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11 Troubled water

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Das eheliche Glück meiner Eltern war bereits nach wenigen Monaten verflogen. Trotzdem sollte es noch Jahre dauern, bis meine Mutter – nicht zuletzt durch den Beistand eines behutsam an der Not seiner „Schäfchen“ orientierten Seelsorgers – den Mut fasste, sich von meinem alkoholkranken Vater zu trennen. Keine leichte Entscheidung für eine achtundzwanzigjährige Frau mit sechs Kindern im Alter von zwei bis acht Jahren. Keine leichte Entscheidung in einem ländlich-katholischen Umfeld, dem zumindest nach außen hin an „ordentlichen Verhältnissen“ gelegen war.

Geredet hat Mama (fast) nie darüber, oder besser gesagt, nur in der ihr eigenen Art eines vielsagenden Schweigens. Und so hat sich unter uns Geschwistern ein stilles Übereinkommen ergeben, die Mutter mit Fragen nach unserem Vater nicht zu überfordern. Mir als dem Ältesten fiel das besonders schwer. Nicht zu wissen, wie es meinem Vater geht, hat mir wehgetan. In meinen Gymnasialjahren habe ich dann begonnen, ihn regelmäßig zu besuchen, mit ihm zu „watten“ und ihn dabei möglichst oft gewinnen zu lassen. Beim Kartenspiel gegen seinen Sohn zu verlieren, konnte er schwer verkraften, ebenso, wenn er bemerkte, dass sein Gegner ihn trotz besserer Karten gewinnen lassen wollte. Insofern waren meine Besuche bei ihm alles andere als einfach, oft schwierige Gratwanderungen zwischen Zumutung und verletztem Stolz. Manchmal aber wurden daraus kleine Sternstunden, in denen er aus seinem Leben erzählte und dabei immer wieder darüber redete, wie sehr er sein „Ingele“, unsere Mutter, geliebt habe. Wenn er davon zu reden begann, klang für mich immer ein uneingestandener Schmerz mit, so als wüsste er im Tiefsten seines Innersten darum, das Schicksal seiner Familie mit sechs Kindern zum großen Teil selbst verschuldet zu haben. Ihm daraus Vorwürfe zu machen, wäre mir in all unseren Begegnungen im Traum nicht eingefallen. Im Sommer 1994, kurz nach seinem 64. Geburtstag, so alt wie ich heute bin, wird mein Vater mit akuter Multiorganschwäche ins Krankenhaus eingeliefert. Bei meinem Besuch dort wird mir sehr schnell der Ernst seiner Erkrankung bewusst. Als ich ein paar Tage später von der dramatischen Verschlechterung seines Zustandes erfahre, bin ich gerade mit meiner Mutter im Auto unterwegs und entschließe mich, ihn sofort zu besuchen. Dass meine Mutter mitkommen will, überrascht mich, ist sie doch all die Jahre nach ihrer Scheidung meinem Vater kein einziges Mal mehr persönlich begegnet. Allein trete ich an sein Sterbebett und sage ihm, dass auch Mama mitgekommen wäre und draußen warte. „Soll nur draußen bleiben“, lautet sein kurzer Kommentar. Als ich mich später von ihm verabschiede, frage ich meinen Vater, ob Mama hereinkommen dürfe. „Wenn sie unbedingt meint, dann soll sie halt kommen“, antwortet er knapp. Angespannt betritt meine Mutter das Krankenzimmer. „Inge!“, ruft ihr mein Vater entgegen. Ich schließe hinter ihr die Türe und lasse die beiden allein. Als Mama nach einer guten Stunde herauskommt, hat sie Tränen in den Augen. Als würde sie mich gar nicht wahrnehmen, sagt sie halb laut vor sich hin: „Nie hätte ich gedacht, dass ich diesem Menschen nach 34 Jahren so aus ganzem Herzen verzeihen kann!“ Ein paar Tage später, am 25. Juli 1994, stirbt mein Vater im Krankenhaus in Spittal an der Drau. Ich bin überzeugt davon, dass er im Grunde seines Herzens auf diese Begegnung gewartet hat, um versöhnt und in Frieden sterben zu können.

Das Vergeben und das Verzeihen gehören zu den innigsten Kulturleistungen des Menschen. Ohne die Kunst der Versöhnung, ohne die Kraft der Vergebung, ohne gelebtes Verzeihen verlieren die kleinen und großen Gemeinschaften in unserer Gesellschaft ihren inneren Halt. Nach nichts hat ein Mensch mehr Sehnsucht als nach dem anderen Menschen, der sich ihm vor allem an den entscheidenden Wegkreuzungen des Lebens als Mensch erweist. Schon Paracelsus wusste, dass „der Mensch des Menschen beste Medizin“ ist und „das beste Maß dafür die Liebe“ bleibt.

Mit dem Herzen atmen

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