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2 Auf der Suche nach den Elementen des Lebens 2.1 Am Anfang stand der Kohlenstoff
ОглавлениеIm Buch Genesis der Bibel wird in Kapitel 2.7 die Erschaffung des ersten Menschen, Adam (hebräisch ādām, „Mensch“), durch Gott erzählt: „Da formte Gott, der Herr, den Menschen aus Erde vom Ackerboden (hebräisch ădāmāh, „Ackerboden“) und blies in seine Nase den Lebensatem. So wurde der Mensch zu einem lebendigen Wesen.“* Ganz ähnlich wird die Erschaffung des Menschen im Koran, dem heiligen Buch des Islam, beschrieben: „Und Wir haben den Menschen aus einer Trockenmasse, aus einem gestaltbaren schwarzen Schlamm erschaffen“ (Sure 15.26). Im wahrsten Sinne berührend wurde diese Urszene durch Michelangelo Buonarroti in der Sixtinischen Kapelle im Vatikan gemalt. Gott erweckt die Lehmfigur des Adam mit dem ausgestreckten Zeigefinger zum Leben.*
„Die Erschaffung Adams“, Michelangelo Buonarroti (1508–1512), Sixtinische Kapelle, Vatikan
Lehm war immer schon wichtig für den Menschen als Ackerboden für den Anbau von Früchten und Gemüse. Darüber hinaus konnte man aus Lehm Häuser bauen. Deshalb war es nur folgerichtig, ihn als Baumaterial für lebende Wesen vorzuschlagen.
Versuchen wir zunächst der Frage nachzugehen: Was ist Lehm? Lehm ist eine Mischung aus kleinen Sandkörnern, verschiedenen Sedimenten und Ton. Aus chemischer Sicht betrachtet, kommen die Elemente Silicium, Aluminium und Kohlenstoff in Form ihrer Oxide (Silicate, Kaolinit) oder als Carbonate besonders häufig vor, chemische Verbindungen, mit denen wir überhaupt nicht die Vorstellung von Leben verbinden. Es sind anorganische Verbindungen. Das Alpha privativum „a-“ (lat. „beraubendes Alpha“, auch als alpha negativum bezeichnet),** das der a(n)organischen Chemie den Vornamen (Präfix) gegeben hat, bezeichnet in der Wortbildungslehre der griechischen Sprache die Abwesenheit oder Umkehrung des Bezeichneten. Letztendlich wird mit dieser Vorsilbe das zugrunde liegende Wort verneint. Die Leben spendende Kraft hingegen, die der organischen Chemie innewohnt, wurde in der Vergangenheit als vis vitalis bezeichnet. Die Überzeugung, dass es eine nur durch göttliche Kraft überwindbare Grenze zwischen der anorganischen und der organischen Welt gibt, hat sich noch weit bis in das 19. Jahrhundert hinein in den gerade aufkeimenden Naturwissenschaften gehalten und findet sich bis heute in der Bezeichnung der beiden grundlegenden Spielarten der Molekülchemie. Deshalb war es eine kleine Sensation, als der Chemiker August Anton Wöhler im Jahr 1828 durch einfaches Erhitzen des anorganischen Stoffes Ammoniumcyanat den organischen Stoff Harnstoff herstellen konnte.
Seine Begeisterung über diese Entdeckung hat er in einem Brief an seinen schwedischen Kollegen Jöns Jakob Berzelius beschrieben: „[…] denn ich kann, so zu sagen, mein chemisches Wasser nicht halten und muss Ihnen sagen, dass ich Harnstoff machen kann, ohne dazu Nieren oder überhaupt ein Tier, sey es Mensch oder Hund, nöthig zu haben […]“43 Das war die Geburtsstunde der modernen organischen Chemie. Mittlerweile weiß man, dass die Grenze zwischen anorganischer und organischer Chemie ständig überschritten wird. Denken Sie nur an die Umwandlung von Kohlendioxid in Zucker in den grünen Pflanzen während der Fotosynthese und die Rückreaktion bei der Atmung oder an in Wasser gelöstes anorganisches Chlorid, Bromid, Jodid, Phosphat, Sulfat, Ammonium oder Nitrat, das laufend in organische Verbindungen eingebaut wird.
