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Das Labyrinth

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Erstmal Wochenende. Am Montag beginnt die Schule und ich werde schon ein bisschen nervös. Es wird einen Eingangstest geben, das Ergebnis gibt das Sprachniveau wieder und legt die Klasseneinteilung fest. Ich hatte schon lange keine Prüfungssituation mehr und entwickle ein besseres Verständnis für meinen Sohn und seine Klassenarbeiten. Am Montag muss ich zum Test. Aber der Montag ist noch weit weg.

Vielleicht sollte ich noch Vokabeln lernen. Aber doch nicht, wenn die Sonne scheint und ein Wochenende in Venedig wartet. Schon meine Mutter hat mich bei Sonnenschein immer an die Luft geschickt.

Uschi und ich gehen also an die Luft. Wir wollen Venedig entdecken und einfach mal loslaufen. Mauro ist wieder da und Uschi widmet sich mit ihm intensiv dem Stadtplan. Sie lässt sich erklären, wie wir zur Piazza San Marco kommen. Ich möchte die beiden nicht stören und atme selbst den Stadtplan ein.

Navigieren und Stadtpläne sind meine Leidenschaft. Ich war damals ganz schön sauer, als die ersten Navigationsgeräte aufkamen und ich als navigierende Beifahrerin wegrationalisiert wurde. Die erste Zeit lieferte ich mir noch ein Battle mit der Stimme, die zum Schluss sagt: »Sie haben ihr Ziel erreicht.« Am Anfang war das Kartenmaterial noch nicht so gut und ich konnte mit meinem analogen Straßenatlas noch einige Male gewinnen. Irgendwann gab ich mich geschlagen. Das Navi hat übernommen.

In Städten, die von vielen Touristen besucht werden, ist das Bild langsam überall das Gleiche. Menschen gehen vornübergebeugt, mit Blick auf ihr Handy, suchend die Straßen entlang. Kein Wunder, dass die Medizinstatistik von steigenden Handyverletzungen im Nackenbereich berichtet.

Wir wollen doch Venedig anschauen und erleben und nicht dauernd auf eine Karte im Smartphone schielen. Ich präge mir also die Karte ein und habe so den Stadtplan immer abrufbereit. In meinem Kopf ist er als Bild abgespeichert, die markanten Plätze und Brücken geben Orientierung. So verlaufe ich mich üblicherweise nicht. Ob das auch im Labyrinth von Venedig funktioniert? Venedig ist schon eine Herausforderung. Ich kenne keine andere Stadt, die so viele kleine, verwinkelte Gassen und Sträßchen hat. Und dann auch noch die Kanäle und Wasserstraßen. Wenn man sich verlaufen hat, kann man sich nicht einfach mit dem Taxi heimfahren lassen. Auch das funktioniert in Venedig nicht.

Es ist blauer Himmel und die Sonne scheint. Daheim ist der Himmel grau, verstärkt von Schneeregen. Ich eise Uschi von Mauro los und wir verlassen den Palazzo und steuern schon nach wenigen Schritten auf das beliebteste Fotomotiv Venedigs zu.

An der Campo San Barnaba liegt das berühmte Gemüseschiff mit einem riesigen Angebot an Obst und Gemüse, wie man es nur in Italien findet. Wir wollen jetzt aber nichts kaufen, wir haben im Hotel ein, für italienische Verhältnisse, fulminantes Frühstück eingenommen. Wir steuern zielsicher die Ponte dell‘Accademia an und genießen den Blick zur Kirche Santa Maria della Salute, an der Mündung zum Canal Grande. Die Brücke ist voll von Stativen und Touristen, die einen Fotokurs in der Stadt gebucht haben. Sie warten auf das perfekte Licht und eine Fotoausrüstung ist imposanter als die andere.

Wir schlendern weiter durch die Gassen, kommen zu einem Platz und verlieren kurz die Orientierung. »Wir sind von da gekommen und müssen da hin«, sagt Uschi mit großer Überzeugungskraft und zeigt in die Richtungen. Genau das sage ich auch, zeige aber in völlig andere Richtungen. Ich kann Uschi mit Blick auf unseren Stadtplan nur mit Mühe von meiner Einschätzung überzeugen und wir gehen weiter, wie ich es vorgebe. Wir haben noch einige Situationen wie diese und Uschi jammert: »Oh Gott, ohne dich finde ich ja nie wieder ins Hotel zurück.« Von da an weicht sie mir nicht mehr von der Seite.

Die Gondolieri mit ihren rot geringelten Shirts warten auf Kundschaft. Venezianer tragen Einkaufstüten nach Hause, die Geschäfte sind voll. Es herrscht ein geschäftiges Treiben, Restaurants bereiten sich auf das Mittagessen vor. Wir überlegen noch, ob die Zeit für unseren ersten Cappuccino reif ist, als wir über eine kleine Gasse den Markusplatz betreten. Wir laufen auf San Marco zu, die Basilika baut sich vor uns auf. Imposanter kann es gar nicht sein und voller im Übrigen auch nicht.

Wir lassen uns mit Blick auf die Gondelanlegestelle am Palazzo Ducale nieder und trinken unseren ersten caffè macchiato. An der Seufzerbrücke verweilen wir lange und schauen den unzähligen Gondeln zu, deren Kundschaft hauptsächlich aus Chinesen mit Gucci- oder Prada-Taschen und schicken Sonnenbrillen besteht. Es herrscht reger Verkehr, die Gondolieri haben alle Hände voll zu tun, aneinander vorbei zu kommen. Die Touristen sehen ihre Gondelfahrt nur durch ihr Smartphone, manche quatschen hektisch hinein, winken und skypen wahrscheinlich mit der Mama daheim in Peking. Wie viele Handys wohl in den Kanälen Venedigs liegen, geht mir so durch den Kopf, als mich eine junge Chinesin fragt, ob ich ein Bild von ihrer Reisegruppe vor der Brücke machen könne. Gerne knipse ich die Gruppe. Sie sind nur für ein paar Stunden in Venedig, kommen aus Rom, wo sie in der Via del Corso kräftig eingekauft haben und stolz ihre neue italienische Garderobe, Handtaschen, Schuhe und Brillen ausführen. Italienische Körper mit chinesischen Gesichtern.

