Читать книгу Tot sein kann ich morgen noch - Beate Mäusle - Страница 6
Luxusproblem
ОглавлениеIch war ständig müde, doch ich war glücklich dabei, ich war zufrieden mit meinem Leben. Es war so, wie ich es wollte.
Wenn man fünfzig wird, flattert in Deutschland die Einladung zum Mammographie-Programm ins Haus. Sie kam drei Monate nach meinem Geburtstag.
Ich hatte einen vollen Terminkalender und warf die Einladung in den Müll. Brauch ich nicht, ich bin gesund, ich doch nicht. Krank waren doch die anderen.
Wir flogen in unseren Sommerurlaub und als wir zurückkamen, lag die nächste Einladung in der Post. Dieses Mammographie-Programm war ganz schön hartnäckig, und in der Entspannungsnachwirkung des Urlaubs meldete ich mich für einen Termin an.
Beim ersten Termin hatte ich meine Versichertenkarte vergessen. Ohne Karte keine Mammographie. Den zweiten Termin hatten die Helferinnen verbummelt und das Gerät war schon zum Feierabend ausgeschaltet. Ach, dann lassen wir das, dachte ich, es soll wohl nicht sein, dass ich diese Untersuchung mache. Die Helferinnen bestanden jedoch darauf, das Gerät wieder anzuschalten und die Untersuchung durchzuführen. So bekam ich endlich mein brustgequetschtes Bild.
Schon wenige Tage später bekam ich eine Einladung ins Mammographiezentrum. Es sei nur ein Verdacht, die Einladung würde nicht bedeuten, dass man krank sei, sicher löse sich alles in Wohlgefallen auf. Immer noch war ich der Meinung, dass ich kerngesund sei, schlief nachts gut und machte mir keine Sorgen. Als der Arzt jedoch während des Ultraschalls über mir mit dem Gesicht zuckte und eine Biopsie anordnete, dämmerte mir Unheil. Mein Unterbewusstsein war schnell, es hatte die Lage schon begriffen. Mein Bewusstsein war jedoch ein ganzes Wochenende damit beschäftigt, die Wahrheit nicht hochkommen zu lassen. Ich arbeitete wie wild im Garten, ging joggen, war sehr gereizt und stritt über belangloses Zeug mit meinem Mann, machte meinem Sohn Vorhaltungen bezüglich seiner Hausaufgaben und seinem Engagement in der Schule. Es nützte alles nichts, eigentlich wusste ich es schon.
Einige Tage später dann der Anruf: »Da ist ein Knoten in Ihrer Brust, sehr klein, man wird Sie operieren, eventuell bestrahlen und dann sind Sie wieder gesund. Machen Sie sich keine Sorgen.« Der Arzt war sehr einfühlsam, aber auch bestimmt: »Suchen Sie sich so schnell wie möglich ein Brustzentrum, um alles Weitere zu veranlassen.« Bis dahin wusste ich nicht einmal, dass es so etwas gibt. Er machte mir noch Vorschläge, wo ich hinkönnte, ich nahm alles wie durch einen Schleier wahr. Ich stolperte zurück in das Geschäft, wo ich vor dem Anruf des Arztes ein Geburtsgeschenk ausgesucht hatte, bezahlte und stand wieder an der frischen Luft. In ein paar Tagen wollten wir nach Berlin fahren und das neugeborene Baby unseres Patenkindes auf der Welt begrüßen.
Es war meine Mittagspause und ich lief durch die Stadt zurück ins Büro. Die Tränen liefen und langsam drangen die Wörter in mich. Tumor, Knoten, Operation, Bestrahlung, Brustzentrum. Tumor, Knoten, Operation. Tumor.
Am Marktplatz setzte ich mich auf eine Bank und hielt inne. Ich wusste nicht, was ich tun sollte. Wie sollte ich diese Neuigkeit bloß meinem Mann beibringen oder meinem Sohn? Was tat ich ihnen damit nur an? Ich rief eine Freundin an. Sie wartete ohnehin auf das Ergebnis. Ich heulte ins Telefon, stammelte Unzusammenhängendes. Ich konnte keinen klaren Gedanken fassen. Was sollte ich jetzt bloß tun? Am liebsten wäre ich einfach für immer auf dieser Bank sitzen geblieben. Regungslos und fassungslos. Irgendwie schaffte ich es ins Büro, aber ich hatte das Gefühl, dass der Boden unter mir aufgehen würde und ich ganz tief fiele. Ich schlich mich nach drinnen, schaltete meinen Rechner ab und ging.
