Bedingungen (Drücke von 250–350 bar und Temperaturen bis zu 550 °C) Stickstoff mit Wasserstoff zu Ammoniak reagieren lässt. Diese Methode nennt sich nach ihren Erfindern Haber-Bosch-Verfahren und hat die landwirtschaftliche Düngung und gleichzeitig leider auch die Herstellung von Sprengstoffen revolutioniert, ist aber für die moderaten Bedingungen, unter denen Leben auf unserer Erde abläuft, nicht zu gebrauchen.* Ammoniak ist darüber hinaus ein übel riechendes und giftiges Gas und wird deshalb für den Gebrauch als Dünger oder Sprengstoff mit Salpetersäure in das Salz Ammoniumnitrat umgewandelt.
Nehmen wir trotzdem einmal an, dass neben speziellen Mikroorganismen auch Pflanzen und vielleicht auch Tiere die Fähigkeit erlangt hätten, Luftstickstoff selbst zu aktivieren und in leicht weiterverarbeitbare Stickstoffverbindungen zu verwandeln. Vergleichbares kennen wir von den Mitochondrien, den biologischen Kraftwerken der Zellen, die vor Urzeiten von anderen Einzellern geschluckt wurden, um das aufkommende Problem erhöhter Sauerstoffkonzentrationen in der Atmosphäre möglichst nutzbringend zu lösen. Leider würden mit dem Stickstoff nun die Herausforderungen erst richtig losgehen.
Wie bereits erwähnt, steht der Stickstoff in der V. Hauptgruppe des Periodensystems und verfügt über fünf Valenzelektronen, somit eines mehr als der direkte Nachbar Kohlenstoff. Das Stickstoffatom kann allerdings nicht alle fünf Valenzelektronen zur Ausbildung von fünf kovalenten Bindungen zu anderen Partnern nutzen. Eine einfache Erklärung dafür ist: Es ist nicht genügend Platz vorhanden; fünf Atome, und seien sie noch so klein, passen nicht um das kleine Stickstoffatom herum. Trotzdem sind die fünf Valenzelektronen nun einmal da und können nicht einfach wegdiskutiert werden. Der Stickstoff behilft sich, indem zwei Valenzelektronen sozusagen als Reserve einbehalten werden. Da auch ungebundene Elektronenpaare Platz brauchen, ist das NH3-Molekül nicht eben, sondern räumlich vergleichbar aufgebaut wie der Tetraeder des Methans.
Dieses übrig gebliebene „freie“ Elektronenpaar (im Englischen lone pair, „einsames“ Elektronenpaar, genannt) hat eine spezielle Eigenschaft:57 Es kann positiv geladene Wasserstoffionen, kurz gesagt Protonen (altgriech. τὸ πρῶτον to prōton, „das Erste“), aus seiner Umgebung einfangen. Besteht diese Umgebung aus Wassermolekülen, bleiben bei dieser Einfangreaktion Hydroxidionen zurück.
Im Ergebnis wird das Milieu basisch. Das stickstoffhaltige Produkt sieht bezüglich der Geometrie genauso aus wie das Methan. Da der Stickstoff im Ammoniumion nur noch vier Valenzelektronen besitzt, erhält er eine positive Ladung. Es entsteht somit ein Kation. Im Begriff des Kations (altgriech. κατᾰ́ katá, „herab“) steckt auch die altgriechische Bezeichnung ἰόν ión, was mit „gehend“ oder „wandernd“ übersetzt werden kann. Wir kennen dieses mobile Verhalten vom Natriumchlorid, dem Kochsalz, das sich beim Lösen in Wasser in positive Natriumionen (Kationen) und negative Chloridionen (Anionen) aufspaltet.* Die Ionen sind in Wasser sehr bewegungsfreudige Teilchen und damit a priori sehr promiskuitive Gesellen. Sie suchen sich ständig neue Gegenionen und sind damit für den Aufbau von stabilen Beziehungen nicht zu gebrauchen.
Die Reaktion mit Wasser ist auch die Ursache dafür, warum die meisten Amine, ebenso wie Ammoniak, als Basen bezeichnet werden.58 Obwohl das Wort Base (altgriech. βάσις básis) in der griechischen Sprache unter anderem Grundlage oder Fundament bedeutet, sind basische Verbindungen für die Chemie des Lebens kontraproduktiv, da sie ständig mit dem am häufigsten vorkommenden Milieu auf Erden, dem Wasser, im Clinch liegen. Zarte Anfänge von Leben auf Stickstoffbasis würden zunächst lokal die Umwelt verpesten, doch schon bald hoffnungslos an der riesigen Menge Wasser auf der Erde scheitern.
Angenommen, wir könnten in einem Gedankenexperiment das Basenproblem in den Griff bekommen, indem wir das Leben in ein anderes Milieu als Wasser verlegen, zum Beispiel in Ammoniak. Es gibt Hinweise, dass die Planeten Neptun oder Jupiter von einer Atmosphäre eingehüllt sind, die unter anderem auch Ammoniak enthält. Von anderen Himmelskörpern außerhalb unseres Sonnensystems, darunter Satelliten von Planeten, Asteroiden oder Kometen, wird vermutet, dass es auf ihnen Ammoniakkristalle oder ganze Ammoniakseen gibt.59 Dieser Umstand würde Leben auf N-Basis eventuell ermöglichen.
