Читать книгу Wer die Heimat liebt wie du - Artur Brausewetter - Страница 16

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Die Freude war nur kurz gewesen. Die Sonne verkroch sich wieder, kalte Tage folgten. Die Luft war feucht und unfreundlich, sie roch nach Regen und Dunst. Baden und Bootfahren bereiteten jetzt kein Vergnügen, man war auf Spaziergänge angewiesen.

Hans hatte die Richtung nach Adlershorst eingeschlagen. Ein junges Pärchen schritt ihm voraus: seine neue Freundin mit dem Franzosen.

Er sah sie oft zusammen. Sie sassen beim Essen nebeneinander und unterhielten sich unaufhörlich, immer in französischer Sprache, die sie fliessend wie die deutsche sprach. Es war eine gewisse Anmut in ihrer Unterhaltung, die lebhaft und sprühend, aber nie laut oder aufdringlich geführt wurde.

Plötzlich machten die beiden kehrt und standen ihm gegenüber.

„Da finde ich ja die beste Begleitung!“ sagte das junge Mädchen! „Monsieur Guerard muss nämlich nach Zoppot zurück, er will seine Gattin vom Bahnhof abholen, und ich wäre noch gerne ein Stück weitergegangen, denn hier fängt es erst an schön zu werden. Nicht wahr, Sie nehmen mich mit, Herr Pastor? Auf Wiedersehen heute abend, Monsieur! Wenn Sie dann für mich noch Zeit haben.“

„Ich dachte gar nicht, dass Herr Guerard verheiratet wäre,“ äusserte Hans, nachdem sich jener entfernt hatte. Es gab zwar nichts auf der Welt, was ihm gleichgültiger gewesen wäre, als das Verheiratetsein oder Nichtverheiratetsein des Franzosen, aber er wollte doch irgend etwas sagen.

„Er ist es erst seit kurzer Zeit, seine Frau soll ein entzückendes Geschöpf sein. Sie kommen wegen der Tenniswoche nach Zoppot und wollen sich jetzt noch tüchtig einspielen ... aber man kann in diesem Wogengetose ja sein eignes Wort nicht verstehen. Ich meine, wir setzen den Weg auf der Höhe fort.“

Nun gingen sie auf der mit jungem Nadelholz bepflanzten Düne, oberhalb des Meeres, das jetzt weit unter ihnen lag. Sie trug wieder den grünen Filzhut, in dem er sie zum erstenmal gesehen, den dunklen Tuchrock hatte sie hochgerafft, und um ihr Gesicht war ein dichter Schleier gezogen, der es gegen den Sturm schützen sollte. Aber hier oben mitten in der Tannenschonung war es ruhiger, sie konnten ohne Mühe sprechen.

„Jetzt sind wir schon zum drittenmal zusammen, und ich weiss wenig, doch einiges von Ihnen. Sie aber von mir gar nichts. Sie gestatten mir also, Ihnen meine Personalien zu geben: Nuscha Löwing, 24 Jahre alt, gebürtig aus einem kleinen Ort hart an der russischen Grenze, wo, wie ich Ihnen wohl schon erzählte, meine Mutter heute noch lebt. Ich hingegen bin viel in der Welt herumgekommen, war Erzieherin in England und Frankreich und bin augenblicklich in derselben Stellung bei einem höheren russischen Beamten in Petersburg. Wenn Sie noch mehr wissen wollen, müssen Sie fragen. Freilich, ob ich Ihnen alles sagen werde, weiss ich nicht.“

