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Einleitung

»Wir leben in einer pluralisierten Gesellschaft. Das ist nicht nur ein relativ neues Faktum. Das ist auch ein unhintergehbares Faktum: Es gibt keinen Weg zurück in eine nicht-pluralisierte, in eine homogene Gesellschaft. Das ist eine einfache Feststellung. Nicht ganz so einfach ist die Klärung der Frage, was das genau bedeutet« (Charim 2019: 11). Homogen ist eine Gesellschaft nicht, wenn es keine Unterschiede zwischen den Menschen mehr gibt, sondern wenn diese als nachrangig angesehen werden. Wie gehen wir mit der bestehenden Unterschiedlichkeit in der gegenwärtigen Zeit in einer von starken Wandlungsprozessen gekennzeichneten, postmodernen Gesellschaft um? Diversität und Diversitätsmanagement (DiM) haben in diesem Zusammenhang seit einigen Jahren Einzug in die bundesrepublikanische Diskussion über Gleichstellungspolitik, Antidiskriminierungsarbeit und in Praxiskonzepte der Sozialen Arbeit zur Überwindung von Ausgrenzung und Benachteiligung von Minderheiten gehalten. Die Wertschätzung von Vielfalt setzt dabei eine Anerkennung von Differenzen voraus, ohne dass dies zur Diskriminierung der einzelnen Menschen führen darf. Die bereits vorhandene Diversität umfasst jedoch nicht nur die klassischen Differenzmerkmale wie Geschlecht, Alter oder ethnische Zugehörigkeit, sondern auch nicht direkt erkennbare wie religiöse Überzeugung, sexuelle Orientierung oder kultureller Hintergrund. Für die Soziale Arbeit erfordert die Akzeptanz von Vielfalt einen grundsätzlichen Paradigmenwechsel: Anderssein ist nicht mehr gleichbedeutend mit Defizite haben, und Diversität stellt von daher keine Bedrohung für den Zusammenhalt von Organisationen, Gemeinwesen und Gesellschaft dar.

Der Zustand unserer Gesellschaft im Sommer/Herbst 2020 ist gekennzeichnet durch die Veränderungen und Verwerfungen der Corona-Pandemie, die seit sechs Monaten unser Leben bestimmt hat und uns neue Rahmenbedingungen für das Zusammenleben aller auferlegt. In diesen Krisenzeiten kommen nicht nur Solidarität und Rücksichtnahme der Menschen aufeinander zum Tragen, sondern vermehrt auch Abgrenzung, Abwertung von anderen Lebensentwürfen, Ablehnung von Anderssein und Rückzug in die eigene Sphäre der Sicherheit und Isolation. Die Diskurslinien reichen von obskuren Verschwörungstheorien wie der einer jüdischen Weltherrschaft über Ängste vor eingewanderten Fremden, die das Virus mitbringen, bis hin zur Forderung von unbedingt notwendigen Demonstrationen gegen die angebliche Beschneidung von Freiheitsrechten in sog. Coronaprotesten durch eindeutige Verfassungsfeinde. Der Angriff auf die Synagoge in Halle und Aufmärsche von Neonazis stehen dabei für eine Zunahme rechter Ideologie und Judenhass. Wie reagiert der Staat darauf und wie agieren wir alle als Bürger_innen? Der alte Hass und bestehende Ressentiments scheinen salonfähiger zu werden und in der Mitte der Gesellschaft angekommen zu sein.

A. Reckwitz antwortet in einem Gespräch mit der Süddeutschen Zeitung (Reckwitz 2020: 12) auf die Frage nach der Bedeutung der Krise für unseren Gemeinsinn:

»Dass die Gesellschaft keine homogene Gemeinschaft mehr ist, bedeutet jedenfalls nicht, dass so etwas wie Gemeinsinn in der Moderne nicht mehr möglich oder nötig wäre, im Gegenteil. Eine Gesellschaft, auch wenn sie noch so differenziert und individualisiert ist, kommt offensichtlich nicht ohne ein Mindestmaß an sozialer Integration aus, das heißt an zivilen Normen, die alle teilen. Fehlen solche Normen der Gewaltlosigkeit, bricht das Soziale zusammen. Genauso wichtig ist für die liberale Demokratie, die ja auf der Pluralität unterschiedlicher Interessen und Werte beruht, dass sie auf grundlegender Ebene ein gemeinsames Anliegen teilt«.

