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Dienstag 4. April (14.15 Uhr)

„Tschüss Frau Spengler, bis morgen!“

Noemi und Sophie verabschiedeten sich als letzte von ihrer Deutsch-Lehrerin und verließen beschwingt den Kursraum. Im Unterschied zu sonstigen siebten Unterrichtsstunden, in denen man sich wenn überhaupt nur noch mühsam konzentrieren konnte, waren die Stunden bei Frau Spengler einfach klasse. Fast schon schade, dass hier eine Dreiviertelstunde immer wie im Flug verging!

„Hätte ich nie gedacht, dass ich mal auf Texte von vor 100 Jahren von so einem Depri-Typen wie Kafka abfahren würde…“, sagte Sophie zu Noemi.

„Geht mir genauso“, stimmte Noemi ihr zu, „irgendwie schafft Frau Spengler das, die alten Texte so mit einem zu connecten, dass man sich selbst darin wiederfindet.“

„Ganz im Unterschied zum Gähn-Stracke, der ist so dröge, dass ich immer aufpassen muss nicht wegzunickern“ feixte Sophie mit Bezug auf ihrer beider Englischlehrer.

Heute hatten sie Kafkas Der Aufbruch analysiert und allein schon der eine Satz, die Antwort des Herrn auf die Frage des Dieners nach seinem Ziel – „Weg-von-hier, das ist mein Ziel“ – hatte Noemis eigenen vorherrschenden Gefühlen entsprochen. Weg-wollen, aber nicht wirklich wissen, wohin, das Ziel erstmal nur ein „Weg von“, kein „Hin zu“ – so ging es ihr auch…

„OK, das ,Leg’s auf den Nachttisch‘ von Kafkas Vater, wann immer der was veröffentlicht hatte, hätte eins zu eins von meiner Mutter kommen können, das ist also zeitlos!“ Sophie grinste schief.

„Kein Interesse oder keine Zeit?“, hakte Noemi nach.

„Beides“, seufzte Sophie, „aber eher keine Zeit. Meine Mutter ist so eingebunden in ihren Job, dass meine Schulsachen sie nur dann interessieren, wenn’s mal nicht so rund läuft sprich meine Leistungen nicht stimmen. Und auch dann würde sie sich nicht selbst kümmern, sondern eher schauen, dass man schnell einen geeigneten Nachhilfelehrer auftut, damit die Noten wieder besser werden… Und wie ist das bei dir so?“, wollte sie wissen.

„Na ja, du weißt ja, dass ich aus einem sehr gläubigen Elternhaus komme“, erwiderte Noemi. „Und ich merke immer mehr, dass meine Mutter keinen Anteil an meiner Welt nehmen kann. Ihr Ein und Alles ist ihre Religion. Das füllt sie so aus, dass für anderes kein Platz bleibt. Glaub mir, ich hab‘ oft genug versucht, mich mitzuteilen, also auch meine Zweifel zu äußern und Dinge kritisch zu hinterfragen – aber entweder hat sie es gar nicht verstanden, oder mit Bibelzitaten versucht dagegen zu argumentieren. Und wenn es kein passendes Zitat gab, hat sie sich auf den Glauben berufen und sowas wie ,Das zu verstehen übersteigt unseren menschlichen Verstand‘ geäußert und dass sie für mich beten wird.“

„Tja, das ist natürlich ein Totschlagargument – oder auch nicht… Und dein Vater?“

„Ach, der ist eh nur am Wochenende da und dann wird heile Welt gespielt und ich will ja keinem das Wochenende versauen“ meinte Noemi. „Zumal meine Mutter sehr emotional ist und mehr als einmal haben unsere Diskussionen zu Tränen ihrerseits geführt und einem Abtauchen ins Gebet – und ich bin dann irgendwie enttäuscht zurückgeblieben und hab‘ mich zudem noch schuldig gefühlt. Daher meide ich nun viele Themen wie Minengebiete…“

Inzwischen waren sie bei der Bushaltestelle angelangt, an der sich ihre Wege trennten. Sophie wohnte im Frankfurter Stadtteil Sachsenhausen, während Noemi ins benachbarte Städtchen Bad Vilbel musste.