Er fragte nichts. Er war auf diese Art der Unterhaltung wenig eingeübt. Zudem war der Weg hier dicht am Rande der Düne ganz eng, so dass sie nur hintereinander gehen konnten. Sie passte den schnellen, kräftigen Schritt dem seinen an und erzählte weiter: von ihrem Vater, der, ursprünglich ein reicher Fabrikbesitzer, durch eine unglückliche Spekulation sein ganzes Vermögen verloren und sich dies so zu Gemüte gezogen, dass er sich eines Tags das Leben genommen. Wie sie nun mit der Mutter und einer grossen Anzahl jüngerer Geschwister allein geblieben wäre, wie sie ihre Lehrerinnenprüfung gemacht und mit ihrem Gehalt, das sie bei freier Verpflegung nach Hause schicken konnte, für die Ihrigen sorgte. Nur weil er sie so gut bezahlte, wäre sie dann zu dem russischen Baron gegangen. Seit drei Jahren schon wäre sie dort. Im Winter lebten sie in Petersburg, im Sommer nähme der Baron einen langen Urlaub, dann reisten sie in das Hochgebirge, in die Schweiz oder nach Tirol. Aber am liebsten wäre sie in Zoppot.

Er musste aufmerken, wollte er ihre Worte verstehen. Denn der Wind war, nachdem sie die Schonung verlassen, stärker geworden und blies hier auf der freien Höhe mit vollen Backen. Zudem glaubte er aufs neue zu beobachten, was ihm bereits während ihrer ersten Unterhaltung damals im Gesellschaftszimmer des „Seestern“ aufgefallen war, dass ein leiser fremdländischer Ton in ihrer Sprache war.

Die Baronin hätte in diesem Sommer nach Tarasp gehen müssen, aber „er“ — sie brauchte immer diese kurze Bezeichnung, wenn sie von ihrem Brotherrn sprach — wollte mit den beiden Kindern nach Zoppot kommen. Sie wäre vorausgereist, um alles einzurichten. Nun könnte sie ihn jeden Tag erwarten, dann hätte ihre schöne Freiheit ein Ende. Um so mehr wollte sie sie jetzt noch geniessen.

Eine kurze Strecke führte der Weg wieder hart am Strand entlang. Die starke Brandung und der Wind, der ihnen entgegen war, machten ihn schwierig, wenigstens für Hans, obwohl er ein guter Fussgänger war. Sie focht das widerstrebende Element nicht an. Als wäre sie ein Teil von ihm, so froh und unbekümmert schritt sie durch Sturm und Wogen, die über ihren Fuss dahinfluteten und sie bis an den Kopf bespritzten.

„So ist es schön! So liebe ich es!“ rief sie, als sie einen Augenblick am Vorsprung einer Kuppe haltmachten, denn die Wellen gingen hier, wo der Pfad ganz schmal wurde, so hoch, dass sie kaum vorwärtskonnten.

„Ich muss bekennen, dass mir ein wolkenloser Himmel und eine ruhig geglättete See lieber wären, augenblicklich wenigstens für unsern Spaziergang.“

„Nein,“ gab sie lebhaft zurück, „ein verhangener Himmel kann zur Verzweiflung bringen, aber der ewig blauende macht mich erst recht müde und traurig. So ist es das Rechte: immer wechselnd Licht und Finsternis! Immer das Ungewisse, das macht den Reiz des Lebens aus. Ein unablässliches Neigen und Steigen, just so wie an dieser Klippe. Nur keine sonnenstille Ruhe, immer Unruhe und Wagen und Gefahr — immer das Spielen um Leben und Tod!“

Sie brach ab, ganz plötzlich, und wie es schien, nicht ohne Absicht. Da kamen ihm ihre letzten Worte zum Bewusstsein.

