Читать книгу Benns Vermächtnis - Bea Konda - Страница 14
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Donnerstag, 6. April (gegen 10.00 Uhr)
Niklas zog sich Handschuhe und Schuhüberzieher an, bevor er Noemis Zimmer in Augenschein nahm. Es war ein roséfarben gestrichener Raum, an dessen Ende sich ein großes weißes Bett mit Bettkasten befand, mit ein paar flauschigen Extrakissen versehen, links daneben ein weißer Kleiderschrank. Rechterhand gab es einen höhenverstellbaren Schreibtisch mit Stuhl vor einem Fenster, linkerhand eine helle Holzkommode mit bunten Griffen und eine Stehlampe aus Weidengeflecht. Vor dem Bett lag ein kleiner bunter Läufer und gegenüber dem Bett, rechts neben der Zimmertür stand ein großes Bücherregal. In einer Reihe standen verstaubte Klassiker der Literatur, Werke von Goethe, Lessing und Shakespeare, eine Bibel und andere ältere Schriften. In einer oberen Reihe fanden sich Bücher neueren Datums, Krimis mit Lesezeichen drin und sogar eine Frauenzeitschrift lag da. Diese Riege schien Noemi derzeit zu bevorzugen, zumindest wirkte hier nichts verstaubt.
Niklas ließ den Blick über die Wände schweifen. Ein Spiegel, daneben ein Bild mit einem springenden Delfin und ein abstraktes Gemälde, eine Leiste, an der ein Sportrucksack, eine Sweatshirt-Jacke und ein Gürtel hingen. An der anderen Wand prangte ein magnetisches Memoboard aus Glas mit Stiftehalter und Schwamm, auf dem handschriftlich die nächsten Klausurtermine vermerkt waren, außerdem „Sophie Shopping“ mit Smiley versehen. Ein noch nicht eingelöster Buchhandels-Gutschein über 15 Euro war unter einem der Magnete zu erkennen, ein Zettel mit Zahnarzttermin unter einem zweiten Magneten, weitere Magnete gab es nicht. Abgesehen vom ungemachten Bett machte der Raum einen aufgeräumten und gemütlichen Eindruck.
Auf dem Schreibtisch lag ein gelbes Reclamheft, Gehirne von Gottfried Benn, außerdem ein Heft mit Erzählungen von Franz Kafka und sein Brief an den Vater. Das behandelten sie wohl gerade im Deutsch-Leistungskurs. Niklas musste an sein eigenes dreisemestriges Intermezzo als Student deutscher Literaturwissenschaft denken. Damals hatte er unter anderem ein Grundseminar zu Gedichten des Expressionismus besucht und Gottfried Benn war einer der besprochenen Dichter gewesen. Der nüchterne und sezierende Blick des Arztes, der in seinem Leben schon alles gesehen hatte und es zugleich verstanden hatte, dies in Poesie zu verwandeln, in Worte zu fassen, die einem unter die Haut gingen, hatte ihn sehr beeindruckt. Dennoch war ihm das Studium selbst zu sehr als Elfenbeinturm erschienen, es hatte seinem Wunsch nach aktiver, produktiver Betätigung im realen Leben zu wenig entsprochen, so dass er schließlich einen anderen Weg eingeschlagen hatte.
