Читать книгу Benns Vermächtnis - Bea Konda - Страница 13

Donnerstag, 6. April (gegen 9.30 Uhr)

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Um kurz vor halb zehn bogen Niklas Buchholz und Sven Goldhus in die Waldschulstraße ein. Das Tor zum Grundstück der Ritters war geöffnet und sie parkten den Dienstwagen vor der Garage. Sie stiegen aus und Niklas blickte sich um. Das Zufahrtstor war knapp zwei Meter hoch und der angrenzende Metallzaun, der von innen mit dichtem Kirschlorbeer begrünt war, bot von außen keine Einsicht auf das Grundstück. Das Einfamilienhaus selbst war ein typischer Bungalow-Bau aus den 70er Jahren mit einer angebauten Garage. Neben der gepflasterten Einfahrt gab es einen gepflasterten Weg zur Haustür, von Kieselsteinen und Büschen gesäumt, umgeben von Rasen, keine Blumen- oder Gemüsebeete, die auf gärtnerische Tätigkeiten hingewiesen hätten.

Die Haustür ging auf und ein Mann mittleren Alters, der mit seinen schon etwas lichten, aber nach allen Seiten abstehenden Haaren und einem rötlich-braunen Dreitagebart zerzaust und übernächtigt wirkte, trat auf Niklas zu und gab ihm die Hand:

„Guten Morgen, ich bin Michael Ritter, Noemis Vater.“

„Guten Morgen Herr Ritter, mein Name ist Niklas Buchholz, Oberkommissar der RKI Wetterau, meinen Kollegen Herrn Goldhus haben Sie ja gestern bereits kennengelernt.“

Die beiden begrüßten sich ebenfalls und alle drei gingen ins Haus. Sie betraten das Wohnzimmer und Ritter bat sie Platz zu nehmen.

„Meine Frau kommt gleich, sie ist gerade im Bad. Kann ich Ihnen in der Zwischenzeit Wasser oder Kaffee anbieten?“

„Gerne einen Kaffee“, erwiderte Niklas und sein Kollege nickte zustimmend. Der Tag würde lang werden und viel Koffein schadete da nicht.

Während Michael Ritter in der Küche war, sah Niklas sich im Wohnzimmer um. Links von ihm befand sich eine Wohnwand, die sich übers Eck nach rechts fortsetzte. Auf einer Abstellfläche des Sideboards standen gerahmte Fotos älterer Menschen und teilweise älteren Datums, vermutlich eine Art Ahnengalerie bereits verstorbener Familienmitglieder. Daneben eine geschnitzte Marienfigur mit Kind auf dem Schoß und eine dicke Kerze. An der einen Wand hing ein großes hölzernes Kreuz inklusive Gekreuzigtem, daneben eine russische Ikone, die Jesus mit Heiligenschein zeigte, an der anderen Wand ein Bild mit einer Blume und einem Bibelspruch, daneben Jesus, Maria und Josef als Keramik-Aufhänge-Familie. Die dritte Wand zierte ein Urlaubsbild der Familie Ritter mit Noemi als Kleinkind sowie ein Bild des Heiligen Abendmahls, Jesus brotbrechend mit seinen Jüngern. Eine Tiffany-Lampe hing tief über dem Couchtisch. Niklas beugte sich vor, um die Titel der auf dem Tisch liegenden Lektüre zu lesen, einmal eine Kirchenzeitschrift, die „Der Dom“ hieß und ein Buch mit dem Titel „Stab und Quelle“. In dem ging es um einen mittelalterlichen Wanderbischof, wie der Untertitel verriet. Niklas kam sich vor wie in einem Pfarrhaus.

Herr Ritter kam mit einem Kaffeetablett zurück, hinter ihm eine schlanke Frau mit Stoffhose und schlichter Bluse, die Niklas auf Anfang bis Mitte 40 schätzte. Sie hatte schulterlange blonde Haare, die bereits von einzelnen grauen Strähnen durchzogen waren, Marionettenfalten um den Mund – seit Frau Merkel Kanzlerin war, kannte er den Begriff – und rot geweinte, geschwollene Augen. Die beiden Kommissare standen auf und begrüßten Frau Ritter, die fast augenblicklich in Tränen ausbrach:

„Ich begreife überhaupt nicht, was hier passiert ist“, brach es aus ihr heraus. „Ich mache mir solche Sorgen, ich habe heute Nacht kein Auge zugetan, ich kann mir gar nicht erklären, warum Noemi verschwunden ist!“

Michael Ritter nahm ihre Hand: „Ich auch nicht, Britta, ich habe auch keine Idee, was da vorgefallen sein könnte. Jedenfalls werden wir alles tun, um Noemi zu finden und die Polizei wird uns dabei helfen!“, versuchte er seine Frau etwas zu beruhigen.