„Immer in Gefahr?“ wiederholte er. „Und immer ein Spiel um Leben und Tod? Wissen Sie etwas davon in Ihrer Jugend und gesicherten Stellung?“

„Und ob ich etwas davon weiss! ... Doch kommen Sie, wir wollen jetzt hier wieder die Klippe empor, da oben führt ein wundervoller Weg durch eine kleine Waldung. Ich kenne sie von den früheren Jahren her und werde Sie führen.“

„Dann müssen wir wieder zurück. Hier führt kein Weg herauf.“

„Was brauchen wir Weg und Steg? Sie run wirklich manchmal so, als wenn Sie ein alter Herr wären ... vorwärts!“

Behend wie eine Gemse kletterte sie die steile Anhöhe empor, ab und zu fasste sie eins der zahlreichen Gestrüppe mit der Hand und liess sich von ihm emporziehen. Dabei sprach und scherzte sie, sich zu ihm zurückwendend, ohne Aufhören, obwohl er jetzt auch nicht eine Silbe vernahm. Alles war in ihr Bewegung: jede Muskel des geschmeidigen Körpers, das schwarze krause Haar, das der Wind zauste, und die kirschroten Lippen, von denen die Worte glatt und leicht wie Perlen fielen.

Nun schritten sie wieder auf ebenem, gepflegtem Wege durch Laub- und Nadelholz, zwischen den Bäumen hindurch sahen sie das schaumgekrönte Wasser, dumpftosend drang das Geprall der Wogen an ihr Ohr.

„Hier bin ich im vergangenen Jahr fast jeden Tag gegangen. Er arbeitete dann auf seiner Veranda, und die Kinder spielten am Strande.“

„Und seine Frau?“ fragte er nebenhin.

Sie streifte ihn mit einem schnellen Blick: „Die lag in ihrer Hängematte im Südpark und las Dostojewskys ‚Raskolnikow‘.“

Allmählich verlor sich der Wald und lichtete sich dann ganz. Nun gab es nur noch einzelne verknorrte und verkümmerte Stämme im dichten Dünensande.

Sie gingen am Rande eines Getreidefeldes mit kecken blauen und roten Eindringlingen, die sich wie träumende Müssiggänger auf den schlanken Stengeln wiegten. Mit starker Hand strich der Wind über die hohen Ähren, sie duckten sich und hoben sich wieder und rauschten wie die Wogen des Wassers. Unter den Wolken, die sich dunkler und dichter türmten, flog eine Schar von Raben dahin, dem Meer entgegen, und über ein Brachfeld, dem Horizont zu, zog ein Schäfer mit seiner Herde; das vielstimmige Blöken der Tiere einte sich mit dem aufgeregten Gekrächz der Raben. Laut bellte der Hund. Die ersten Häuser von Adlershorst wurden sichtbar.

„Nun werden wir erst ins Kurhaus gehen und eine Tasse Kaffee trinken,“ schlug sie vor, „und dann führe ich Sie durch das kleine uckige Dorf hoch oben auf die Spitze von Adlershorst. Dort haben wir den schönsten Blick der Welt.“

In dem grossen Saal des Kurhauses war es leer und ungemütlich, er fühlte sich wenig behaglich, sie aber löffelte die Schokolade, die sie sich bestellt hatte, mit sichtbarer Lust und vertilgte einen Berg von Kuchen dazu; ab und zu glitt die kleine Zungenspitze an die roten Lippen, um die Reste der Kuchenkrümel von ihnen zu tilgen. Eine gewisse Gier war in ihrer Art zu essen, nichts Feines, aber auch nichts Unappetitliches. Auch hier erschien sie, wie in allen Äusserungen ihres Wesens, das rechte Kind der Natur, das von der Kultur und Gesellschaft nur geradesoviel Firnis entliehen hatte, wie es für den Menschen unsrer Tage unumgänglich notwendig war.

„Ich las einmal einen russischen Roman,“ sagte er, „er war sehr traurig, aber gut. Die Heldin war ein junges Mädchen der Steppe. Sie ist in meiner Erinnerung wieder aufgelebt, seitdem ich mit Ihnen zusammen bin.“

Wieder der schnell hinstreifende Blick.

„Er war sehr traurig?“

„Ja.“

„Wie das Leben — nein, heute nicht, heute ist es schön und voller Kraft wie der Sturm da draussen. Ich bin satt, wir können wieder ins Freie.“

Er bezahlte, sie liess es als selbstverständlich geschehen und dankte auch nicht.