„Besser so, bringt ja keinem was“, schloss Sophie. In der Ferne war bereits ihr Bus zu sehen.

„Wollen wir morgen nach der Deutsch-Klausur mal zusammen in die Innenstadt fahren? Ich bin bis Freitag elternlos und habe Zeit!“ Noemi schaute Sophie erwartungsvoll an.

„Gerne, morgen hab‘ ich auch noch nichts vor, und nach fünf Stunden Kopfzerbrechen könnten wir doch mal shoppen gehen und uns was gönnen, oder?“, rief Sophie, bevor sie in den Bus stieg.

Noemi sah sie noch am Fenster, hielt den Daumen hoch und winkte ihr zum Abschied zu. War sie froh, dass sie Sophie kennengelernt hatte!

Sie war so verloren gewesen. So schrecklich einsam und unglücklich. Ja, bei den religiösen Jugend-Events, an denen sie früher teilgenommen hatte, ob Osterseminar, Kirchentag oder christliches Ferienlager hatte sie durchaus Kontakte geknüpft. Ihr Glaube war durch den Austausch mit Gleichgesinnten immer wieder gefestigt worden trotz aller offenen Fragen, die sie schon lange beschäftigt hatten. Aber zu Hause, in ihrem Schulalltag, waren diese Brüder und Schwestern im Glauben weit weg, sie war eine Außenseiterin in der Klasse und hatte sich auch wie ein Paria gefühlt. Und irgendwann hatte sie einfach nicht mehr gekonnt. Dieses enge Glaubenskorsett, das für ihre Mutter so lebensnotwendig und haltgebend war, hatte sie selbst so eingeengt, in ihrem Lebenshunger, ihrem Wunsch nach freiem Denken und Fühlen so beschränkt und belastet, dass ihr kaum noch Luft zum Atmen geblieben war. Unter all dem Müssen wäre sie fast zerbrochen und daher hatte sie sich Schritt für Schritt versucht zu lösen und ihren eigenen Weg zu finden. Geblieben war die Einsamkeit in der Schule, weil die anderen sie abgestempelt hatten. Sie selbst hatte auch nicht gewusst, wie sie die Mauer zwischen sich und den anderen hätte überwinden können.

Dann war Sophie in der 11. Klasse auf ihre Schule gewechselt, da ihre Eltern umgezogen waren und die Neue war ihr gegenüber ganz unvoreingenommen gewesen. Entweder hatte sie noch nichts von ihrem Image als Betschwester mitbekommen oder es war ihr egal gewesen – jedenfalls hatten sie sich angefreundet und Noemi war total happy mit ihr eine echte Freundin gefunden zu haben.

„Hey, Chauffeur-Dienst gefällig?“

Überrumpelt blickte Noemi zu dem schwarzen Renault, der mit quietschenden Reifen vor ihr angehalten hatte und aus dem ein dunkler Lockenschopf sie aus der heruntergelassenen Scheibe angrinste. Noemi merkte, wie sie errötete und ärgerte sich über sich selbst. Warum nur war sie so verdammt schüchtern? Max war eine Klasse über ihr und sie kannte ihn aus dem Tischtennis-Verein. Wobei, kennen war fast schon zu viel gesagt, sie hatten sich mal kurz unterhalten, aber Noemi hatte kaum was rausgebracht, so dass er sie zuletzt nur noch freundlich gegrüßt hatte, aber mehr auch nicht.

„Ich muss eh in Richtung der Grundschule und meinen kleinen Bruder vom Hort abholen, da kann ich dich gern mitnehmen!“

„Hmm, OK, danke“, stammelte Noemi.

Woher weiß der eigentlich, dass ich in Bad Vilbel bei der Grundschule wohne, fragte sich Noemi noch, als sie fünf Minuten, bevor ihr eigener Bus gekommen wäre, einstieg. Max fuhr los.


Benns Vermächtnis

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