Читать книгу Wer die Heimat liebt wie du - Artur Brausewetter - Страница 5

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Was lange nicht in Reckenstein geschehen war, das geschah heute: man feierte ein Fest.

Edith, die einzige Tochter des alten Reckensteiner, die ihm seit fünf Jahren in Haus und Hof die früh heimgegangene Gattin mit Umsicht und Treue ersetzte, beging ihren einundzwanzigjährigen Geburtstag. Der Reckensteiner war für die Feste nie zu haben gewesen; in seiner Eintönigkeit lag für ihn des Lebens Sinn und Glück. Diesmal machte er eine Ausnahme; von ihm war die Anregung zu dieser Feier gekommen.

Klein war der Kreis der Geladenen: aus der Nachbarschaft Harro von Ubitzsch, hager, ernst, verschlossen, mit einer kleinen, gern ins Leere schwätzenden Gattin; von weiter her Dr. Werner Stoltzmann, der erste Bürgermeister von Rodenburg, der kurze Zeit in Königsberg Stadtkämmerer gewesen, und den für ihre aufblühende Stadt und nicht leichte Verwaltung gewonnen zu haben die Rodenburger Stadtverordneten mit Stolz zur Tat sich rechneten. Er war noch jung und von ausgesprochener Begabung, deren Bewusstsein sich in einem für seine vierunddreissig Jahre sehr sicheren Wesen und Auftreten prägte, das ihm von mancher Seite als Hochmut und Selbsteingenommenheit ausgelegt wurde. Wer ihn jedoch genauer kannte, wie der Reckensteiner und seine Tochter, der wusste, dass er im Herzen demütig und bescheiden war. Aber das Leben und die grosse Öffentlichkeit, in die es ihn so früh gestellt, mochten ihn gelehrt haben, dass in dieser Welt mit solchen Tugenden nicht viel anzufangen war.

Den ausgleichenden Gegensatz bildete seine Frau, eine hochgewachsene Brünette mit roten, runden, weichen Wangen, lachenden Augen und einer kühngebauten Nase mit ganz dünnen, feingezeichneten Flügeln, die, wenn sie sprach, leise zitterten. Aus einer alten rheinischen Offiziersfamilie stammend, hatte sich Frau Lisa vermöge einer tadellosen Erziehung in die steiferen norddeutschen Verhältnisse schnell eingelebt und durch ihr natürliches, warmherziges Wesen die Herzen aller Rodenburger im Fluge gewonnen, auch derer, die ihrem Gatten vorläufig noch wägend gegenüberstanden.

Edith, ernster, aber lebensbejahend wie sie, war ihr von einem Genfer Pensionsjahr eng befreundet, nun wurde der Verkehr, nachdem sie sich eines Tags hier wiedergefunden, möglichst aufrechterhalten, wenngleich man bis Reckenstein drei Stunden Eisenbahnfahrt hatte und die beiden Männer durch die Unterschiede von Alter und Gesinnung weit getrennt erschienen.

Der Tag war für die frühe Jahreszeit ausnehmend heiss gewesen. Als man sich in dem grossen Esszimmer zur Abendtafel niederliess, blieben die Fenster und die beiden Flügel der auf die Gartenveranda hinausführenden alten Eichentür weit geöffnet. Obwohl die Dunkelheit noch nicht eingetreten war, hatte man die Kerzen auf den mächtigen silbernen Armleuchtern angezündet, die, von den Urvätern geerbt, zu den schönsten Stücken des Reckensteiner Hausschatzes gehörten. Ihr im leichten Luftzug flackerndes Licht griff mit langen Fingern über die Frühlingsblumen dahin, die betäubend duftend die Tafel zierten. Durch die Fenster und die Tür aber drang das allmählich matter und dämmerungsstiller werdende Abendlicht. Und wenn die Unterhaltung einmal verstummte, dann vernahm man von draussen her das Lied einer Nachtigall in wundervollen, bald jauchzenden, bald schluchzenden Klängen.