Der Sturm war zu einer Stärke gelangt, wie er hier an der Küste nur selten ist, besonders im Anfang Juli. Mit langatmigen Stössen kam die See gegen das Ufer gedonnert, jagte die wirbelnden Wogen vor sich hin wie eine Meute losgelassener Hunde, peitschte sie gegen die Pfähle der kleinen Badeanstalt. Und wenn sich ihre weissen Gischtköpfe an ihnen zerschlugen, dann brüllte sie, durch den Widerstand gereizt, wie ein wildes Tier zum Himmel empor, der jetzt dumpf und bleiern ohne jeden Durchblick des Lichts, ja fast ohne eine Schattierung über den erregten Wassern hing.

Sie waren auf den Seesteg getreten. Blaugrün, wie gekocht, rollte das Wasser unter ihnen dahin, reckte sich mit aufschwellendem Kamme zu ihnen empor, taumelte zurück in die Tiefe in donnerndem Zusammensturz — ein Schauspiel von unbeschreiblicher Erhabenheit, auf das stumm und starr die Hügelkette rings am Ufer herabsah.

Gebannt stand Hans. Auch seine Begleiterin wandte keinen Blick von den entfesselten Elementen; den Kragen der pelzverbrämten Jacke hatte sie hochgezogen, ihre Hand hielt ihn fest umschlossen, den Filzhut hatte sie dicht in die Stirn gedrückt, unter ihnen leuchteten die frischen Wangen. Mit einem Male wandte sie sich um.

„Es ist etwas in der Luft um uns,“ sagte sie mit einer Stimme, deren ernster Ton ihr wunderbar anstand, „etwas Grosses, Unheilschwangeres. Und wissen Sie auch, was das ist? Das ist der Krieg!“

Eine lange Weile sprachen sie kein Wort, auch dann nicht, als sie vom Stege fort hinter dem Kurhause aufwärts den steilen, mit rohen Steinen gepflasterten Weg emporstiegen, der anfangs zwischen niedrigen Häusern mit schmucken, blühenden Vorgärten, später durch einen kleinen, jedoch dichten und dunklen Wald zur Höhe der Klippe hinaufführte.

Die regenschweren Wolken hatten sich ganz tief gesenkt. Bald lagerten sie sich mit drückender Wucht auf die Hügel und Berge, bald setzten sie sich wie eine Kappe aus Gaze auf die Häupter der beiden Vorgebirge, die unmittelbar vor ihnen ins Meer hinausragten.

„Es ist hier beinah wie im Gebirge, wenn man endlich einen Höhepunkt mit Mühe erreicht hat und nichts sieht,“ sagte sie mit dem Missmut eines Kindes, dem man ein Vergnügen, auf das es sich lange gefreut, eigenwillig zerstört. „Aber“, suchte sie sich nach ihrer Art zu trösten, „es ist ja überall so. Wir sehen nie ohne Schleier, im ganzen Leben nicht ... ich Sie nicht und Sie mich nicht. Was wissen wir beide voneinander? Und wenn wir einen ganzen Sommer hindurch solch eine Wanderung zusammen machten, würden wir uns deshalb näherkommen?“

„Sieh,“ dachte er bei sich selbst, „sie ist so ungeistig gar nicht, wie du meintest, sie philosophiert auf ihre eigne Art, und was sie da eben sagte, klang gar nicht so ungescheit.“ Laut aber erwiderte er: „Sie haben recht. Wir wissen nichts vom andern und am wenigsten von uns selber. Die Nähe entfernt, die Ferne bringt nahe, das ist das wunderbare Gesetz des Lebens, das wir nie erforschen werden, und würde uns das Alter des Meeres oder der ewigen Berge.“

Aber nun war sie schon nicht mehr bei der Sache.