Selbst der größte Chemie-Muffel weiß: Die organische Chemie baut auf dem Kohlenstoff auf. Kohlenstoff findet sich auf der Erde vor allem in Form von Kalk, Kohle oder, im seltensten und damit begehrtesten Fall, als Diamant. Kohlenstoff kommt unter allen Elementen auf der Erde bei Weitem nicht am häufigsten vor, und trotzdem kann kein einziges Lebewesen ohne den Kohlenstoff existieren, weder in der Gegenwart noch vor ca. 3,8 Milliarden Jahren, als sich zum ersten Mal Leben auf diesem Planeten regte. Dieser Kohlenstoff muss ein Tausendsassa sein, wenn er sich gegenüber den anderen stabilen (nicht radioaktiven) Elementen im Periodensystem, und das sind genau noch 80 weitere, durchsetzen konnte. Der italienische Schriftsteller und Chemiker Primo Levi widmet dem Kohlenstoff in seiner berühmten Erzählung Das periodische System ein eigenes Kapitel: „So hat also jedes Element jedem etwas (und jedem etwas anderes) zu sagen, wie die Täler und Strände, wo man in der Jugend geweilt hat: Eine Ausnahme bildet vielleicht der Kohlenstoff, weil er jedem alles zu sagen hat […]“*44 Um die Ausnahmestellung des Kohlenstoffs zu verstehen, müssen wir uns den besonderen Eigenschaften dieses Elements, insbesondere in seinen Verbindungen, zuwenden und uns gleichzeitig klarmachen, was Leben auf molekularer Ebene bedeutet.
Leben, wie wir es kennen, basiert auf unterschiedlich großen Molekülen mit Hunderten, mitunter Abertausenden von Atomen. Es kommen viele gleichartige, jedoch auch unterschiedliche Atomsorten vor, in jedem Fall die schon erwähnten Elemente Kohlenstoff und Wasserstoff. Sauerstoff und Stickstoff sind ebenfalls noch sehr häufig vertreten. Calcium, Phosphor, Kalium, Schwefel und Natrium sind mengenmäßig bereits sehr eingeschränkt, was für einige Spurenelemente wie Magnesium, Eisen, Zink, Cobalt, Chlor oder Jod erst recht zutrifft. Hin und wieder finden sich bei einigen Spezialisten im Pflanzen- oder Tierreich Selen, Bor oder sogar das als Gift berüchtigte Arsen.
Im nachstehend abgebildeten Periodensystem der Elemente (PSE), das vom Helmholtz-Zentrum in Dresden im Jahre 2015 veröffentlicht wurde, sind jene Elemente grün markiert, die Leben konstituieren.45
Was sofort ins Auge fällt, ist, dass die Chemie des Lebens nur einen kleinen Teil der verfügbaren Elemente nutzt. Schwere Elemente, wie sie beispielsweise die großen Gruppen der Lanthanoide oder Actinide bilden, sind nicht einmal mit einer Nebenrolle vertreten. Bei einigen, hier blau markierten Elementen ist man sich noch nicht sicher, ob sie überhaupt eine Bedeutung haben. Entweder sind die bisher gefundenen Konzentrationen zu gering oder es ist noch nicht geklärt, auf welche Weise sie in den Stoffwechsel des Organismus eingreifen, in dem sie detektiert wurden.