Nun aber brach es ab, von einem lauten Ton, der seine weichen Melodien schrill abschnitt, zum Schweigen gebracht. Dr. Stoltzmann hatte an sein Glas geklopft und sich erhoben.

„Meine Damen und Herren,“ begann er in seiner etwas harten, aber des Wohlklangs nicht entbehrenden Sprache, „Sie wissen, dass ich mehr der Mann der sachlichen Rede als der wohlgestutzten Tafelsprüche bin. Die freundschaftliche Stellung jedoch, die wir zu unsern Gastgebern, die insbesondere meine Frau zu der Tochter dieses Hauses einnimmt, treibt mich heute, zugleich in ihrem Namen, in diesem Kreise auserwählter Freunde Fräulein Edith unsre Glückwünsche darzubringen. Es ist der Tag, an dem sie“ — er nahm einen Anflug, humoristisch zu werden, was ihm aber nie sonderlich gelang — „aus den Kinderschuhen tritt und unter die Erwachsenen aufgenommen wird. In ihren äusseren Lebensbeziehungen wird dies Ereignis wenig ändern. Und das ist gut; die in der Heimat wurzelnde und in ihr wirkende, die haus- und bodenständige Frau ist für mich die stärkste und tüchtigste. Wir freuen uns, dass unsre jugendliche Wirtin hier in ihrer schönen ostpreussischen Heimat, die seit einer Reihe von Jahren auch die meine zu nennen ich stolz und glücklich bin, auf der Scholle ihrer Väter ein Feld reicher Wirksamkeit und segenbringender Arbeit gefunden. Dass sie ihrer Tätigkeit, diese ihr in jener glückbringenden Enge und Weite zugleich erhalten bleibe, wie sie sie zum Wohle ihres Vaters, seines schönen Gutes und aller Leute, die in Reckenstein arbeiten, bisher mit ihrem lebensfrohen Sinn erfüllt hat, das ist mein Wunsch zu ihrem Geburtstage. Darauf bitte ich Sie, mit mir die Gläser zu erheben und zusammenstossen zu lassen in einem frohen und kräftigen Hurra für Fräulein Edith von Barrnhoff!“

„Hurra, hurra, hurra!“ tönte es von der Tafelrunde wider. Aber es war ein matter, ein beinah zerstreuter Widerhall. Schon die letzten Worte des Redners hatten keine Aufmerksamkeit mehr gefunden, ein andrer Klang hatte sich in sie hineingemischt, erst von der Ferne, dann näher und näher kommend: der Hall von Hufeisen, die mit eilendem Trabe auf das Pflaster der Auffahrt schlugen und nun — „Da hört sich ja alles auf!“ rief der Reckensteiner und sprang mit zornglühendem Antlitz von seinem Stuhl empor. „In meinen Garten reiten sie!“

„In unsern Garten?“ fragte jetzt auch Edith. „Das ist unerhört!“

Aber bevor sie oder ihr Vater nach draussen treten konnten, waren bereits zwei Reiter in der schmucken Offiziersuniform der Kürassiere über die kleine, den Garten vom Hof abschliessende Dornhecke gesetzt, in kurzem Galopp über den zu Ehren des heutigen Tages mit besonderer Sorgfalt geharkten Steig gesprengt und hielten plötzlich die schweisstriefenden Pferde unmittelbar vor den Holzstufen an, die zur Gartenveranda emporführten. Und immer noch nicht genug, jetzt zwangen sie die auf solche Kunststücke wohlgeübten Pferde die kleine Treppe empor, und ehe sich die Gesellschaft, die sich ausnahmslos von der behaglichen Abendtafel erhoben, von ihrem Erstaunen erholt hatte, standen sie mit ihren Pferden oben auf der Veranda. „Hurra, hurra, hurra!“ riefen sie, den rechten Arm erhebend, zehnmal so kräftig, als es eben erst die ganze Tafelrunde fertiggebracht hatte, und noch einmal: „Hurra dem Geburtstagskinde!“

Das alles war das Werk eines Augenblicks; so schnell und überraschend war es gekommen, dass niemand wusste, wie ihm eigentlich geschehen, und was dieser unbegreifliche Einfall bedeuten sollte.