„Es wird kalt hier oben,“ sagte sie, indem sie mit den festen Schuhen den Fussboden klopfte, „und Sie hängen Ihren Gedanken nach und kümmern sich keinen Augenblick darum, wenn ich armes Kind hier neben Ihnen erfriere. Wir wollen uns drinnen im Walde ein schützendes Plätzchen suchen, dann können Sie meinetwegen weiterphilosophieren. Obwohl ich lieber etwas Lustiges von Ihnen hörte — ich glaube, Sie können gar nicht lustig sein.“

Sie hatten den gewünschten Ruheplatz gefunden: eine kleine moosbewachsene Erhöhung unter einer niedrigen Buche, deren Zweige hinter ihnen zuschlugen wie eine Tür.

„Und nun kommen Sie und wärmen mich ein bisschen mit Ihrem grossen Lodenmantel!“

Sie rückte dicht an ihn heran, nahm die eine Hälfte seines Mantels, schlug sie um ihre Schulter und kauerte jetzt, mit den Zähnen vielleicht mehr absichtlich als unwillkürlich klappernd, an seiner Seite. Er fühlte den warmen Strom ihres Blutes, der belebend zu ihm herüberfloss; nie hatte er sich einem weiblichen Körper so nahe gefühlt.

Über ihnen sang der Sturm sein Lied in den Ästen der Bäume. Von unten her aber drang die Brandung des Meeres zu ihnen empor wie Orgelton in den tiefsten Registern. Von den nahen Feldern trug der starke Lustzug den Duft der Roggenblüte, der sich mit dem feuchten Moos- und Erdgeruch einte.

Immer noch sass sie dicht an ihn geschmiegt. „Ihr Deutschen seid alles: klug und denkend und auch gut, ja sehr gut. Aber galant seid ihr nicht, es ist euch nicht gegeben; die feine, sanfte Zärtlichkeit der Franzosen kennt ihr nicht, die man haben kann, ohne etwas Böses zu denken und zu wollen, und die doch wohltut, besonders wenn man friert — wie ich jetzt.“

Ihre Hand suchte unter dem dichten Mantel die seine, eiskalt lag sie zwischen seinen Fingern. Heiss stieg es in seinem Inneren auf ... mit einem Male sprang sie empor, ganz schnell und unvermittelt: „Nach Hause!“ rief sie mit gepresster, geängstigter Stimme. „Die Sonne geht schon unter, es wird Nacht, bevor wir im ‚Seestern‘ sind.“

Sie wählte nicht den gutangelegten Weg, den sie heraufgegangen waren, steil im Zickzack durch Baum und Busch stürzte, sprang sie den Abhang mit einer Behendigkeit herunter, dass er ihr nicht zu folgen vermochte. Als wäre eine Rotte von Verfolgern hinter ihr her, so gehetzt lief sie. Aber mit einer Sicherheit zugleich, die jedem kleinen Hindernis, jeder Baumwurzel und jedem Stein unfehlbar aus dem Wege ging. Endlich hielt sie in ihrem wilden Lauf an, setzte sich, an einer scharfen Biegung des Pfades angelangt, einige Meter über dem Meer auf einen Felsblock und winkte ihm, der weit oberhalb von ihr war, mit der Hand zu. Nun wartete sie ruhig, obwohl es eine kleine Weile währte, bis er in ihre Nähe gelangt war.

„Warum stürzten Sie den Berg wie eine Besessene herunter? Und warum wählten Sie nicht den Pfad, den alle Menschen gehen?“ fragte er halb unwillig, halb scherzend.

„Weil es mit einem Male über mich kam!“ erwiderte sie lachend.