„Ich mache mir solche Vorwürfe! Warum war ich nicht hier? Und dann sind wir auch noch nicht ganz im Guten auseinandergegangen!“, schluchzte sie weiter.

Die Kommissare sahen sie fragend an und Frau Ritter berichtete stockend: „Sie hatte am Dienstag, bevor ich gefahren bin, so einen kurzen Minirock an und ich habe Noemi gefragt, warum sie sich immer so aufreizend kleidet. Dabei ist das mir doch jetzt völlig egal, was sie anhat, Hauptsache, sie kommt heil nach Hause zurück!“

„Mach dir keine Vorwürfe“, entgegnete Herr Ritter seiner Frau.

Die faltete ihre Hände so fest, dass die Fingerknöchel weiß hervortraten, hielt sie hoch vor ihren Mund und sagte mit zitternder Stimme: „Ohne meinen Glauben wäre ich völlig aufgeschmissen, ich kann nur alles in Gottes Hände legen!“

Ihr Mann nickte, schloss seine Hände um ihre und ergänzte: „Und wir tun das uns Mögliche!“, und an die Kommissare gewandt: „Ich habe gestern Abend noch eine Suchmeldung bei Facebook gepostet und meine Facebook-Freunde um Verbreitung gebeten. Leider kam bisher noch nichts dabei raus. Dann haben wir heute früh „Vermisst“-Handzettel mit Noemis Bild und unseren Kontaktdaten gedruckt, die wir nach unserem Termin mit Ihnen hier im Ort und bei der Schule verteilen und aufhängen wollen – vielleicht hat sie ja jemand gesehen oder weiß etwas.“ Ratlos hob er die Schultern: „Was könnten wir denn noch tun? Und was werden Sie unternehmen?“

Niklas und Sven erläuterten den aufgewühlten Eltern die nächsten Schritte, die sie unternehmen würden um Noemi zu finden. Befragungen sämtlicher Kontaktpersonen, Begehungen der Orte, an denen Noemi sich aufgehalten hatte, Sichtung aller relevanten Dokumente. Gegebenenfalls auch – sollte es entsprechende Anhaltspunkte geben – Durchkämmen von infrage kommendem Gelände mit Hilfe der Bereitschaftspolizei und weitere Spurensuchen, je nachdem welche Hinweise sich im weiteren Ermittlungsverlauf ergaben. Sie würden jedem Hinweis nachgehen, versicherten sie den Ritters.

Niklas schloss: „Als erstes möchten wir Ihnen gern noch ein paar Fragen stellen und uns nochmals hier im Haus und im Umkreis des Hauses umsehen.“

Und an Frau Ritter gewandt: „Geht es wieder?“

Frau Ritter nickte schwach und Herr Ritter forderte sie auf, ihre Fragen zu stellen.

„Frau Ritter, Sie erwähnten eben, dass Sie am Dienstag nicht ganz im Guten auseinandergegangen seien. War das der Grund, dass Sie danach nicht mehr miteinander telefoniert haben? Oder war das nichts Ungewöhnliches?“ eröffnete Sven das Gespräch.

Frau Ritter schüttelte den Kopf: „Nein, wir sind nicht wirklich im Streit auseinandergegangen, das war nur einer von vielen kleinen Konflikten, die wir in letzter Zeit so hatten. Aber vielleicht ist das normal, wenn Kinder groß werden und ihre eigenen Wege gehen wollen.“ Erneut kamen ihr die Tränen. Sie schluckte und fasste sich wieder: „Ungewöhnlich war das nicht. Hin und wieder suche ich den Rückzug in die Stille, um mich ganz auf Gott einlassen zu können und da helfen mir die Zeiten der Meditation im Kloster Schlossbrunn sehr. Damit hatte Noemi bisher noch nie ein Problem und sie hätte mich generell auch erreichen können, wenn etwas Dringendes gewesen wäre, das wusste sie.“