„Fritz Warsow!“ hörte man da Ediths helle Stimme, und in ein heiteres, glückliches Lachen ausbrechend, streckte sie dem einen der beiden Reiter ihre Hand entgegen. Der war bereits abgesessen, grüsste und erwiderte ihren herzlichen Händedruck. Dann trat er zu dem alten Reckensteiner: „Verzeihen Sie diesen Überfall, Herr Major, aber ich musste meine Wette gewinnen. Und gestatten Sie mir, Ihnen und den Damen und Herren meinen Kameraden, Herrn von Uechteritz, vorzustellen, der mich als einwandfreier Zeuge begleitet hat, und dem ich Ihre Gastfreundschaft oft gerühmt habe.“

Auch der war längst aus dem Sattel gestiegen; ein herbeigeeilter Knecht nahm die dampfenden Pferde in Empfang und führte sie in den Stall. „Aber tüchtig abreiben und gut füttern, sie haben etwas geleistet!“ rief ihm Fritz Warsow nach und begab sich mit seinem Kameraden auf ein Fremdenzimmer, um sich nach dem schweren Ritt für die Tafel zurechtzumachen.

Sehr bald kehrten sie zurück und nahmen die ihnen eingeräumten Plätze, Herr von Uechteritz zwischen den beiden elternlosen Besitzerstöchtern, Fritz Warsow zwischen Edith und Frau Stoltzmann.

„Aber Ihre Wette, Herr Rittmeister!“ rief der Reckensteiner von der gegenüberliegenden Seite der Tafel. „Edith hat mir nie ein Wort davon erzählt.“

„Ich hatte sie völlig vergessen,“ gab diese zurück

„Ja, Ihre Wette!“ tönte es von mehreren Seiten zu ihm herüber.

„Ich hatte mit Fräulein von Barrnhoff vor einem Jahre, als ich ihren Geburtstag in unverantwortlicher Weise vergessen hatte, gewettet, dass ich bei der nächsten Wiederkehr dieses Tages zur Stelle sein würde, und wenn ich von meiner Garnison aus in einer Strecke bis in Ihren Esssaal hineinreiten müsste.“

„Und haben glänzend gewonnen!“ rief die temperamentvolle Bürgermeistersfrau, und ihre Wangen blühten wie die roten Nelken auf ihrer Brust. Solch ein Abenteuer und Reiterkunststück, das war nach ihrem Geschmack! Was sie noch hinzugewünscht hätte, und was ihr eigentlich fehlte, war, dass Fritz Warsow seine Wette nicht wörtlich ausgefochten und mit seinem Kameraden mitten ins Esszimmer gesprengt war. Und hätten sie dabei die ganze Tafel in Grund und Boden geritten! Der stürzende Tisch und die klirrenden Scherben — es wäre ein richtiger rheinischer Karneval gewesen, und der war das einzige, was sie bei aller Anpassung und Eingewöhnung im nüchternen Norden entbehrt und diesem bis zum heutigen Tage nicht verziehen hatte!

Aber auch der alte Reckensteiner schmunzelte behaglich vor sich hin. Das Stück gefiel ihm. Er hatte den Fritz immer gern gehabt. Er war ja selber Soldat mit Leib und Seele gewesen, alle Übungen hatte er mitgemacht, noch bis vor zehn Jahren. Dann hatte er aufhören müssen. Aber den Titel „Major“ hatte er erhalten und war stolz darauf. „Und wenn es einmal darauf ankommt, ich bin der erste, der mitmacht — am liebsten gegen die Russen!“ pflegte er zu sagen.

„Wie lange sind Sie unterwegs gewesen, Herr Rittmeister?“ wandte sich Frau Lisa aufs neue zu Fritz, und ihr frohes Auge lachte ihm voller Wohlgefallen entgegen.

