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10 Margarete Mitscherlich
ОглавлениеMargarete Mitscherlich (1917–2012) war eine der bedeutendsten Psychoanalytikerinnen Deutschlands. Nach dem Studium der Literatur und der Medizin arbeitete sie als Ärztin, Psychotherapeutin und Schriftstellerin und begründete gemeinsam mit ihrem Mann Alexander Mitscherlich das „Sigmund-Freud-Institut“ in Frankfurt am Main. In den letzten Jahrzehnten hat sie sich mit der, wie sie es selber nennt: „Mühsal der Emanzipation“, beschäftigt. Mit ihrem Buch „Die Unfähigkeit zu trauern“ hat sie gemeinsam mit ihrem Ehemann im Jahr 1967 eine Diskussion über Schuld und Mitschuld an den politischen Verbrechen der Zeit des Nationalsozialismus entfacht.
Am 19. April 2005 wurde ihr von den Wiener Vorlesungen der Stadt Wien der Erwin-Chargaff-Preis verliehen. Margarete Mitscherlich, die „Grande Dame“ der Psychoanalyse, saß mit uns am Tisch, wir erzählten von unserer Arbeit, sie von ihrer. Wenige Tage zuvor war Papst Johannes Paul II. am 2. April 2005 in Rom gestorben. Einer meiner Therapeutenkollegen erzählte davon, wie er die Liveübertragung des Papst-Begräbnisses am 8. April 2005 im ORF „in Echtzeit“ miterlebt und dabei Gänsehaut und Angst bekommen hätte. Vier Millionen Menschen hätten sich rund um den Petersplatz in Rom versammelt und in nicht enden wollenden Sprechchören gerufen: „Santo subito!“ – „Mach ihn sofort zum Heiligen!“
Adressat dieses Zurufs war der damals noch nicht gewählte, neue und jetzt emeritierte Papst Benedikt XVI. Adressat dieser Erzählung meines Kollegen war an diesem Abend neben Mitscherlich ich, weil er bei mir in diesem Kreis die größte Nähe zur katholischen Kirche vermutete. Obwohl es mich gereizt hätte, hielt ich mich mit einer Antwort zurück. Gerade in diesem Zusammenhang hatte er ein Thema auf den Tisch gebracht, das mich seit Langem beschäftigte, hier und zu diesem Anlass aber unpassend schien: dass nämlich das kirchengeschichtlich Besondere an dieser Situation damals die Tatsache war, dass die Menschen damit die Heiligsprechung eines Mannes forderten, der als Papst das Kunststück zuwege gebracht hatte, in seiner Amtszeit mehr als doppelt so viele Heilig- und Seligsprechungen vorzunehmen wie alle seine Vorgänger in 2000 Jahren Kirchengeschichte zusammen. Professor Max Friedrich, der diese Runde zusammengerufen hatte, gab uns gegen 22 Uhr zu verstehen, dass es aus Rücksicht auf unseren fast 88-jährigen Gast an der Zeit wäre, unser Abendessen zu beenden. Wir verabschiedeten uns voneinander und waren beeindruckt von der Frische und Lebendigkeit dieser großartigen Frau. Zu Hause in der Kochgasse, nicht weit entfernt vom Restaurant, arbeitete ich noch still vor mich hin und erschrak, wie schnell es Mitternacht geworden war. Ich schaltete noch schnell den Fernseher ein – und sah als Interviewgast in der ZIB 3 Margarete Mitscherlich!
Sie war also nicht, wie wir vermutetet hatten, nach Hause gefahren, um sich auszuruhen, sondern ins ORF-Studio, um dort noch zur Mitte der Nacht ein Interview zu geben. Da saß sie nun! Und da saß ich und hörte ihr gespannt zu und notierte mir jedes Wort, dankbar dafür, ihr an diesem Abend persönlich begegnet zu sein. Abschließend wurde sie von der Moderatorin gefragt: „Was sind die nächsten Pläne, Frau Professor?“ Margarete Mitscherlich lacht und antwortet: „Ich bin 87! Der nächste Plan ist, zu sterben.“ Darauf Eva Pfisterer: „Und wie ist dieser Gedanke? Wie sind für Sie Gedanken an den Tod?“ Mitscherlich: „Mit 87 sind sie ziemlich in der Nähe. Ich habe auch nichts dagegen. Ich meine, sterben ist etwas … Noch nie ist einer vom Tod zurückgekommen. Sie sterben und niemand kann Ihnen sagen, was das ist. Niemand! Es hat immer etwas Unheimliches, etwas ganz und gar Unbekanntes. Wer tröstet mich da und hält meine Hand?“