„Und Sie, Herr Ritter, sind unter der Woche meist in Nordhessen tätig und übernachten dort im Hotel, richtig? Und telefonieren dann normalerweise auch nicht mit Noemi?“

Michael Ritter nickte: „Wie meine Frau schon sagte, Kinder werden flügge und Noemi hatte in letzter Zeit kein großes Dialogbedürfnis, zumindest nicht mit uns. Alles lief seinen normalen Gang. Sie hatte keine schulischen Probleme, das hätten wir mitbekommen. Ich denke man muss irgendwann auch loslassen können. Daher habe ich von mir aus nicht auf ständigen Telefonkontakt unter der Woche gedrungen. Wir haben uns ja am Wochenende gesehen – und Noemi ist siebzehn, da braucht sie uns nicht mehr so wie noch als Kind.“

Die Ermittler nickten verständnisvoll.

„Und was diese Woche betrifft: Am Dienstagabend habe ich vom Hotel aus kurz meine Frau angerufen um zu hören, ob sie gut in Schlossbrunn angekommen ist und zu Hause auch alles OK war. Dann hatte ich ein Abendessen mit einem unserer wichtigen Geschäftspartner der Region, dem Autohausbesitzer Mulleweber in Kassel. Es war ein langer Abend und ich war letztendlich so gegen halb zwölf wieder in meinem Hotelzimmer, da hätte ich Noemi eh nicht mehr angerufen, um sie nicht zu wecken. Am nächsten Tag hat mich Frau Spengler erst nicht erreicht, weil ich in einem Kundentermin war, aber nach unserem Gespräch habe ich gleich meine Sachen aus dem Hotel geholt und bin heimgefahren. Gegen halb fünf bin ich hier in Bad Vilbel angekommen und fand das Haus verwaist vor. Aber das wissen Sie ja bereits alles.“

„Abgesehen von den normalen Spannungen, die es zwischen Heranwachsenden und ihren Eltern gibt, haben Sie etwas von Problemen Noemis mitbekommen, war sie bedrückt, gab es – wenn auch keine Notenprobleme – vielleicht zwischenmenschliche Schwierigkeiten an der Schule oder anderswo?“

Noemis Mutter sah ihn mit großen Augen an und Niklas erläuterte: „Wir müssen alle Möglichkeiten ihres Verschwindens abklopfen und dazu gehören auch alle denkbaren Motive oder Hintergründe, warum Noemi verschwunden sein könnte. Wenn es Hinweise zum Beispiel in Richtung eines belastenden Erlebnisses, einer depressiven Phase, Mobbing, eine potenzielle Suchtthematik – oder irgendeinen anderen Erkrankungshintergrund, ob psychischer oder physischer Natur, gäbe, wäre es für uns wichtig, dies zu wissen.“

Bei Niklas‘ letzten Worten hatte Frau Ritter heftig den Kopf geschüttelt: „Nein, Noemi hat nie irgendwelche Rauschmittel genommen, das ist völlig undenkbar!“

„Nein, das passt überhaupt nicht zu ihr“, bestätigte ihr Mann. „Wenn es in der Schule ein Mobbing-Thema gegeben haben sollte, so hat Noemi uns gegenüber nie eine Andeutung gemacht. Wobei es in der Stufe durchaus ein paar Rowdys gibt, das habe ich in meiner Tätigkeit im Elternbeirat mitbekommen. Verbale Attacken und Beschimpfungen als ,Bückstück‘, ,Missgeburt‘ und Schlimmeres“ – mit einem Seitenblick auf seine Frau sagte er – „die will ich hier nicht wiedergeben, sind bei denen schon an der Tagesordnung. Also ausschließen kann man das vielleicht nicht, dass Noemi auch mal Zielscheibe war.“

„Das glaube ich nicht“, widersprach seine Frau vehement. „Noemi ist so ein nettes Mädchen, warum sollte jemand sie nicht mögen?“

Niklas und Sven warfen sich einen verstohlenen Blick zu. Sie kannten sich gut genug um zu wissen, was der andere dachte – Frau Ritter war eindeutig etwas naiv und weltfremd…