„Acht Stunden, gnädige Frau, die kurze Mittagsrast nicht eingerechnet. Aber zuletzt sind wir auch wie die Teufel geritten, ich weiss nicht, trieb uns der Hunger oder die Sehnsucht.“

Edith kannte ihn sonst nur ernst, um so mehr gefiel ihr sein heiteres Wesen und der frische Humor, der ihm gut stand. Er war keine in die Augen fallende Erscheinung, vielmehr von untersetzter, beinah kleiner Gestalt, aber in seinem Gesicht war ein Zug von Kraft und Energie, und sein Blick war klug und gut zugleich.

Nun zog ihn Frau von Ubitzsch in ein sehr eingehendes Verhör. Eine Weile hielt er ihr geduldig stand, dann brach er ein wenig unvermittelt ab und beteiligte sich an der lustigen Plänkelei, die sein Freund Uechteritz mit zwei jungen Landdamen aus der Nachbarschaft eröffnet hatte. Aber mit wenig Eifer; er hatte hübsche Mädchen gern, doch das eigentlich Gesellschaftliche und der leichte Ton, den es erforderte, lag ihm nicht. Das Kräftige und Männliche seines Wesens paarte sich mit einer gewissen Schüchternheit, über die er schwer Herr wurde.

Es war stiller an der Tafel geworden. Aus dem Garten klang, nicht so laut und quellend mehr wie vorhin, aber mit noch süsserem Wohllaut, die Musik des Vogels, der das Hohelied der Liebe und Minne sang. War es Jubel oder Traurigkeit?

Man hatte nicht lange bei Tisch gesessen, der Garten da draussen lockte. Fritz Warsow ging an Frau Lisas Seite. Die warme Luft zitterte im Frühlingsblütenduft, ein wenig Mond war schon da: eine ganz schmale Sichel, die blass und milchweiss über den zackigen Wipfeln der Bäume hing. Etwas Geborgenes und Beruhigendes ging von dem scheidenden Tag aus, der Himmel war ein Spiel von aufglühenden und verlöschenden Farben. Vom Hofe her klang das Brüllen der Kühe, ab und zu auch das Wiehern eines Pferdes aus den Ställen. Alles war Stille und Frieden.

„So etwas kann man nur auf dem Lande haben,“ sagte Fritz Warsow, und mit einem Seufzer der Befreiung und Erleichterung, der aus einem aufrichtigen Herzen kam: „Hier ist man doch wirklich einmal Mensch!“

Frau Lisa war nicht ganz seiner Meinung; sie liebte auch das Land, aber sie liebte es wie ein Mensch, der nicht mit ihm verwachsen ist: mehr von der Ferne, wie ein angenehmes Schauspiel, dem man ein paar Stunden zusieht. Aber in der Seele gepackt und ergriffen ist man nicht von ihm; von seinen lösenden Geheimnissen, seiner tiefen Schöpferkraft hat man nie etwas erfahren, sein Atem ist einem nicht ins Herz gedrungen. Sie widersprach nicht, doch sie nahm die nächste Gelegenheit wahr, in ihrer munteren Beredsamkeit ein Loblied auf die Stadt zu singen, die die wirkenden Kräfte des Menschen im Zusammensein mit den andern, im frohen Wettstreit von Arbeit und Lust mehr wachrufe als das beschauliche Land.

Er liess sie reden und hatte sein stilles Gefallen an ihrer sprudelnden Begeisterung. Aber bei der Sache war er nicht. Als ginge er ganz allein durch diesen wunderbaren Abend, so gab er sich der Fülle seiner Eindrücke und dem linden Zauber hin, der aus jedem Beet, jedem Strauch zu ihm sprach.