Aus dieser kleinen Auswahl von etwas mehr als zwei Dutzend Elementen bauen sich jene Moleküle auf, mit denen sich die Biochemie beschäftigt. Man nennt sie vielfach auch Naturstoffe, obwohl darin der meist etwas zu sorglos benutzte Begriff der Natur vorkommt. Bei den Naturstoffen handelt es sich um kleine, mittelgroße, aber auch sehr große Moleküle. Typische Beispiele für große Konstruktionen sind die Nucleinsäuren, die Träger der Erbinformation, die Proteine, die sowohl Haare, Federn und Fischschuppen als auch Enzyme bilden, und die Polysaccharide, die entweder als Gerüstbausteine, zum Beispiel in der Cellulose als Teil der Baumrinde, oder als Energiespeicher in Form der Stärke, wie sie beispielsweise in der Kartoffel oder im Weizenmehl vorkommt, dienen. Solche Supermoleküle und ihre einfacher gebauten Vorläufer sind im Verlauf einer Milliarden Jahre andauernden Evolution zunächst gegenüber ganz verschiedenen und später gegenüber sehr ähnlichen Molekülen selektiert worden. Einen derartig großen kombinatorischen Reichtum, aus der die Evolution über die Zeit mit ihrer Trial-and-Error-Methode (Versuch-und-Irrtum-Methode) die geeignetsten ausgewählt hat, erhält man nicht mit kleinen Molekülen, die nur eine Handvoll Atome enthalten. Pass- und Anschlussfähigkeit für weiterführende Reaktionen sind die Hauptkriterien in diesem Spiel. Dieser Sachverhalt kommt auch im Begriff der organischen Chemie zum Ausdruck. Den Begriff des Organs (altgriech. ὄργανον órganon, „Werkzeug“) kennen wir aus der Medizin oder aus dem gesellschaftlichen Bereich (Justiz- oder Verwaltungsorgane). Organe oder Organelle, wie aus der Biologie bekannt, sind meist sehr komplizierte Gebilde, in denen irgendetwas geordnet abläuft, somit etwas organisiert wird. Die komplizierteste Form von Organisation heißt Leben.
Ehe wir zu diesen komplexen Zusammenhängen kommen, müssen wir verstehen, warum gerade der Kohlenstoff und nur der Kohlenstoff Leben ermöglicht. Kohlenstoff steht im Periodensystem der Elemente ganz weit oben und dort annähernd in der Mitte. Wenn wir an dieser Stelle den Lyriker Paul Valéry paraphrasieren: „Die Welt hat nur durch das Extreme Wert und durch das Mittelmaß Bestand“,* muss der Kohlenstoff konsequenterweise zum Mittelmaß gerechnet werden. Zu den Extremisten, die das Leben interessant machen, insbesondere zum Sauerstoff, kommen wir etwas später.
Wie Sie schon am Beispiel des Methans gesehen haben, kann der Kohlenstoff vier Bindungen zum Wasserstoff ausbilden. Diese Bindungen werden mit dem Attribut kovalent näher charakterisiert. „Valentia“ hieß eine Provinz im Römischen Reich und kommt somit aus dem Lateinischen. Es bedeutet Stärke. Die Vorsilbe „ko“ findet sich zum Beispiel auch in dem Begriff Ko-Operation, was bedeutet, dass eine Operation gemeinsam durchgeführt wird. Bei einer ko-valenten Bindung wird der Zusammenhalt durch beide Partner bewirkt. Keines der beteiligten Atome versucht, das bindende Elektronenpaar für sich zu beanspruchen. Die dahintersteckende physikalische Kraft wird mit Elektronegativität bezeichnet.46 Elemente mit einer hohen Elektronegativität – sie befinden sich im Periodensystem rechts oben neben dem Kohlenstoff – können in einer Bindung im Extremfall das bindende Elektronenpaar vollständig zu sich heranziehen. Daraus entstehen in der Folge negativ und positiv geladene Ionen, wie wir sie in Salzen, beispielsweise im Natriumchlorid (Kochsalz), antreffen. Von Letzterem ist bekannt, dass es im festen Zustand sehr geordnet ist, sich hingegen in Wasser löst und dann positive Natriumionen und negative Chloridionen völlig getrennte Wege gehen. Nun stellen wir uns Leben auf der Grundlage solcher Individualisten vor, die schon beim Eintauchen in Wasser ihren Zusammenhalt aufgeben. Das geht nun überhaupt nicht! Zum Leben gehören kleine, mittlere und lange Ketten und Ringe, die als stabiles Rückgrat für Millionen von Variationen herhalten müssen. Diese Beständigkeit weisen offensichtlich nur Bindungen zwischen Kohlenstoffatomen auf. Viele dieser Kohlenstoffatome sind mit Wasserstoffatomen verbunden. Darüber hinaus sind Bindungen zu Atomen anderer Elemente möglich und ausreichend fest.