Wir haben bei dieser Hypothese zu berücksichtigen, dass Ammoniak nur bei Drücken über 7 bar bei Raumtemperatur flüssig ist. Unter dem auf Meereshöhe vorherrschenden Atmosphärendruck von 1 bar ist Ammoniak bei Temperaturen über –33 °C gasförmig. Da sich entsprechend der van’t Hoffschen Regel die Geschwindigkeit einer Reaktion bei Zunahme um 10 K verdoppelt bis vervierfacht, würden Reaktionen des Lebens in flüssigem Ammoniak im Vergleich zum Wasser nur sehr langsam ablaufen. 3,8 Milliarden Jahre Evolution auf der Erde hätten wohl kaum ausgereicht, um bei diesem Tempo komplexe Strukturen zu generieren. Schon mit Kohlenstoff als Basis des Lebens bezweifeln einige Wissenschaftler, dass ungefähr 400 Millionen Jahre – das ist die Spanne zwischen der Entstehung unserer Erde und dem erstmaligen Auftreten der ersten primitiven Organismen – ausgereicht hätten, um Leben hervorzubringen. Die Einwanderung von organischen Verbindungen mittels Meteoriten würde vieles einfacher erklären. Aus diesem Grund wird so emsig im Weltall nach Lebensspuren gesucht und Hinweise auf „Leben spendendes“ Wasser werden in den Medien immer wieder als Sensation vermeldet. Das spricht natürlich nicht gegen den Kohlenstoff, umso mehr gegen den Stickstoff und den Ammoniak, deren Anwartschaft auf die zentrale Rolle im Leben zumindest auf der Erde damit buchstäblich ins Wasser fällt.
Es kommt noch ein weiteres Problem hinzu: Wir haben bereits festgestellt, dass die Dreifachbindung zwischen zwei Stickstoffatomen sehr stark ist. Es wurde auch schon angemerkt, dass im Unterschied dazu eine einzelne Bindung zwischen zwei Stickstoffatomen wesentlich schwächer ist als jene zwischen zwei Kohlenstoffatomen. Die einzige einigermaßen stabile Verbindung in dieser Hinsicht ist Hydrazin. Die Bindung zwischen den beiden Stickstoffatomen ist höchst labil. Verantwortlich dafür sind die beiden freien Elektronenpaare, die sich gegenseitig abstoßen. Auf dieses Phänomen hatte ich schon bei den Peroxiden hingewiesen, die daraus ihre Radikaleigenschaften beziehen. Da sich im Hydrazin nur zwei dieser Elektronenpaare gegenüberstehen, ist der Effekt nicht ganz so dramatisch, reicht aber aus, um reines Hydrazin, das nur im Labor herstellbar ist, als hochexplosiven Raketentreibstoff zu verwenden.
Eine Verbindung mit drei Stickstoffatomen, das Triazan, ist aus dem gleichen Grund bereits instabil und zerfällt unmittelbar nach der Synthese. Die Struktur des Tetrazans konnte bisher nur berechnet werden und existiert somit nur in der Theorie.60 Wir können konstatieren, dass dort, wo Stickstoffketten bereits aufhören müssen, Kohlenstoffketten noch lange kein Problem haben, weiter zu wachsen.
Leben auf der Basis von Stickstoff könnte nicht annähernd zu dieser Komplexität gelangen wie auf der Basis von Kohlenstoff. Jedem Versuch, eine längere Stickstoffkette aufzubauen, wird umgehend durch deren Zerbrechen ein Ende gesetzt.
Das letzte Problem macht der Stickstoffhypothese nun wirklich den Garaus. Alle drei N–H-Bindungen im Ammoniak können oxidiert werden.
Die Formel des Produktes kommt Ihnen vielleicht zunächst etwas spanisch vor. Spalten wir jedoch gemäß der Erlenmeyer-Regel einmal H2O aus dieser instabilen Verbindung ab, tritt uns die salpetrige Säure (Summenformel: HNO2), eine stärkere Säure als die Essigsäure, entgegen. Im finalen Oxidationsschritt, in dem auch das freie Elektronenpaar mit Sauerstoff reagiert, entsteht am Ende Salpetersäure (Summenformel: HNO3), eine noch stärkere Säure.
Aus dem ursprünglichen Basenproblem ist durch die Wirkung von Sauerstoff ein massives Säureproblem geworden. Wir erinnern uns, im Gegensatz zum Ammoniak ist das unpolare Methan weder in Wasser löslich noch reagiert es mit Wasser. Natürlich lässt sich nach vorangegangener Aktivierung auch im Methan in alle C–H-Bindungen Sauerstoff einschieben. Nach Abspaltung von Wasser entsteht daraus die (schwach saure) Kohlensäure. Letztere zerfällt in Kohlendioxid und Wasser. Wasser stellt unter neutralen Bedingungen kein Problem dar. Kohlendioxid kann, wenn es in Maßen auftritt, nur wenig den pH-Wert des Wassers beeinflussen.* Aufgrund des niedrigen Siedepunktes entweicht Kohlendioxid schnell in die Atmosphäre.
Wir müssen resümierend feststellen, dass der Stickstoff keine Alternative zum Kohlenstoff darstellt, wenn sich auf dessen Basis Leben aufbauen soll. Trotzdem ist er unverzichtbar in Kooperation mit dem Kohlenstoff, wie ich später noch zeigen werde.
Wie sieht es mit dem Phosphor aus?