Читать книгу Benns Vermächtnis - Bea Konda - Страница 5
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Donnerstag, 6. April (8.15 Uhr)
Mutter
Ich trage dich wie eine Wunde
Auf meiner Stirn die sich nicht schließt.
Sie schmerzt nicht immer und es fließt
Das Herz sich nicht draus tot.
Nur manchmal plötzlich bin ich blind
Und spüre Blut im Munde.
(Gottfried Benn)
„Ich lasse dich gleich fallen!“
Er schrie aus Leibeskräften, doch es drang kaum ein Laut aus seinem Mund, der fest mit Paketklebeband versiegelt war.
„So was passiert, wenn du nicht sofort spurst, wenn ich dir was auftrage!“
Wolfgang hielt ihn an den Füßen kopfüber aus dem Fenster. Sein Herz hämmerte so schnell und laut, als wolle es gleich zerspringen, das Blut rauschte in seinen Ohren und er spürte, wie etwas Warmes auf seinen Bauch rann.
„Ja, piss dich nur voll, du kleiner Hosenscheißer, hier hört und sieht dich eh keiner und keiner kann dir helfen. Wirst du nun immer sofort springen, wenn ich etwas wünsche? Häh?!“
Niklas zitterte wie Espenlaub, doch er schaffte es heftig zu nicken.
„Denk immer daran, ich kann mit dir machen, was ich will!“ Mit einem groben Ruck zog Wolfgang ihn wieder zurück in die Wohnung. „Und jetzt mach dich sauber, das ist ja ekelhaft – und hol mir endlich das Bier aus dem Kühlschrank, was ich dir schon vor fünf Minuten aufgetragen hatte, aber zackig!“ Dann schloss er mit den gleichen Worten wie immer: „Und kein Wort zu deiner Mutter!“
In diesem Moment mit seinen Füßen in Wolfgangs Händen, baumelnd an der Rückwand des ansonsten fensterlosen Hinterhofes ihrer Wohnung hatte Niklas zum ersten Mal in seinem 7-jährigen Leben Todesangst verspürt. Und das war der Wendepunkt gewesen.
Viel war nicht mehr von ihm übrig gewesen, nach den vorangegangenen Monaten, in denen Wolfgang ihn erst nur gepiesackt und schließlich immer mehr drangsaliert und gequält hatte, ohne dass er sich hatte wehren können. Woher hatte er dann die Kraft genommen, sich nicht weiter zu fügen? Es war sein Lebenswille gewesen, der als irrlichterndes Flämmchen in ihm geglüht hatte und der irgendwie durch diese Todesangst Aufwind bekommen hatte. Er wollte leben – aber so hatte er nicht mehr weiterleben können.
Was wäre gewesen, wenn er den Schein weiter hätte wahren können, würde sie dann heute noch leben? Mehr als ein Vierteljahrhundert war seitdem vergangen. Heute war ihr 25. Todestag und diese Frage ließ ihn immer noch nicht los. Sein Aufbegehren war ihr Todesurteil gewesen. Er betrachtete die prächtigen Teppichbeeren auf ihrem Grab, die er gepflanzt hatte, rot und rund und prall, umgeben von glänzenden grünen Blättern und umrankt von immergrünem Efeu. Im Sommer würden sie zart-rosa Blüten tragen. Das hätte ihr gefallen, so war sie auch gewesen, strahlend schön, fein und zugleich prall gefüllt mit Leben und Liebe. Eine bleierne Schwere legte sich auf ihn und drohte ihn zu erdrücken. Er vermisste seine Mutter immer, an jedem einzelnen Tag seines Lebens. Meist gelang es ihm jedoch, diese Trauer tief in sich zu verschließen, aber an Tagen wie diesen brach sie einfach hervor und er konnte nichts dagegen tun.
Sein Telefon vibrierte und riss ihn aus seinen Gedanken, der Name seines Kollegen Sven Goldhus erschien im Display. Niklas Buchholz verließ den Friedhof und rief zurück: „Hallo Sven, was gibt’s?“
„Hallo Niklas, ich weiß, dass du heute noch Urlaub hast, aber Maja ist krank geworden und ich bin allein. Wir haben einen Vermisstenfall reinbekommen, ein siebzehnjähriges Mädchen ist abgängig. Sie ist vorher noch nie verschwunden und es gibt bis jetzt keinerlei Hinweise, wo sie sein könnte. Kannst du kommen?“
Niklas erwiderte: „Klar, bin schon auf dem Weg.“