Doch was kann dieses gemeinsame Anliegen sein? Vielleicht geht es hier um die Akzeptanz einer universellen Verwundbarkeit von uns allen in diesem Ausnahmezustand und nicht nur um eine Fokussierung auf besonders vulnerable Gruppen wie Alte, Arme oder Geflüchtete. Sollten wir angesichts der antirassistischen Proteste in USA (Black Lives Matter) nach der Ermordung von George Floyd durch amerikanische Polizisten die Gelegenheit nutzen eigene Vorurteile und bestehende Rassismen zu reflektieren? Ja, denn »Rassismus beginnt dort, wo es einen Unwillen gibt, sich mit Unbekanntem auseinanderzusetzen. Auch wenn es Mühe macht«, so E. Girth, Rassismusbeauftragter für das deutsche Gesundheitssystem, in einem Beitrag der SZ (in Verschwele 2020: 31)

In dieser Zeit des Umbruchs und der Unruhe erscheint nun die vorliegende Veröffentlichung zu einem reflexiven und analytischen Umgang mit Diversität in der Sozialen Arbeit im Kontext von Gemeinwesen und Organisationen; ein Werk, das sich bewusst von den schlagwortartigen Argumentationen und gängigen Betrachtungsweisen von Vielfalt – sortiert nach den bekannten Dimensionen Geschlecht, Alter oder Hautfarbe – unterscheidet und einen vertieften Einblick in Chancen, aber auch Grenzen der Vielfalt aufzeigt. Notwendig ist diese Auseinandersetzung in jedem Fall, denn – wie eingangs formuliert – ein Zurück zu einer homogenen Gesellschaft gibt es nicht. Wo Krisen den Alltag bestimmen und das Ende des Funktionierens des Vertrauten droht, können wir aktiv eine neue Normalität herstellen und alte Gewohnheiten zugunsten neuer Denk- und Verhaltensweisen überwinden.

Hierzu benötigen alle Menschen – in dieser Veröffentlichung sind besonders Studierende und Fachleute der Sozialen Arbeit angesprochen – erweiterte Kompetenzen für einen professionellen Umgang mit Diversität und zwar jenseits einer Dramatisierung und Zuspitzung (»Vielfalt zerstört unseren Zusammenhalt«) oder einer Schönfärberei nach dem Motto »Bunt ist beautiful«. Denn unumstritten ist, die reflexive Gestaltung von vielfältigen Begegnungssituationen erfordert ein umfangreiches und systematisches Hintergrundwissen, genauso wie eine offene und zugewandte Haltung für die Spezifika von Vielfaltsbegegnungen und bedeutet sicherlich eine fortlaufende diversitätsgerechte Verständigungsarbeit von allen Beteiligten. Um einen erfolgreichen Verlauf der notwendigen gesellschaftlichen und organisationalen Veränderungsprozesse begleiten und steuern zu können, haben wir für die Leser_innen drei miteinander verknüpfte Grundlagenteile formuliert.

Im ersten Teil werden zunächst unterschiedliche Lesarten von Diversität im angloamerikanischen und deutschsprachigen Bereich aufgezeigt, um auf dieser Begriffsdiskussion aufbauend Bedeutungsdimensionen von Diversität im Sinne eines prozessanalytisch-reflexiven Erklärungsmodells zu entwickeln ( Teil I). Diversität wird dabei systematisch aufgeschlüsselt und mit relevanten Diskurslinien wie dem Anerkennungs- und Gerechtigkeitsdiskurs, der Auseinandersetzung mit sozialer Ungleichheit oder der Bedeutung des gesellschaftlichen Zusammenhalts verknüpft. Für die Leser_innen wird dadurch deutlich, welchen konkreten Erklärungswert und welche Reichweite Diversität für normativ-regulierende, integrationspolitische oder ungleichheitskritische Argumentationen haben kann. Im Anschluss daran beschreiben wir den professionellen Umgang mit Diversität auf den verschiedenen Ebenen der Vielfalt: Individuum, Gruppe, Organisation, Sozialraum und Gesellschaft. Darauf aufbauend werden anerkennende Strategien und Praxen des Umgangs mit Vielfalt erörtert, um eine zielführende Theorie-Praxis-Verknüpfung herstellen zu können. Grenzen von Vielfalt sowie Widersprüche und Herausforderungen werden dabei nicht ausgespart, sondern analysiert; so wird zum Nachdenken über bestehende Interdependenzen anhand von lernbegleitenden Fragestellungen angeregt.

