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EIN KIND DER NACHKRIEGSZEIT

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Bis zu meinem fünften Lebensjahr wohnte ich mit meinen Eltern und meiner sieben Jahre älteren Schwester in dem kleinen Städtchen Frankenberg zwischen Kassel und Marburg. Dieser Ort war geradezu idyllisch und als Familie ging es uns finanziell gut. Die Phase des Wirtschaftswunders hatte kurz nach meiner Geburt begonnen.


Rein vom Timing her betrachtet, war meine Lebenszeit bisher eine sehr privilegierte: Ich habe keinen Krieg miterlebt und kann bis jetzt im Frieden leben. Außerdem habe ich nie am eigenen Leib gespürt, wie es ist, wenn man Hunger leidet.

Das Ziel des damaligen Bundeskanzlers Ludwig Erhard – »Wohlstand für alle« – wurde tatsächlich erreicht: Ging es für viele Leute im Krieg und kurz danach noch in erster Linie darum, satt zu werden, so etablierte sich in den 50er-Jahren langsam, aber stetig ein gewisser Wohlstand. Auch ich profitierte davon. Beispielsweise achtete meine Mutter sehr darauf, dass ich gut gekleidet war.

Meine Mutter hat Deutschland noch zu einer anderen Zeit erlebt. 1909 geboren, hat sie selbst zwei Kriege mitbekommen und wurde dadurch stark geprägt, wie eine ganze Generation.


Meinem Vater erging es nicht anders. Im Dritten Reich hat er die Unterstützung des Naziregimes verweigert und daraufhin Konsequenzen zu spüren bekommen: Da er der NSDAP nicht beitreten wollte, wurde ihm kein Studienplatz bewilligt. Und er verlor seinen Job als Buchhändler, weil er nicht bereit war, Hitlers Buch »Mein Kampf« zu verkaufen. Das passte für ihn nicht zusammen: eine menschenverachtende Ideologie und sein Glaube an Gott. Mir hat es sehr imponiert, dass er solches Rückgrat gezeigt hat.

Später wurde mein Vater Verwaltungsangestellter und hat somit wunderbar für seine Familie sorgen können. Uns Kinder hat er geliebt. Und meine Mutter hat er wie eine Königin behandelt. Er hat sie förmlich auf Händen getragen, nie kam ein böses Wort über sie über seine Lippen. Er hat sie geachtet und geschützt. Obwohl sie ihn so manches Mal niedergemacht hat.

Vater war ein friedliebender Mensch, der unter den Verhaltensweisen meiner Mutter gelitten hat. Wenn er abends von der Arbeit kam und gerade ein Konflikt mit uns Kindern ausgebrochen war, brüllte ihn meine Mutter zum Empfang manchmal an: »Du bist ein Waschlappen, kannst keine Kinder erziehen. Nun schlag den Arno doch auch mal.«

Das hat er dann – sichtlich zerknirscht – auch getan. Und hat sich hinterher bei mir entschuldigt. Allerdings so, dass meine Mutter es nicht mitbekam. Das hat mich verwirrt und traurig gemacht.

Der intensivste Körperkontakt zu meinen Eltern bestand aus Schlägen. Wir wurden nie in den Arm genommen, getröstet oder gestreichelt. Das hatte natürlich Auswirkungen auf mein Urvertrauen, meine Beziehungsfähigkeit und meine Gefühlswelt, bis ins hohe Alter.


Auf ihre Weise haben meine Eltern sich gegenseitig sehr geachtet. Meine Mutter hat meinen Vater verehrt: Er war klug, eloquent und belesen. Sie war stolz auf ihn. Vermutlich hat sie das im Alltagstrott jedoch des Öfteren mal vergessen.

Meine Mutter war eher eine »einfache« Frau, fleißig bis zum Umfallen, aber nicht sehr intelligent. Immer auf Äußerlichkeiten bedacht: »Was sollen denn die Leute von uns denken?!« – »Mach die Gardinen zu, was, wenn die Leute reingucken können?!« Der äußere Schein – die Scheinheiligkeit – musste immer gewahrt bleiben!

Ob sich die beiden geliebt haben?

Ich glaube, ja! Obwohl es sich um zwei sehr unterschiedliche Persönlichkeiten handelte – sie eher aufbrausend und er der stille, ausgleichende Typ –, hat meine Eltern eine besondere Liebe verbunden. Eine Liebe, die geprägt war von einer Zeit, in der Gefühle nicht den gleichen Stellenwert hatten wie heute.