„Über Sie kam?“

„Sie sagten es ja eben selber: das Besessene. Mein Blut muss dann eine Ablenkung haben, sonst wird es rebellisch. Nein, sehen Sie mich nicht so erschreckt an, jetzt ist es wieder ganz ruhig und vernünftig ... Stützen Sie mich, bitte, wenigstens bei diesem kurzen Abstieg hier! Ich glaube, ich habe mir den Fuss verletzt. Aber es ist nicht der Rede wert.“

„Sehen Sie, die Strafe für Ihren Leichtsinn! Diese ungeebneten Wege steil die Klippe herab sind, wenn man sie nicht genau kennt, gar nicht so ungefährlich, besonders in solchem Sprungschritt nicht.“

Ein kurzer, flimmernder Blick zwischen den dichten, seidenen Wimpern: „Ich habe in meinem Leben ganz andre Wege gemacht, die ich noch weniger kannte, und die ein gut Teil gefährlicher waren.“

„Ja, Sie erzählten vorhin. Sie waren viel in der Schweiz. Sie sind Hochtouristin?“

Sie lächelte, ihr graziöses überlegenes Lächeln. „Ach nein, das meinte ich nicht.“

Und nun, das Antlitz ihm nur halb zugewandt: „Wissen Sie, dass es Menschen gibt, jenen Tieren ähnlich, die im Dunkeln besser sehen und sich bewegen als im Hellen? Menschen, die nur deshalb nie fallen und straucheln, weil sie eine Gefahr nicht kennen?“

Er verstand ihre Frage nicht. War es ein Scherz oder —? Aber schon flog wieder ein stilles Lächeln um den scharfgeschnittenen Mund: „Ich muss an unsre philosophische Unterhaltung denken, da vorhin auf der Klippe: dass kein Mensch eine Ahnung von dem andern habe, und gingen sie noch so dicht nebeneinander her. Und ist es nicht gut so? Wenn einer den andern kennte, auch nur das Geringste von dem ahnte, was in ihm vorginge — wie furchtbar wäre das Leben! Sehen Sie, Pastor, wenn Sie wüssten, wen Sie da oben in den Schutz Ihres Wettermantels genommen, wem Sie jetzt die stützende Hand reichen — nein. Sie brauchen mir deswegen Ihren Arm nicht zu entziehen — ich brauche ihn wirklich noch. Das wollten Sie auch gar nicht? Aber er zuckte ja mit einem Male so zusammen. Und wahrhaftig, Ihre Hand, die vorhin so schön warm war, ist ganz kalt geworden. Gestehen Sie es nur: Sie haben Angst vor mir! Und wer weiss, ob nicht mit Recht?“

Er schämte sich. Er hielt ihre Hand fester in der seinen, er zwang sein Gesicht zur Heiterkeit. Aber ganz geheuer war ihm die Sache doch nicht. Ihre Worte wie ihr Wesen fingen an ihm rätselhaft zu werden. Es mochte wieder an ihm liegen und an seiner geringen Kenntnis der weiblichen Seele. Ein Ausspruch von Fritz fiel ihm ein. „Du kannst mir glauben,“ hatte der einmal zu ihm gesagt, „jede Frau, auch die scheinbar einfachste, wird ein Rätsel, sowie du anfängst, ihr nur ein wenig näherzutreten.“ Dabei beruhigte er sich.

Sie hatten den Strand verlassen und waren auf die Promenade gelangt. Nun nahm sie ihre Hand mit einem kurzen Dankeswort aus der seinen und ging allein an seiner Seite. Er sah, dass sie den linken Fuss ein wenig nachzog, ab und zu lief auch ein schmerzliches Zucken über ihr Gesicht. Aber er merkte, dass sie nichts aufkommen lassen wollte, und bot ihr nicht noch einmal den Arm.

Am Himmel türmten sich immer neue Wolkenberge, das dunkelrote Feuer der verglimmenden Sonne wurde förmlich von ihnen ertränkt. Nuscha beflügelte den Schritt. Sie war mit einem Male ganz still geworden. In dem scharfen Abendlicht hatte ihr schwarzes Haar einen metallenen Glanz, und der hartgeprägte Zug um die roten Lippen trat stärker hervor.

Wer die Heimat liebt wie du

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