Teil II widmet sich den Entwicklungen vom Interkulturellen Lernen zum diversitätsorientierten Lernen mit heterogenen Gruppen am Beispiel der Gemeinwesenarbeit ( Teil II). Im Zentrum stehen dabei wesentliche Themenfelder dieser Lernprozesse, wie bspw. die hierfür erforderliche Kompetenz und Haltung, Partizipation und Teilhabe als notwendige Rahmenbedingungen und die Bedeutung von Interkulturellen Begegnungen mit den entsprechenden Kommunikationsverläufen sowie Konzepte der Antidiskriminierungsarbeit. Ausgangspunkt ist dabei die Devise »Nicht Kulturen begegnen sich, sondern Menschen«, denn nur unter Berücksichtigung dieser Leitlinie führen Lernprozesse zu effektiven und förderlichen Veränderungen und verhindern Stereotypen- und Vorurteilsbildung. Am Beispiel der Gemeinwesenarbeit werden dann Chancen und Grenzen interkultureller und diversitätsorientierter Lernprozesse aufgezeigt und systematisch auf die Ebene von Fachkräften sowie auf strukturelle und intermediäre Ebenen übertragen, denn Integration und Zusammenhalt finden wesentlich im lokalen Bereich statt. Beispiele zur Durchführung einer interkulturellen Lerneinheit runden dieses Kapitel ab und ermöglichen einen erleichterten Praxistransfer.

Im abschließenden Teil III werden unter dem Titel »Diversität in Organisationen – ein Change-Prozess von der Monokultur zur Inklusiven Diversität« zunächst zentrale Indikatoren einer Organisationsentwicklung dargestellt und anschließend der Frage nachgegangen, wieviel Vielfalt Organisationen benötigen, um erfolgreich in globalen Zeiten agieren zu können ( Teil III). Antworten auf diese Fragestellung werden sowohl durch ein theoriebasiertes Erklärungsmodell für den Veränderungsprozess von Organisationen, der von der Exklusiven über die Integrative hin zur Inklusiven Diversität verläuft, als auch forschungsbasiert durch eine Erhebung in unterschiedlichen Non-Profit-Organisationen (NPOs) gegeben. Dabei erfolgt eine Verknüpfung der theoretischen Grundannahmen zum Verlauf des Change-Prozesses mit den Ergebnissen ausgewählter Expert_inneninterviews. Zielsetzung dieses Kapitels ist es, Verantwortliche in Organisationen für die Chancen und Grenzen von Vielfalt zu sensibilisieren und zu einer strukturierten Analyse des Ist-Zustands ihrer Organisation im Sinne eines Auditierungsverfahrens einzuladen. Hierdurch wird ein Prozess der Organisations-, Personal- und Qualitätsentwicklung ermöglicht, der allen Mitarbeiter_innen die gleiche Teilhabe an den Entwicklungen der Organisation eröffnen kann.

Die vorliegende Veröffentlichung betrachten wir als einen Beitrag zur Förderung eines professionellen, weltoffenen und respektvollen Umgangs mit Vielfalt, Verschiedenheit und Unterschiedlichkeit, verbunden mit dem Ansatz möglichst vielen Menschen eine Partizipation an den gegenwärtigen gesellschaftlichen, politischen, sozialen und wirtschaftlichen Entwicklungen zu ermöglichen. Diversität sollte zunehmend als gesellschaftliche »Normalität« anerkannt und wertgeschätzt werden. In diesem Prozess der Anerkennung darf es weder um das Festschreiben von Unterschieden noch um ein Aufheben von Differenz gehen, sondern um eine reflektierte und analytische Gestaltung der notwendigen Veränderungsschritte bei Einzelnen, Organisationen und der Gesamtgesellschaft.

»Nun aber, da diese Tage böse sind, genügt für den Augenblick die Mahnung, dich nicht ganz und nicht immer deinen Tätigkeiten zu widmen, sondern einen Teil deiner Person, deines Herzens und deiner Zeit für die Wertschätzung aufzusparen« (Bernhard von Clairvaux, De consideratione, zitiert nach C. Pelluchon 2019: 9).

Denn es ist das individuelle Bewusstsein, das über das Schicksal von Gesellschaften entscheidet (ebd. 11).

Herbst 2020Beate Aschenbrenner-Wellmann, Lea Geldner

Literatur

Charim, Isolde, 2019. Ich und die Anderen. Wie die neue Pluralisierung uns alle verändert. Wien: Paul Zolnay.

Hall, Stuart, 2018. Das verhängnisvolle Dreieck. Rasse, Ethnie, Nation. Berlin: Suhrkamp.

Pelluchon, Corine, 2019. Ethik der Wertschätzung. Tugenden für eine ungewisse Welt. Darmstadt: wbg Academic.

Reckwitz, Andreas, 2020. Ein Zurück zur Gemeinschaft ist eine Illusion. Süddeutsche Zeitung Nr. 147 vom 29.06.2020, 12.

Verschwele, Lina, 2020. Der Fremde in der Praxis. Süddeutsche Zeitung Nr. 187 vom 14.–16.08.2020, 31.

Wulf, Christoph, 2006. Anthropologie kultureller Vielfalt. Interkulturelle Bildung in Zeiten der Globalisierung. Bielefeld: transcript.

Diversität in der Sozialen Arbeit

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