Zuhause angekommen rief ich meine Hausärztin an. Ich konnte sofort kommen. Sie half mir, mich zu sortieren und vereinbarte gleich einen Termin im Brustzentrum für mich. Es gab keine Wartezeiten wie sonst üblich, ich bekam sofort einen Termin. Bei dieser Diagnose geht das alles sehr schnell.
Im Brustzentrum sah die Welt dann ganz anders aus. Schnell operieren, Chemotherapie, das volle Programm. Aggressiver HER2-Rezeptor. Kalkablagerungen. Tumoreigenschaften. Maligner Tumor. Die Wörter waren unverständlich. Ich verstand nur: Krebs. Aggressiv. Bedrohlich. Da war es, das K-Wort.
Die Ärzte sagten mir, die Krankheit und Therapie würden mich ein Jahr lang beschäftigen. Ich glaubte ihnen nicht.
Es wurden vierzehn schlimme Monate. Die schreckliche Therapie brach über mich herein und ich bewältigte Tag um Tag, ließ mich nicht hängen und unterkriegen. Ich bot dem Krebs die Stirn und habe ihn aus meinem Körper vertrieben.
Ich trug eine schicke Perücke und wurde gefragt, zu welchem tollen Friseur ich ginge und ob es mir etwas ausmache, wenn sie meine Frisur nachschneiden lassen würden. Ich führte meine Glatze aus und man taufte mich Sinead O'Mäusle. Alle Haare verschwanden, Wimpern und Augenbrauen verabschiedeten sich. Mir fielen die Zehennägel aus. Am Ende der Therapie war ich so schwach, dass ich nur mit Mühe Treppen steigen konnte.
Ich kämpfte mich mit Sport, gesunder Ernährung und viel Schlaf zurück ins Leben. Bekämpfte die Angst. Begann wieder auf meinen Körper und meine Seele zu hören. Ich holte mir mein altes Leben zurück und machte ein besseres, neues Leben daraus. Der Krebs ist verschwunden, ich bin wieder gesund und versuche nach diesem Wirbelsturm, mein Leben wieder zu ordnen. Die Trümmer zu beseitigen und mich neu einzurichten. Vieles habe ich geändert, obwohl ich dachte, es gäbe nichts zu ändern. Nun muss meine Seele heilen. Dabei hilft mir mein Luxusproblem.
Nach mehr als einem Jahr bin ich an meinen Arbeitsplatz zurückgekehrt. Das erste Wochenende nach der ersten Arbeitswoche habe ich gefeiert. Ich war so glücklich, wieder ein Wochenende zu haben. Wieder Alltag. Vorbei waren die zähfließenden Tage, wo ich nur wartete, dass die Minuten vorbeigingen und die Schmerzen oder Übelkeit nachließen. Oft saß ich am Montagmorgen verloren am Küchentresen, mein Mann fuhr ins Büro und mein Sohn rannte zum Schulbus. Ausgespuckt, krank und wertlos saß ich daheim und wartete darauf, dass die Zeit verging. Oft war ich zu schwach für Aktivitäten, meist sollte ich wegen der Ansteckungsgefahr nicht unter Menschen gehen. Wie schön war es, als ich wieder einen Alltag hatte. Der Wert des Alltags wird dramatisch unterschätzt und wie wohltuend es ist, eine Aufgabe zu haben, Kollegen zu treffen und mit Freunden Mittagessen zu gehen.