Liebevolle Zuwendung habe ich in meiner Kindheit kaum erfahren. Mit meinem Vater verbinde ich herzliche Gefühle, mit meiner Mutter nicht. Da ist einfach zu viel passiert, was mich verletzt hat. Später habe ich meine Mutter aber auf eine sachliche Art geliebt. Ich habe sie geachtet und respektiert.

Sachlich lieben! Das schreit nach einer Erklärung, oder?

Es gibt Menschen, die sind ungeduldig, egoistisch, neidisch und eifersüchtig – und trotzdem brauchen auch diese Menschen Liebe, Achtung und Wertschätzung. Mein Bauchgefühl sagt: »Unmöglich, das schaffe ich nicht. Die sind so was von unsympathisch, die haben gar keine Liebe verdient!«

Aber Gott sagt: »Gerade die Unsympathischen brauchen Liebe und Wertschätzung. Sie sind verletzt und reagieren aus ihren Verletzungen heraus.«

Und Gott verspricht: »Mit meiner Kraft versetze ich dich in die Lage, auch diejenigen Menschen zu achten, die lieblos sind. Mit dem Ziel, dass die Liebe sie in einem langen Prozess verändert. Von dir selbst heraus kannst du solche Menschen nicht lieben, aber meine Energie in dir bewirkt, dass du dich mit ihnen abgibst, Zeit für sie hast, ihre Fragen und Vorwürfe anhörst, ihnen hilfst, für sie da bist. Ihre Kommentare nicht zu persönlich nimmst.

Nicht du musst sie lieben, sondern ich liebe sie durch dich, wenn du mich in dich hineinlässt. Und verwechsle Liebe nicht mit Sympathie. Ich bin nicht für dich gestorben, weil du so sympathisch warst, sondern weil du gerettet werden musstest und meine Hilfe brauchtest!«

Keiner kann etwas für seine Prägung und Erziehung. Meine Verantwortung als erwachsener Mensch ist, meine Vergangenheit – den Mangel, den ich erfahren habe – aufzuarbeiten.


Meine Mutter hat gerne folgenden Spruch zitiert: Du sollst Vater und Mutter ehren – ein wichtiges Gebot der Bibel. Es ist eine der vielen Bibelstellen, die schon oft für eigene Zwecke und Ziele missbraucht wurden. Ohne zu beachten, dass dieses Gebot einen ganz bestimmten historischen Hintergrund hat.

Es greift nämlich erst dann so richtig, wenn die Kinder bereits erwachsen sind und selbst Verantwortung tragen. Als dieses Gebot entstand, war es bei einem Nomadenvolk wie den Israeliten nicht unüblich, lästiges Gepäck – also Dinge, die bei immerwährendem Reisen hinderten – einfach zurückzulassen. Und dazu gehörten unter Umständen auch alte Menschen.

Für solche Völker war es überlebenswichtig, bei Bedarf schnell unterwegs zu sein, und da konnten Omis und Opis schon mal stören. Alte Menschen wurden regelrecht ausgesetzt. Es war keine böse Absicht, sondern kultureller Konsens. Das wurde nicht hinterfragt.

Bis Gott kam und sagte: »Moment mal! Ich empfehle euch: Achtet bitte auf eure Eltern. Sie haben euch das Leben geschenkt. Sie haben euch zu essen gegeben und für euch gesorgt. Es ist nicht gut, dass ihr sie einfach so aufs Abstellgleis schiebt. Nehmt sie mit. Auch wenn das zusätzlichen Stress bedeutet.«

Verstehen Sie?

Sachliche Liebe hat für mich ganz viel mit dieser Form der Ehrerweisung zu tun. Trotz allem Schlimmen sind meine Eltern liebenswert. Wenn nicht auf emotionaler Ebene, dann auf sachlicher.

Meine Eltern und speziell meine Mutter haben mir viel Leid zugefügt, aber ich habe sie ab einem gewissen Alter immer geachtet und geehrt. Als ich meine Kindheit reflektieren konnte, habe ich mich bewusst dafür entschieden, sie zu lieben.

Da haben wir es wieder:

Keine Panik, ehrliche Spiegel altern immer mit!

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