Als sie in den Park einbogen, kam ihnen ein andres Paar entgegen: Edith an der Seite von Uechteritz, der in seiner frohen Soldatenart auf die Stillere einredete. Bald hatten sie die Plätze gewechselt, und keiner schien mit dem Tausch unzufrieden. Fritz ging jetzt mit Edith, und Frau Lisas helles Lachen klang wie helles Vogelgezwitscher zu ihnen herüber, während sie sich in die Tiefe des Parkes verloren. An dem Stamme einer alten Rotbuche, deren Zweige bis tief auf die Erde reichten, blieb Edith stehen: „Ist es wahr, Fritz, wirklich wahr?“

Er verstand sie sofort. „Ja,“ sagte er, „es ist wahr. Ich habe noch mit keinem darüber gesprochen. Aber du magst ein Recht haben, es zu erfahren.“

„Du gehst?“

„Ich habe gestern mein Gesuch eingereicht. Zuerst den üblichen Urlaub auf ein halbes Jahr oder länger. Doch das ist nur die Einleitung.“

„Und dann?“

„Nehme ich meinen Abschied — es scheint dich nicht angenehm zu berühren.“

„Ich erlaube mir kein Urteil. Aber ganz begreiflich ist es mir nicht.“

Ein Schatten flog über sein Antlitz. „Und ich glaubte, niemand würde es verstehen wie du.“

„Vielleicht, wenn du mir Zeit lässt, mich dareinzufinden — heute ist es mir etwas Fremdes. Du hast mich ja schon einmal schwerfällig genannt.“

Eine alte Erinnerung schien in ihm wach zu werden, er lächelte. „Glaubst du, dass es mir so leicht geworden? Unsre Naturen sind so unähnlich nicht. Ich habe lange genug mit dem Entschluss gerungen, jetzt ist er unabänderlich.“

„Eben jetzt, wo du befördert und nach Berlin in den Generalstab berufen bist.“

„Gerade deshalb gehe ich.“ Und als sie schwieg: „Man überschätzt meine Fähigkeiten. Ich kann nur gedeihen und wirken in der frischen Luft, in der Natur, auf dem Pferde, das durch Felder und Wälder fliegt. Die sitzende Lebensweise, das Arbeiten in der engen Stube ist nichts für mich.“

„Du hast deine Verdienste. Man würde deinen Wünschen Rechnung tragen, der Vater meinte es gestern erst.“

„Er irrt. Im Soldatenberuf gibt es kein Wünschen, sondern nur Gehorchen. Man bestimmt uns den Platz, wir wählen ihn nicht. Und es ist recht so. Will ich mein eigner Herr sein und mir ein Dasein zimmern, wie es meiner Eigenart entspricht, so bleibt mir nichts als das Gehen.“

Ein heimliches Dunkel schlich über die Wege. Unter den Bäumen war es kühl geworden. Ein Stern leuchtete auf.

„Und wenn man dich nun in deiner Garnison gelassen hätte?“

„Vielleicht wäre ich geblieben,“ erwiderte er nach kurzem Nachdenken, „vielleicht auch nicht. Sieh, Edith, es ist ein eigen Ding um den Beruf des Soldaten im Frieden. Er ist für den Krieg geschaffen.“

„Wer weiss, wie bald wir ihn haben werden!“

„Dann wäre es Lust und Glück, Soldat zu sein!“

„Und nun?“

„Es mag im Blute liegen,“ antwortete er, und seine Stimme war ernst, beinah schwer, „das klebt an der Scholle und kann nicht von ihr los. Es ist etwas in mir, das mich zum Lande drängt, auf dem ich grossgeworden, mit dem ich mich eins fühle. Die Grossstadt würde mich ersticken, die letzte Kraft in mir lahmlegen. Ein andrer kann es mir nicht nachfühlen, ich aber weiss es.“

„So ist es dein Ernst, Landmann zu werden?“

„Es stand mir seit Jahr und Tag fest, ich konnte nur nicht zum Entschluss kommen. Nun ist der letzte Zeitpunkt da, später wäre ich zu alt, um noch einmal in die Schule zu gehen.“

