Читать книгу Tot sein kann ich morgen noch - Beate Mäusle - Страница 9
Meine persönliche Bucket List
ОглавлениеIch sitze vor einem riesigen Kalender und brüte über meiner Planung. Es ist gar nicht so einfach herauszufinden, was man wirklich möchte. Höre auf dein Herz? Wenn das so einfach wäre. Es spricht so leise und undeutlich. Herz über Kopf. Mein neues Motto. Das muss ich erst noch üben.
Warum eigentlich Bucket List? »Kick the bucket« heißt auf Deutsch »den Löffel abgeben«. Eine Löffelliste quasi. Wie gesagt, für mich ist es eine Liste der Lebensfreude.
Was von meiner Löffelliste passt also in meine achtzig Tage?
Meine Liste ist eine momentane Auflistung meiner Lebensträume und Wünsche. Wobei Lebensträume ein großes Wort ist. Vor dreißig Jahren hätte diese Liste anders ausgesehen. Viele meiner Lebensträume habe ich bereits verwirklicht. Manches möchte ich mit meiner Familie erleben. Manche Punkte meiner Liste sind nicht unbedingt in einem kurzen Zeitraum zu bewältigen. Ich habe einfach aufgelistet, wonach mir der Sinn steht. Ob das Lebensträume sind, weiß ich jetzt auch nicht.
Was picke ich mir also für mein Luxusproblem heraus? Was hält einer Überprüfung stand und was erweist sich am Ende doch nicht als wichtig? Sind diese Wünsche in meinen achtzig Tagen Urlaub zu realisieren? Das muss ich genauer beleuchten.
Beginnen wir mit den Wasserskiern. Das wollte ich schon als Kind lernen. Um seinen Wünschen auf die Spur zu kommen, sollte man sich an seine Kindheitsträume erinnern, sagt man. Hier haben wir einen! Ich sehe mich elegant, einhändig und graziös über das Wasser gleiten. Das ist, glaube ich, ein Wunsch der einfacheren Sorte. Da müsste ich nur an den Bodensee fahren und entweder einen Kurs buchen oder das Boot von Freunden nutzen. Das muss unbedingt auf die Liste!
Beim Sprachkurs in einer tollen Stadt ist die Lage klar. Schon einige Jahre lerne ich Italienisch an der VHS. Um flüssig sprechen zu können, fehlen noch der letzte Schliff und die Gelegenheiten. Ich liebe Italien, die Sprache, die Menschen, das Land und die Küche. Wer nicht? Ein Sprachkurs würde mich wirklich weiterbringen. Und mir riesig Freude bereiten. Roma, Firenze, Milano, Venezia. Check, das ist unbedingt ein Wunsch für mein Luxusproblem. Auf die Liste!
Was treibt mich bei dem Wunsch, einen Sommer lang Sennerin sein zu wollen? Ein Freund und ich träumen schon seit Jahren von einer Auszeit in den Bergen. Für den Sommer werden händeringend Senner und Sennerinnen gesucht. In meiner Vorstellung liege ich wie Heidi im Heustadel, bewirte Wanderer mit einer Brotzeit und verarbeite Milch zu Käse. Abends genieße ich beim Alpenglühen das Alleinsein, kann Abstand finden zum Trubel in meinem Leben. Soweit die Theorie. But wait. Ich schaue mir Anzeigen von Sennereien an. Es gibt da ein Problem. Ich müsste melken und Kühe versorgen. Das geht gar nicht. Da habe ich die Hosen voll. Ich habe großen Respekt vor Kühen, nicht umsonst sind sie in Indien heilig. Erst kürzlich hat mir ein befreundeter Tierarzt erzählt, wie ihm eine Braungefleckte mal kurz einen Tritt auf den Oberschenkel gegeben und ihn außer Gefecht gesetzt hat. Als Kind habe ich einer Freundin, deren Eltern einen Bauernhof bewirtschafteten, geholfen, die Kühe auf die Weide zu treiben. Die Kühe haben mich getrieben. Von helfen konnte keine Rede sein. Leichten Herzens verschwindet die Alm ganz aus meiner Gedankenwelt. Das war ein Faketraum. Runter von der Liste.