Ich begann langsam mit meiner Wiedereingliederung und nahm schnell Fahrt auf. Die erste Woche arbeitete ich nur zwei Stunden, meine Ärztin bestand darauf. Ich wollte natürlich gleich wieder halbtags anfangen, aber sie hatte Recht. Zwei Stunden genügten am Anfang. Es war sehr schwer, wieder in einen Arbeitsrhythmus zu kommen. Nach einem Monat arbeite ich schon wieder Vollzeit. Vom Personalbereich bekam ich die Aufforderung, mir Gedanken über meinen angesammelten Urlaub zu machen. Einen Abbauplan? Und jetzt kommt’s: in meiner Krankheit hatten sich 80 Tage Urlaub angesammelt. Vier Monate. Wow.
Erst dachte ich: Na ja, den bekomme ich schon irgendwie weg. Als dann eine Kollegin bemerkte, da könne man ja eine Weltreise machen, begann es in mir zu arbeiten. Sollte ich längere Zeit am Stück Urlaub nehmen oder lieber in kleinen Häppchen? Konnte ich nach dieser langen Krankheit schon wieder so lange fehlen? Ich überlegte, wie ich mit meinem Luxusproblem von vier Monaten Urlaub umgehen wollte. Was wollte ich mit der vielen, freien Zeit anfangen? In 80 Tagen um die Welt?
Man wollte mir den Urlaub auszahlen. Ging glücklicherweise aus Budgetgründen dann doch nicht. Das war mir sehr recht, ich wollte lieber die freien Tage. Dann schlug man mir vor, doch eine Vier-Tage-Woche einzuführen und so meinen Urlaub abzubauen. Schon klar. Vier Tage arbeiten, die Arbeit von fünf erledigen. An meinem freien Tag wäre ich Schultaxi, Köchin und Hausfrau. Das Einzige, was dabei herausspringen würde, wäre ein Mittagsschlaf.
Das war nicht, was ich wollte. Nach dieser schweren Krankheit sollte ich wieder brav in der Spur laufen? Nach so einer schlimmen Zeit sollte ich es wieder allen recht machen? Und wo blieb ich? Ich kam sehr ins Grübeln. Ich setzte mich hin und überlegte, was ich schon immer in meinem Leben machen wollte. So entstand meine persönliche Bucket List.
Was ich schon immer einmal machen wollte:
Wasserski fahren lernen
einen Sprachkurs in einer tollen Stadt machen
den Sommer als Sennerin auf einer Alm verbringen und Käse herstellen
eine Yogareise, muss nicht Indien sein
eine Ayurveda-Kur in Indien oder Sri Lanka
den portugiesischen Jakobsweg pilgern
eine Meditationsreise, am besten in ein buddhistisches Land
mit Delphinen schwimmen (peinlich, steht auf jeder Bucket List)
eine Eisdiele mit meinen leckeren Eiskreationen eröffnen
auf Safari gehen und den Elefanten in freier Natur »Hallo« sagen
Pinguine in freier Wildbahn sehen
auf eine Nordseeinsel fahren
nach Mailand fahren und Leonardo da Vincis Abendmahl anschauen
Während meiner Krankheit und Chemotherapie habe ich viel über den Sinn solcher Bucket Lists nachgedacht. Im Internet kann man tagelang Listen lesen, die Menschen erstellt haben. So berichten sie von den verrücktesten Dingen, die sie vor runden Geburtstagen oder vor dem eigenen Tod erledigt haben wollten. Das Leben erledigen?
Wenn man eine Krebsdiagnose bekommt, hat man von diesem Augenblick an keine Zukunft mehr. Krebs bedeutet in den Köpfen der Menschen immer noch unweigerlich den Tod, der auf die Krankheit folgt. Viele in meinem Umfeld reagierten so, als ob ich schon einen Fuß auf dem Friedhof hätte. Im Büro wurde ich von einem Kollegen gefragt, ob ich überhaupt wiederkommen würde. Nicht jeder glaubte an meine Heilung. Ich glaubte daran zu jeder Zeit.
Trotzdem kam der Tod gedanklich näher, setzte sich in meinen Kopf. Ich dachte: Jetzt musst du vielleicht sterben, was würdest du denn noch unbedingt machen wollen? Was wäre, wenn jetzt Schluss wäre?