„Du willst nach Bärwalde zu deinem Onkel?“

„Ich gedenke morgen von hier herüberzureiten und das Nähere mit ihm zu besprechen. Wenn er auch jetzt kränklich ist und sich um die Wirtschaft nicht viel kümmert, so hat man doch viel von ihm, denn er ist klüger als all die andern und hat eine reiche Erfahrung. Und sein Inspektor, du kennst ihn ja, der alte Borowski, ist der beste Lehrer, den ich haben kann. Auch in dem steckt mehr, als sein schlichtes Wesen auf den flüchtigen Blick zeigt.“

Edith kannte Fritz, sie wusste, dass er nie von dem abzubringen war, was er sich vorgenommen. Sie schlug deshalb einen scherzenden Ton an, den er seit den Kinderjahren an ihr geliebt, und der von jeher so manches ernste Gespräch zwischen ihnen beschlossen hatte. „Höre mal, wenn du jetzt mit einem Male aus einer verheissenden Laufbahn herausgehst und ausgerechnet Landwirt wirst, und noch dazu bei dem alten kinderlosen Onkel in Bärwalde, was werden deine Kameraden sagen? Werden sie auch so harmlos an die Reinheit deiner Neigung glauben wie ich?“

Er lachte. „Du meinst, sie werden mich für einen geriebenen Jungen halten, der sich beizeiten das warme Nest sichern will. Du kannst ruhig sein, gegen einen solchen Verdacht bin ich gefeit. Bärwalde ist noch nicht Majorat, aber es ist stets als solches behandelt worden, man ist genau nach den Gesetzen des Alters verfahren. Und da Hans der ältere von uns beiden ist —“

„Hans? — Der?!“ fragte sie, und ihre Stimme hatte mit einem Male einen gleichgültigen, einen beinah geringschätzigen Klang. „Der kommt doch gar nicht in Betracht. Der lebt ja nur in höheren Gefilden und fühlt sich in seiner Dozententätigkeit von Herzen wohl. Er schreibt einen Aufsatz nach dem andern, man kann kaum eine Zeitung oder Zeitschrift aufschlagen, ohne seinen Namen zu lesen.“

„Du hast von seiner geistigen Tätigkeit nie sehr hoch gedacht.“

Sie schürzte die Lippen. „Sie liegt uns, sie liegt euch Bärwaldern allen eigentlich sehr fern. Es ist etwas — ich möchte dich oder ihn nicht verletzen, aber ich kann mich nicht anders ausdrücken — etwas nicht ganz Männliches in ihr. Ihr, eure Vorfahren, alle, wie du mir so oft erzählt, bebauten ihr Land oder führten das Schwert. Er studierte Theologie und Philosophie und wer weiss was noch und wurde ein Held der Feder.“

„Es war sein Steckenpferd schon auf der Prima. Und du kannst nicht leugnen, dass er es zu etwas gebracht hat. Sein Name ist weithin bekannt geworden.“

„Das mag sein. Ihr, und besonders du in deiner übergrossen Bescheidenheit, habt ja immer wer weiss was aus ihm gemacht. Aber mir scheint deine Tätigkeit wertvoller, selbst wenn du Landmann wirst, kann ich es auch unter diesen Umständen noch viel weniger verstehen.“

„Dann muss ich es eben ohne deine gütige Zustimmung wagen.“ Ein abweisender Ton, wie sie ihn nie von ihm vernommen hatte, war in seiner Antwort. „Aber was Hans betrifft, so tust du ihm unrecht, hast es immer getan. Und das verdriesst mich.“

Sie zuckte die Achseln. „Was weiss ich von ihm? Er ist über fünfzehn Jahre älter als ich und hat sich nie um mich gekümmert. Du nahmst dich als Junge der kleinen Nachbarstochter ritterlich an und warst später mein Tänzer in Rodenburg und auf den Gütern hier. Er war immer der Erhabene, stand immer abseits. Er spielte als Junge nicht und tanzte nicht als Mann. Seine Bücher waren ihm die Welt und sein Ehrgeiz. Was galt ihm Reckenstein, ja selbst Bärwalde?“

