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2 Verkostbare Kindheit
ОглавлениеVor meinem Elternhaus stand ein mächtiger Quittenstrauch. Jedes Jahr klagte meine Mutter über die Mühe, sie sagte dazu „Patzerei“, die ihr die Zubereitung von Marmelade und Quittenkäse aus den von diesem Strauch geernteten Früchten bereitete. Das Ergebnis ihrer Arbeit allerdings konnte sich sehen und schmecken lassen.
Bei der Alternative Marmelade oder Quittenkäse kann ich mich heute noch nicht entscheiden, am liebsten beides, vorausgesetzt, beides ist aus der Quitte hergestellt. „Die Quitte – viel mehr als nur eine ferne Erinnerung …“ So beginnt ein Buch, das der Quitte gewidmet ist.1
Die Quitte ist eine ebenso charmante wie altmodische Frucht. Allein ihr Duft ist bezaubernd: zart, frisch, herb, pelzig – irgendwo zwischen Apfel und Birne und doch ganz eigen und anders. Bis sie in den letzten Jahren wiederentdeckt wurde, lag die Quitte im Dornröschenschlaf. In der Küche verwendete man sie nur zur Herstellung von Marmelade, Gelee, Kompott oder Quittenbrot, auch Quittenkäse genannt. Nie aber wurde die Quitte dabei zum Küchenschlager; auf Märkten fand man sie kaum, schon gar nicht im Supermarkt, geschweige denn in der Haubenküche. Auch aus den Gärten schien sie schon lange verschwunden zu sein.
Ein Quittenbaum wird nicht jahrhundertealt. Seine Lebensdauer ist mit 40 bis 55 Jahren angegeben. Daraus könnte man schließen, dass seine Ära bis in die 1960er-Jahre reichte und danach nur noch von ausgesprochenen Liebhabern neue Bäume beziehungsweise Sträucher gepflanzt wurden. Der britische Biogärtner Monty Don vermutet, dass es unser Instantzeitgeist ist, der der Quitte keine Beachtung mehr schenkt. Wie mein Quittenbuch verrät, ist die Frucht bedingt durch den hohen Anteil an sogenannten Steinzellen, an dem ausgesprochen harten Fruchtfleisch und am Gehalt an Fruchtsäuren und Gerbstoffen, roh nicht genießbar. Wer an ihrem Genuss interessiert ist, benötigt also viel Zeit.
Noch im 19. Jahrhundert wurde der Anbau von Quitten trotz ihrer herben Widerspenstigkeit als ein sich auch wirtschaftlich lohnendes Projekt betrachtet. Johann Ludwig Christ schrieb 1814 in seinem „Allgemein-practische(n) Gartenbuch für den Bürger und Landmann über den Küchen- und Obstgarten“: „Die Quitten sind zwar kein Obst für jeden Gartenbesitzer, wenigstens nicht zur eigenen Consumation. Es kann aber indessen mancher bald diese, bald jene Absicht dabey haben, diesen Baum auch in seinem Garten zu haben, um seine Früchte zu erzielen. Wenigstens werde solche in den Apotheken, von Zuckerbeckern und anderen gut bezahlet.“2 Immer wieder bereiten mir Menschen, die wissen, was mir die Quitte bedeutet, mit aus ihr bereiteter Marmelade oder Käse besondere Freude. Eine Freundin beschenkt mich mehrmals im Jahr mit Likör, Käse und Tee aus Quitten, die am Iselsberg wachsen.
Wer immer den Quittenstrauch im Garten meines Elternhauses gepflanzt hat, alles, was ich heute von der Quitte genieße, ist mir seit Kindertagen vertraut, geradezu heilig, die innigste Erinnerung an das erste Haus meines Lebens. Dieses Haus gibt es schon lange nicht mehr, auch den Lindenbaum davor nicht und schon gar nicht den Quittenstrauch. Verschwunden sind mit ihm auch der Garten, der Brunnen dahinter und die Bienenstöcke meines Großvaters. Nein, eben nicht verschwunden, sondern gebündelt da im Geschmack der Quitte, löffelweise von innen her „verkostbare“ Kindheit. Wie arm bin ich, wenn ich nur an das denke, was im Laufe des Lebens verloren gegangen ist, wie reich aber, wenn ich auf das zu schauen vermag, was mir durch alle Höhen und Tiefen hindurch geblieben ist!