Der Kohlenstoff kann maximal vier kovalente Bindungen zu anderen Atomen eingehen. Dazu ist er in der Lage, weil er über vier Valenzelektronen verfügt, ein Fakt, der ihn als Element der IV. Hauptgruppe im Periodensystem auszeichnet. Auch im Begriff des Valenzelektrons steckt wieder das semantische und chemische Potenzial, die schon erwähnte kovalente Bindung auszubilden. Jedes dieser Valenzelektronen kann mit dem Valenzelektron eines anderen Partners eine Bindung ausbilden, bei der sich zwei Elektronen zusammentun. Dazu sind selbstverständlich auch andere Elemente mit Ausnahme der Edelgase aus der VIII. Hauptgruppe des PSE in der Lage – jene sind so „unnahbar“, dass sie für die Lebensdiskussion hier keine Rolle spielen.
Eine große Gruppe von Kohlenwasserstoffen (das sind Verbindungen, die nur aus Kohlenstoff und Wasserstoff bestehen) werden mit dem IUPAC-Namen auch als Alkane bezeichnet und können mit der allgemeinen Formel CnH2n+2 charakterisiert werden.* Sie sind aufgrund der annähernd gleichen Elektronegativität der beiden beteiligten Elemente C und H sehr reaktionsträge. Das kommt in dem Trivialnamen „Paraffine“ (lat. parum affinis, „wenig zugetan“, „wenig reaktionsfähig“) zum Ausdruck. Diese passive Grundeinstellung zusammen mit den komfortablen Lagerbedingungen sind auch die Ursache dafür, dass Paraffine Millionen von Jahren in der Erde als Teil des Erdöls zubringen konnten, ohne sich nach einer Reifeperiode zu Beginn, die vor allem in der Abspaltung von Sauerstoff und Wasser bestand, noch stark zu verändern.* Allen Verbindungen des Erdöls ist ihre hohe Stabilität gemein. Erst wenn man sie ans Tageslicht bringt und mit Sauerstoff verbrennt, entstehen Wärme und Licht.**
Die dominante Rolle des Kohlenstoffs in der belebten Natur beweist, dass dieses Element prädestiniert ist, um als Grundlage für die Chemie des Lebens zu dienen. Ist diese Eigenschaft auch anderen Elementen gegeben? Um herauszufinden, warum jemand etwas kann, ist es geraten, zunächst zu schauen, was jemand kann. Anschließend vergleichen wir diese Fähigkeiten mit denen anderer Elemente. Um das Verfahren abzukürzen, konzentriere ich mich hierbei auf die nächsten Nachbarn des Kohlenstoffs (das sind Stickstoff, Phosphor, Silicium und Bor) mit dem Wissen, dass die wesentlich schwereren Elemente im Periodensystem sehr selten auf der Erde vorkommen und zudem nur in der Lage sind, eine Handvoll stabile chemische Verbindungen aufzubauen. Diesen Part überlassen wir der Synthesechemie, die im chemischen Laboratorium ganz andere Möglichkeiten hat, als sie die belebte Natur vorgibt. In jeden Fall wollen wir auch die Gretchenfrage allen Lebens auf unserer Erde stellen: Wie hältst du es mit dem Wasser und mit dem Sauerstoff?