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Learn: Vertraue in dich George und Amal

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Uschi hat Hunger. Sie hat immer Hunger. Sie ist gertenschlank. Keine Ahnung, wie sie das macht. Ich bin das gewohnt, meine Familie verspürt auch immer Hunger. Die Freunde meines Sohnes sind auch immer hungrig. Wie gesagt, ich bin das gewohnt. Ich fülle für Uschi ein Becherchen von dem Nudelsalat ab, den ich für meinen Sohn in großen Mengen vorbereitet habe. Damit er mir ja nicht verhungert, solange ich mich in Venedig der italienischen Sprache widme.

Mein Koffer ist groß und schwer, denn eines ist sicher: Ich möchte in Italien gut aussehen. Mit den Italienerinnen als Konkurrenz muss man sich da schon ein bisschen ins Zeug legen. Ich kontrolliere mehrere Male, ob ich auch meine Sonnenbrillenkollektion eingepackt habe. Venezia senza occhiali da sole, Venedig ohne Sonnenbrille, geht gar nicht. Nun, ich habe auch schon gehört, dass man dort Sonnenbrillen käuflich erwerben kann, sollte ich in Not sein.

Da macht man sich verrückt, dass man alles dabeihat und kauft sich dann doch eine neue, coole venezianische Sonnenbrille, die man dann auch immer trägt. Egal, ich habe verschiedene Modelle eingepackt und auch die Wahl der Handtasche sorgfältig getroffen. Ich möchte ja eine gute Figur machen, fare bella figura, wie der Italiener sagt und sehr großen Wert darauf legt. Bella figura ist keine Frage des Geldes, sondern eine Frage des Geschmacks und des Lebensgefühls. Vielleicht sogar der einzige Lebenszweck. Selbst mit wenig Budget versteht es die Italienerin, sich herauszuputzen, gut auszusehen und sich auch so zu benehmen. Hier herrscht Gleichberechtigung der Geschlechter, auch die Italiener sind eine wahre Augenweide. Zur bella figura gehört nicht nur das Erscheinungsbild, sondern auch ein angemessenes, höfliches Verhalten. Allora, Venezia, wir kommen. Wir sind vorbereitet. Grazie e prego.

Uschi gabelt eifrig den leckeren Nudelsalat auf dem Weg zum Flughafen. Ihre Freundin bringt uns mit ihrem Kleinwagen hin und ich habe alle Hände voll zu tun, mein Koffermonstrum in ihren Wagen zu hieven.

Wir werden zwei Wochen zur Schule gehen und haben noch etwas Zeit vor und nach dem Sprachkurs eingeplant. Bislang war ich nur Tagestouristin in Venedig und ziemliche Anfängerin, was die Stadt betrifft.

Ich bin sehr gespannt, wie es ist, in Venedig zu wohnen und eben abends nicht mit dem Zug zurück in die Ferienwohnung am Gardasee zu fahren, sondern das Leben der Venezianer zu teilen.

Wir landen schon nach einer starken Stunde Flugzeit am Flughafen Marco Polo auf dem Festland. Es ist später Nachmittag im März und wir lassen uns von der milden venezianischen Luft einhüllen. Gut, dass Uschi im Vorfeld darauf bestanden hat, ein Wassertaxi zu buchen. Es ist ein zwar teurer, aber stilechter Eintritt in die Stadt. Wir werden zum Fährhafen gebracht und steigen in ein schickes, honigfarbenes Boot. Im Gegensatz zu Uschi wäre ich unprätentiös Bus oder Vaporetto gefahren und es wäre ein fataler Fehler gewesen. Dieses Boot! Ich habe noch die Bilder von der venezianischen Hochzeit von George und Amal Clooney vor drei Jahren im Kopf. George und Amal standen in genau so einem honigfarbenen Wassertaxi namens Amore und schipperten den Canal Grande zu ihren verschiedenen Locations rauf und runter. Amal verzauberte in verschiedenen Outfits, im Blumenkleid, im weißen Hosenanzug mit breitem Hut, im gestreiften Jumpsuit, mit Sonnenbrille und ohne Sonnenbrille. An das Hochzeitskleid kann ich mich gar nicht mehr erinnern, auch nicht an das sonstige Spektakel, einzig dieses Wassertaxi auf dem Canal Grande, im Hintergrund Santa Maria della Salute, hat sich in mein Gehirn eingebrannt. Einmal wie Amal den Canal Grande hoch und runter schippern, das wär’s doch, dachte ich immer und doch war es so weit weg. Nun steigen wir in ein solches Boot ein. Ein weiteres Geschenk des Krebses.