Der Schriftsteller Wolfgang Herrndorf erkrankte Anfang 2010 an einem Gehirntumor. Alles, was er wollte, war seinen Roman zu Ende bringen und veröffentlichen, was er im Herbst 2010 mit »Tschick« tatsächlich schaffte. Seine Lösung war, der Krankheit mit Arbeit und Struktur zu begegnen. Der Tumor als Turbo für Lebensziele und Wünsche. Leider kann er den Erfolg nicht mehr auskosten. Der Gehirntumor hat gewonnen, aber »Tschick« hat überlebt.
Und ich, was muss ich auf dieser Erde noch erledigen, um friedlich sterben zu können? Die Antwort lautet: nichts. Alles, was ich wollte, war leben. Weiterleben. Zeit mit meiner Familie und meinen Freunden verbringen. Meinen Sohn auf seinem Weg zum Erwachsenwerden begleiten, seinen Abiball erleben, bei seiner Hochzeit dabei sein und mit meinen Enkelkindern spielen, falls er sich für all das entscheiden würde. Ich war noch nicht bereit für diese Frage. Ich hatte keine Antwort, weil ich den Tod nicht akzeptierte.
Die Frage ist eine ähnliche Frage wie »Was würde ich mit zehn Millionen machen, wenn ich im Lotto gewinnen würde?« Es ist eine Trockenübung zum Ergründen unerfüllter und ungelebter Wünsche und Lebensträume. Ob Krebsdiagnose oder Lottogewinn, das ganze Leben kommt auf den Prüfstand. Wenn die Antwort lautet, nichts in seinem Leben verändern zu wollen, hat man den Jackpot schon geknackt. Man ist rundum zufrieden mit seinem Leben.
Was ist im Angesicht des Todes wichtig? Ist es wichtig, dass ich mit Delphinen geschwommen bin? Lässt es mich ruhiger sterben, wenn ich in einem Eisloch in Russland getaucht bin?
Ich glaube nicht. Ich habe jedoch noch keine gesicherte Antwort darauf und habe auch kein Interesse daran, das zügig herauszufinden. Ich glaube, man findet das nur heraus, wenn der Tod wirklich vor der Tür steht. Die Frage, was in meinem Leben für mich wichtig ist, stelle ich mir regelmäßig. Der Tumor war mein Turbo für die Antworten.
Ich möchte leben. Dabei ist wichtig, auf mein Herz zu hören und in der Liebe zu leben. Dazu braucht es nicht unbedingt einen Delphin oder ein Eisloch in Russland. Es braucht Mut und Geduld, das eigene Glück zu finden und zu leben. Frei von Erwartungen anderer.
Meine Wunschliste ist deshalb auch nicht als Vorbereitung auf den Tod zu verstehen. Es ist keine Liste, die es vor meinem Tod abzuarbeiten gibt. Es ist auch keine Liste von beruflichen oder privaten Zielen, im Sinne von Erfolg oder Karriere. Im Gegenteil, es ist eine Liste der Lebensfreude. Mit diesen achtzig Tagen möchte ich meine weitere Heilung unterstützen und neu herausfinden, was von mir gelebt werden will. Nach einem Jahr der physischen Heilung erfolgt eine Zeit der psychischen Heilung.
Die vielen Wünsche passten sehr gut in meine Realität. Ich konnte nicht vier Monate am Stück freinehmen und eine Weltreise machen. Das wollte ich auch gar nicht. Ich wollte wieder den Alltag leben, jetzt wo ich den Wert des Alltags richtig zu schätzen wusste. Er hat mich warm umfangen und mich wieder ins Leben zurückgebracht. Mein äußeres Leben passte weiterhin zu mir. Ich wollte es wieder zurückhaben, mein gewohntes, geliebtes Leben. Und trotzdem muss ich mir die Frage erlauben, ob es Veränderungen braucht, um gesund zu bleiben. Viele Menschen erkennen in ihrer Krankheit und Verzweiflung, dass sie ein Leben führen, das nicht zu ihnen passt. Falscher Beruf, falscher Partner, nichts ist so, wie es sein sollte. Ich möchte alles behalten und es noch mehr wertschätzen. Wieder Kraft bekommen. Gleichwohl war es Zeit, in der Lebensmitte, im Inneren aufzuräumen. Ein bisschen auch im Äußeren.