„Alle Ferien, jede nur erdenklich freie Zeit verbrachte er in Bärwalde.“

„Jawohl. Er sass oben auf seiner Stube, allenfalls mal im Garten und schrieb seine Bücher!“

„Ganz recht. Er schrieb sein Werk über Ostpreussen,“ gab er mit scharfer Betonung zurück und fuhr fort: „Es lag ihm als Theologen fern und ist nach dem Urteil aller Fachleute das Beste, was je über unsre Provinz geschrieben ist. Nein, du kennst ihn nicht, Edith. Er schloss sich ab — es war einmal seine Anlage. Aber in ihm ist dasselbe Blut und dieselbe Sehnsucht wie in uns. Niemand liebt seine Heimat wie er.“

Seine ernsten Worte machten vielleicht einen gewissen Eindruck auf sie, überzeugten sie aber nicht. „Du erzähltest einmal, dass er ordentlicher Professor in Königsberg werden sollte. Wie ist es eigentlich damit geworden?“

„Er scheiterte im letzten Augenblick an irgendeiner Richtungsfrage, die in der Theologie ja immer eine Rolle spielt. Er hat es nie überwunden. Ich glaube —“ Er wollte noch etwas hinzufügen, brach jedoch ab und sagte: „Nun haben wir immer nur von mir und von uns gesprochen. Aber von deinem Vater hast du mir noch nichts gesagt. Wie steht es um ihn?“

Ein Schatten flog über ihr Antlitz. „Er will nichts aufkommen lassen, beileibe nicht! Darum nimmt er sich zusammen, oft wohl über seine Kraft, besonders wenn Besuch da ist. Aber ich weiss am besten, dass er seit dem Tode der Mutter nicht mehr der Alte ist. Den Sommer bekomme ich ihn hier nicht los. Er kann sich von der Wirtschaft nicht trennen und sitzt jeden Tag noch zu Pferde. Er will in der Übung bleiben, wie er sagt. Aber zum Winter müssen wir nach Rodenburg, Geheimrat Faber will eine regelmässige Behandlung mit ihm vornehmen. Hoffentlich hilft sie.“

Durch den stillen Park hallten helle Rufe. Jetzt erst merkten sie, dass ihr langes Fortbleiben aufgefallen, dass die Nacht vorgeschritten war. Sie schickten sich an, in das Haus zurückzukehren. Aber bevor sie auf die Veranda traten, sagte Edith: „Erzähle mir doch das noch schnell von Hans! Du führtest deinen Satz vorhin nicht zu Ende. Was glaubst du?“ Er besann sich: „Ich glaube,“ sagte er dann, „dass seine fehlgeschlagene Königsberger Hoffnung massgebend für einen Entschluss geworden ist, den ihm niemand zugetraut hätte.“

„Was für einen Entschluss?“

„Ich darf darüber nicht sprechen. Selbst dir gegenüber nicht, Edith, so gern ich es täte. Vielleicht teilt er ihn dir selber mit.“

„Er wird mich dieser Ehre kaum würdigen.“

„Vielleicht doch. Er kündigte mir sein Kommen nach Bärwalde in einigen Wochen an und schrieb auch von einem Besuch in Reckenstein.“

Sie waren in das Haus getreten. Uechteritz stand am Flügel und sang Schumannsche Lieder. Er hatte eine weiche Baritonstimme, die sich in die Seelen der Frauen stahl und in ihnen haftete, oft mehr als seiner kleinen eifersüchtigen Frau lieb war. Frau Lisa begleitete ihn, die andern waren ganz Ohr, nur der Reckensteiner sass mit Rodenburgs erstem Bürgermeister in dem abgelegeneren Herrenzimmer bei einer Flasche Rotwein und verhandelte in jener gespannten Art, die ihren Gesprächen meist zueigen war, politische Fragen. Sie wussten beide, dass sie dabei nie zu irgendeinem Schluss kommen würden, fingen aber doch jedesmal davon an, vielleicht weil sie sich über andre Dinge noch weniger geeinigt hätten.

Wer die Heimat liebt wie du

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