Das Boot legt ab und es geht in Richtung Lagune. Wir fahren in der Abenddämmerung an Murano vorbei, biegen in den Canale di Cannaregio ein, der schließlich in den Canal Grande mündet. Mein Gott, ist das schön. Die Stadt beginnt in der Dämmerung zu leuchten, Lichter lassen den Kanal erstrahlen. In der Ferne erkenne ich die Umrisse der Rialtobrücke. Wir gehen aus der Kabine heraus, stellen uns mit Sicht voraus ins Freie, spüren den Fahrtwind und sind berauscht von der Schönheit um uns herum. Die Paläste, das Wasser und die vielen funkelnden Lichter lassen in mir eine unbändige Freude aufkommen. Obwohl es schon fast dunkel ist, stecke ich mir meine Sonnenbrille ins Gesicht. Weil es einfach Style hat, aber auch um die Tränen zu verbergen, die mir über die Wangen laufen.

Der Taxifahrer telefoniert, wie kann es anders sein, und steuert lässig das Boot mit der einen Hand. Mit der anderen hält er sein telefonino dicht ans Ohr und spricht in dieser bezaubernden Sprache, wie kann es anders sein, mit seiner Mama und checkt, was es zum Abendessen gibt. So viel verstehen wir immerhin schon.

Während ich dem jungen Taxifahrer lausche, wandern meine Gedanken. Seit zwei Monaten arbeite ich wieder Vollzeit und bin nicht mehr krankgeschrieben. Ich habe nicht mehr frei, weil ich krank bin, sondern weil ich Urlaub eingereicht habe. Ich freue mich so sehr darüber. Ich habe diesen ersten Schritt zurück in ein normales Leben geschafft und stehe hier in Venedig auf einem Boot. Viele Frauen finden nach Diagnose und Therapie nicht mehr so richtig zurück ins Leben. Haben Schmerzen oder Lymphödeme, bekommen Depressionen oder werden das Fatique-Syndrom nicht mehr los. Sie schleppen sich durch den Alltag und trauern ihrem alten Leben nach. Manche nutzen die Krankheit auch, um die ungeliebte Arbeit loszuwerden.

Auch für meine Kollegen war meine Diagnose ein Schock. Als ich mit meinen kurzen Haaren wieder ins Büro kam, sind sie gekommen, haben mich umarmt und sich gefreut, dass ich wieder da bin. Ich las auch in ihren Gesichtern: »Wenn es die erwischt hat, dann kann es mich auch erwischen.« Mein Los ist es nun allerdings, Krebsgeschichten anderer Menschen anzuhören. »Ich weiß, wie es Ihnen geht, mein Vater durchläuft auch gerade eine Chemotherapie und es sieht gar nicht gut bei ihm aus«, jeder kennt jemanden, der Krebs hat. Die Erzählungen der anderen zeigen nur die eigene Angst vor dieser Krankheit und auch dem Tod. Je länger meine Haare werden und je weniger ich krebskrank aussehe, desto seltener werden die Geschichten. Oder habe ich nur gelernt, damit umzugehen? Mich abzugrenzen? Ja, das habe ich, denn jede Krebserkrankung ist anders. Jeder Tumor hat andere Tumoreigenschaften, man kann nicht vergleichen. Lange habe ich mich verteidigt, habe von meinem kleinen Tumor erzählt, der nicht gestreut und den man früh entdeckt hat. Habe klargestellt, dass ich wieder gesund bin. Das habe ich aufgegeben. Kaum jemand möchte das hören. Viele möchten ihre Geschichten und ihre Angst für kurze Zeit loswerden und sehen jeden Krebskranken als dem Tod geweiht.

Manche wenige erzählen auch von Angehörigen oder Bekannten, die gesund wurden und es immer noch sind. Das sauge ich auf. In diesem Jahr, aber auch in meinem gesamten, weiteren Leben, muss ich es schaffen, mich von diesen Geschichten nicht runterziehen zu lassen und Abstand zu schlimmen Krebsgeschichten zu halten. Wird man den Krebs jemals wieder los? Kann ich mich jemals wieder durch die gesunde Brille sehen? Werden die Menschen um mich herum mir wieder unbefangen begegnen können? Ich glaube, ich muss es selbst schaffen, dann wird sich auch mein Umfeld anpassen.

Die Tage im Büro bewältige ich immer besser und der Besuch im Ruheraum beim Betriebsarzt wird seltener. An manchen Tagen bin ich noch so erschöpft, dass ich in meinem Bürostuhl sitze und vor Erschöpfung weinen möchte. Dann stehe ich auf und gehe nach Hause. Bevor ich heimfahren kann, muss ich erstmal im Auto eine Weile schlafen.

Jetzt weine ich jedoch vor Glück. George und Amal. Uschi und Beate. Wir stehen auf einem Boot und fahren unter der hell erleuchteten Rialtobrücke hindurch und ich bin so unendlich dankbar, noch am Leben zu sein und hier sein zu können. Mein Gesicht ist von den Medikamenten noch aufgedunsen und ich habe im ganzen Körper Knochenschmerzen von der noch laufenden Antikörpertherapie. Trotzdem stehe ich hier und empfinde eine unbändige Freude. Es sind Tränen der Erleichterung und der Freude, diesen steinigen Weg der Krebstherapie hinter mir zu lassen und wieder in die Zukunft schauen zu können. Mein ganz persönlicher Amal-Moment. Halt ohne George.

Tot sein kann ich morgen noch

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