Es wird immer voller und wuseliger und unser Frühstück liegt schon einige Zeit zurück. Wir schlendern in Richtung des Arsenale. Es ist sehr erstaunlich, dass einige hundert Meter weg vom Markusplatz die Menschenmassen deutlich nachlassen. Es ist März, der Karneval ist vorbei und die Biennale ist noch nicht in Sicht, also ist die Touristenmenge überschaubar. Wir lassen uns in einer Trattoria nieder und bestellen in feinstem Italienisch. Uschis Standardgetränk ist eine schwarze Johannisbeersaftschorle, die sie tapfer jeden Freitag daheim im Buongustaio nach unserem Sprachkurs bestellt. Weiß der Venezianer, was schwarze Johannisbeeren sind? Gibt es den Saft hier? Uschi ist unerschrocken.

Per bere, zum Trinken, per me un‘acqua frizzante con succo di ribes neri, per favore. Ein Sprudelwasser mit schwarzem Johannisbeersaft, bitte. Eine Schorle ist in Italien unbekannt. Der Italiener trinkt Wasser, Wein oder Kaffee, die Kinder trinken manchmal Saft. Die freundliche Dame schaut Uschi sehr erstaunt und ziemlich verständnislos an. Ich glaube, sie merkt nicht mal, dass das Italienisch war. Wir trinken Wasser.

Zum Essen bestellen wir Fischsuppe und Risotto und werden nicht enttäuscht. Das ist dann doch etwas anderes als pappige Touristenpizza aus der Hand. Als Uschi ihren caffè doppio con dolceficante, einen doppelten Espresso mit Süßstoff, bestellt und die Bestellung tatsächlich verstanden wird, ist unsere Zufriedenheit sehr groß.

Gestärkt widmen wir uns wieder dem Labyrinth aus 3000 Gassen und 117 Kanälen und laufen in Richtung Biennale-Gelände. Erst jetzt, im Giardino della Biennale, fällt auf, dass Venedig kaum grün ist, wenig Bäume und Gärten hat. Der Park ist sehr schön, wir bewundern die Pavillons und ich habe schon wieder einen neuen Punkt für meine Bucket List: Besuch der Biennale in Venedig.

Wir müssen eine folgenschwere Entscheidung treffen. Wollen wir im Café Paradiso di Venezia im Giardino della Biennale oder bei Harrys Dolci auf der Giudecca unseren Nachmittagskaffee einnehmen? Ermattet müssen wir uns auf eine Bank unter schon blühenden Glyzinien setzen, um eine Entscheidung zu treffen.

Wir entscheiden uns für Harrys Dolci im Stadtteil Giudecca. Es ist ein Ableger der legendären Harrys Bar, eine Kultstätte Venedigs, die sich rühmt, den Bellini erfunden zu haben. Das Vaporetto bringt uns hin. La Giudecca ist ein wenig besuchter Stadtteil und eine der vielen Inseln Venedigs. Später müssen wir nur noch den Kanal überqueren und schon sind wir am Zattere, der Flanierpromenade Venedigs. Von hier sind es wenige Schritte in unseren Palazzo.

Harrys Dolci also. Wir wissen, dass es teuer werden wird, aber wird es das Geld auch wert sein? Ohne die Bewertungen in TripAdvisor gelesen zu haben, betritt man heute ja schon gar kein Restaurant mehr. Die Empfehlungen gehen von »Oh, Gott, niemals hingehen«, »Völlig überteuert und dafür schlecht« bis »Wir haben hier das beste Risotto unseres Lebens gegessen.« Wir wagen es trotzdem. Wir kommen wegen des Bellinis, des Schokoladenkuchens und der meringata al limone.

Harrys Dolci ist ein Ableger der berühmten Cipriani-Restaurants, die inzwischen auch in New York, Mexiko, Dubai und was weiß ich wo vertreten sind.

So sitzen wir am Kanal, stoßen mit einem sündhaft teuren Bellini, Pfirsichsaft mit Prosecco, an und essen Kuchen, der jedes Gramm auf den Hüften wert ist. Andrea ist ein aufmerksamer Kellner und freut sich, dass wir es so genießen können. Es ist eine zauberhafte Abendstimmung, wir blicken auf die Basilica di Santa Maria della Salute. Egal von welcher Ecke man auf die Kirche schaut, sie ist immer wunderschön.

Vom Zattere aus finden wir schnell nach Hause. Ja, nach Hause, es ist schon selbstverständlich geworden, in Venedig zu wohnen. Die Straßen und Bacari sind voll. Es ist Samstagabend und die Studenten bevölkern mit Bierbechern aus Plastik die Kanalmauern. Ein krönender Abschluss unseres ersten Tages in Venedig wäre noch ein Ombra mit einer kleinen Cicchetti-Auswahl, aber wir können beim besten Willen nicht mehr. In Venedig geht es die ganze Zeit um diese Cicchetti. Unsere Augen sind voll mit der Schönheit der Stadt und unsere Körper verdauen die Geschenke Italiens. Uschi lauert schon, ob Mauro noch da ist, aber da muss sie wohl bis morgen warten.

Tot sein kann ich morgen noch

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