„Und zum Thema Depression oder sonstige psychische Erkrankung: das hatte sie auch nicht. Noemi war zwar in den letzten Monaten wie der zweifelnde Thomas in der Heiligen Schrift, der erst den auferstandenen Jesus sehen musste, um wieder zum Glauben zu finden – das heißt, sie hat vieles hinterfragt und ist etwas vom rechten Glaubensweg abgekommen. Aber das ist einfach eine Phase des Suchens, die in dem Alter normal ist, und der verlorene Sohn im Gleichnis ist schließlich auch wieder heimgekehrt…“ Erneut kämpfte sie mit den Tränen: „Noemi wird auch wieder heimfinden, der Herr wird sie führen“, und mit tränenerfüllten Augen wandte sie den Blick nach oben: „Lieber Gott, beschütze Noemi und bringe sie heil wieder nach Hause!“

Michael Ritter legte den Arm um seine Frau, die nun doch den Tränen freien Lauf ließ. Niklas und Sven warteten einen Moment, bis Frau Ritter sich wieder gefasst hatte.

Schließlich konnten sie die Eltern nach Noemis sonstigen Freunden und Freundinnen und ihrem weiteren Bekanntenkreis fragen. Britta Ritter schnäuzte sich und überlegte.

„Na ja, so richtig enge Freunde hat Noemi hier eigentlich nicht, außer Sophie meine ich. Sie singt im Schulchor und sie geht ein-, zweimal die Woche zum Tischtennis, aber daraus hat sich meines Wissens keine Freundschaft entwickelt.“

Michael Ritter überlegte: „Bekannte sind natürlich unsere Nachbarn, gerade mit unserer direkten Nachbarin, Frau Waldschmidt, unterhält sie sich hin und wieder oder hilft ihr im Garten.“

Britta Ritter ergänzte: „Frau Waldschmidt nimmt auch schon mal ein Päckchen für Noemi an, wenn sie was im Internet bestellt hat und wir unterwegs sind.“

„Das ist die Dame, die wir gestern nicht erreicht hatten, oder?“, fragte Sven Goldhus nach.

„Genau, jetzt müsste sie aber eigentlich da sein“, mutmaßte Frau Ritter.

„Dann kennt sie natürlich die Mitglieder unseres sich wöchentlich treffenden Gebetskreises, da war sie selbst früher mit dabei. Jetzt aber leider seit einigen Monaten nicht mehr.“

„Hat ihr einer aus dem Kreis nicht mal Nachhilfeunterricht in Mathe gegeben?“, fragte Herr Ritter seine Frau.

„Ja, der Harry Baumann, stimmt, einer unserer wenigen jüngeren Mitglieder im Gebetskreis. Ist nun auch schon wieder ein halbes Jahr her“, erwiderte Frau Ritter. Und an die Kommissare gewandt fügte sie hinzu: „Der Harry hat über den zweiten Bildungsweg sein Abi nachgemacht und anschließend ein paar Jahre Mathematik studiert, ist jetzt aber auf Psychologie umgestiegen und das studiert er vielleicht woanders als in Frankfurt. Zumindest habe ich ihn nun schon seit längerem nicht mehr in unserem Kreis begrüßen dürfen. Es gibt immer mal wieder Veränderungen im Gebetskreis, also dass jemand Neues dazustößt oder jemand nicht mehr kommt“, erklärte sie.

„Und Verwandte?“, fragte Niklas.

„Leider haben wir beide keine Geschwister, so dass es keine Onkel und Tanten bzw. Cousinen oder Cousins gibt“, erklärte Michael Ritter bedauernd und seine Frau ergänzte:

„Elternseitig lebt nur noch meine Mutter, Noemis Oma. Sie ist jedoch leider an Demenz erkrankt und erkennt uns schon seit einiger Zeit nicht mehr; sie lebt in einem Pflegeheim in Bad Nauheim.“

Sven bat die Eltern um die Kontaktdaten aller genannten Personen und die Adresse des Tischtennisvereins. Die Aufenthaltsorte der Eltern im Zeitraum von Noemis Verschwinden hatten Maja und er bereits am Vorabend erfasst.

Niklas dachte bei sich, dass Noemi ein einsames Mädchen sein musste, wenn sie so wenig Freunde und Bekannte hatte und es zudem keinerlei Verwandtschaft außer den eigenen Eltern gab. War die ausgeprägte Religiosität der Eltern, vor allem bei der Mutter offensichtlich, der Hintergrund des geringen sozialen Netzwerkes oder gab es noch weitere Gründe dafür? Vielleicht ergab sich ja aus der Untersuchung ihres Zimmers noch ein differenzierteres Bild.


Benns Vermächtnis

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