Vorsichtig zog Niklas den Bettkasten unter dem Bett hervor, was aufgrund der Rollen, die sich hinter der Holzverkleidung befanden, leichter ging als zunächst gedacht. Sven stieß zu ihm und hob die darin liegende Bettwäsche hoch. Darunter lagen ein paar Schätze aus Noemis Kindheit, eine Käthe-Kruse-Puppe, ein Webrahmen und zwei Monchhichis – Niklas kannte dieses Mädchen-Spielzeug noch von seiner früheren Spielkameradin Sarah – und dann waren da noch vier Magnete der gleichen Machart wie die Magnete auf dem Memo-Board. Die im Rechteck angeordneten schwarzen Steine ließen Niklas stutzig werden und er nahm einen hoch. Unwillkürlich spürte er einen Widerstand beim Lösen von der dünnen Pressspanplatte. Sven und er blickten sich an. Sven hob den Bettkasten etwas an und Niklas tastete mit der flachen Hand vorsichtig die Unterseite des Bettkastenbodens ab. Tatsächlich fanden sich dort vier weitere Magnete, die ein unauffälliges DIN A4-Heft fixierten. Niklas löste es auf dem Boden knieend von der Befestigung und schlug das Heft auf: „Das scheint eine Art Tagebuch zu sein, zumindest enthält es Einträge, die mit Daten versehen sind.“
Er reichte das Heft an Sven weiter, der es sorgfältig in der mitgebrachten Papiertüte verstaute und erwiderte: „Das ist ja interessant, und auch, dass sie hierfür ein solches Geheimversteck gewählt hat, damit es kein anderer in die Finger bekommt! Das schauen wir uns nachher genauer an.“
Niklas wollte gerade wieder aufstehen, da fiel sein Blick auf den bunten Bettvorleger – zweifellos, da war ein etwa 3 cm langes schwarzes Haar zu sehen, das er in stehender Position auf dem gemusterten Untergrund nicht gesehen hatte.
„Warte mal“, sagte er zu seinem Kollegen, „hier ist vielleicht noch etwas Interessantes.“ Er zeigte auf das Haar. „Das lassen wir auf jeden Fall analysieren, in Noemis Familie hat niemand schwarze Haare. Wir fragen die Eltern gleich mal, ob sie eine Idee haben, von wem das Haar stammen könnte.“
„Sophie hat hellbraune Haare, die scheidet demnach aus. Vielleicht eine Putzfrau?“ mutmaßte Sven, und ergänzte: „Apropos Putzfrau, „lass uns auch nochmal klären, wer alles Zutritt zum Haus hat oder hatte, ob mit Schlüssel oder auch, wer außer ihnen noch den Türcode kennen könnte…“
Die alle zwei Wochen kommende Putzhilfe war die Frau des Hausmeisters der Grundschule gegenüber, Paulina Nowak, und sie hatte graue Haare. Das Ergebnis der Nachfrage, wer den Türcode kennen könnte, war ernüchternd. So hatte Frau Ritter nach einem gemeinsam begangenen Kreuzweg die etwa zwanzig Gebetskreismitglieder zur anschließenden „Agape“-Feier, was auch immer das sein mochte, zu sich nach Hause eingeladen und hierbei für alle sichtbar den Tür-Code eingetippt. Sie glaubte nicht, dass überhaupt jemand darauf geachtet hatte und in ihrer Gutgläubigkeit konnte sie sich gar nicht vorstellen, dass jemand dieses Wissen missbrauchen könnte, ob für einen Diebstahl oder anderes. Nicht nur das, ein Schlüsselbund mit Ersatzhaustür- und Briefkastenschlüssel hing zudem gut sichtbar am Schlüsselbrett im Flur. Den hätten sowohl Besucher des Gebetskreises als auch die vor einiger Zeit im Hause Ritter bei Renovierungsarbeiten tätigen Handwerker unbemerkt entwenden und wieder zurückbringen können. Herr Ritter suchte die Kontaktdaten der Glaserei Hartmann und der Schreinerei Muth heraus und gab den Zettel den Kommissaren.
Ein abschließender Gang ums Haus inklusive Garage ergab keine weiteren Erkenntnisse.
„Wir sprechen nun mit den Nachbarn, insbesondere denen, die wir gestern nicht angetroffen haben. Bitte lassen Sie Noemis Zimmer weiterhin unangetastet und melden sich bei uns, sollten sich aus Ihren Suchaufrufen via Facebook und Handzettel Spuren ergeben!“ bat Niklas.
„Das tun wir selbstverständlich – und bitte halten Sie uns auch auf dem Laufenden, wenn Sie etwas in Erfahrung bringen, selbst wenn der Hinweis noch so klein sein sollte“, drängte Michael Ritter.
Seine Frau Britta wischte sich ihre Tränen ab, straffte sich und bekräftigte dies: „Ja, bitte! Ich bin verrückt vor Sorge!“
Niklas Buchholz und Sven Goldhus versicherten den Eltern, dass sie sich melden würden und verabschiedeten sich.