Schon als junge Frau habe ich Yoga geübt und es jetzt nach meiner Therapie wieder aufgenommen. Ich habe es mit Tai Chi versucht, aber das ist nichts für mich. Yoga sehr wohl. Es gibt viele Yogalehrer und Angebote bei uns. Ich übe Yoga bei einer tollen Lehrerin im Fitnessstudio. Sie hat bei mir den Appetit auf spirituelles, indisches Yoga geweckt. Das wird an vielen Orten der Welt gelehrt. Vielleicht sollte es aber doch Indien sein? Luxusproblem! Auf die Liste.
Indien und Sri Lanka als Ursprungsländer des Ayurveda interessieren mich schon immer. Einige Freunde haben mir von den Erfolgen einer Entgiftungskur, einer Panchakarma, erzählt, zuletzt auch Martina, die ich in meiner Anschlussheilbehandlung nach der Chemotherapie kennengelernt habe. Sie ist nach Sri Lanka gereist und hat drei Wochen in einer staatlichen Klinik in Öl gebadet, Öleinläufe verabreicht bekommen und sich die Stirn mit Öl begießen lassen. Basis einer Ayurvedakur sind Ölmassagen. Nicht jeder findet das anziehend, ich schon. Das Chemogift muss ganz aus meinem Körper raus! Dieser Wunsch kommt mit Prio eins auf die Liste.
Der Plan, den portugiesischen Jakobsweg zu pilgern, gehört unbedingt auf die Liste. Das schwirrt schon lange in meinem Kopf umher. Ich hatte immer den klassischen, bei uns bekannten Weg von den Pyrenäen nach Santiago de Compostela im Blick. Den Camino Francés. Der ist zeitlich aufwendig. Mein Sohn war in meiner Zeit der Chemotherapie in Gondomar in Galizien, nicht weit von Santiago de Compostela, zum Schüleraustausch und wir haben eine liebenswerte spanische Familie kennengelernt. So bin ich auf den portugiesischen Camino gestoßen. Der geht klassisch von Lissabon im Landesinneren nach Santiago de Compostela, vorbei an vielen bedeutenden, historischen Klöstern der Pilgergeschichte. Es gibt auch einen Küstenweg, der mich sehr anspricht. Von Porto aus möchte ich nach Santiago de Compostela pilgern und bei Marisú in Gondomar vorbeischauen. Auf die Liste. Mit der allerhöchsten Prio.
Wie dringend ist mein Wunsch nach einer Meditationsreise? Schweigen im Kloster, Meditation am Strand, was auch immer. Ich meditiere schon seit vielen Jahren, fühle mich danach immer total geerdet, bringe es aber nicht in meine Tagesroutine eingearbeitet. Man liest von Meditationsretreats und den Effekten von Gruppenmeditationen, dem sogenannten Maharishi Effekt. Eine Zeitlang habe ich Tai Chi geübt, was sich als nicht passend für mich herausgestellt hat. In diesem Dojo, dem Übungsraum, wurden auch Meditationseinheiten angeboten. Voller Erwartungen ob der freiwerdenden Meditationsenergien bin ich zu diesen Einheiten geschwebt. Zu spüren war nichts, rein gar nichts, nada, niente. Die Teilnehmer sind gekommen, haben sich in den Raum gelegt, mit Decken zugedeckt und sind eingeschlafen. Nach dieser enttäuschenden Erfahrung habe ich den Wunsch, mich der Sache professioneller zu nähern. Auf die Liste!
Der Wunsch, mit Delphinen zu schwimmen, ist mir schon ein bisschen peinlich. Das ist wie der Jakobsweg und Yoga auch, so ein privilegierter Zahnarztgattinnenwunsch par excellence. Die Zeit für Peinlichkeiten ist aber definitiv vorbei, was gehen mich die Meinungen anderer an? Der Wunsch lässt sich bei einem Urlaub mit der Familie in Florida oder der Karibik verwirklichen. Unbedingt dranbleiben also, aber nicht in den 80 Tagen. Runter von dieser Liste und rein in die Familienliste.
Die Eisdiele und die Safari streiche ich leichten Herzens von der Liste. Bei der Eisdiele verstärkt sich der Verdacht, dass es in die Kategorie »Kleinmädchentraum« gehört, weil ich gerne Eis esse und selbst zubereite. Banane-Sauerrahm ist neben Himbeere-Kokos die beliebteste Sorte unter meinen Eisfollowern. Seit ich eine Eismaschine besitze, zaubere ich die tollsten Eissorten. Dabei belasse ich das auch. Die Safari möchte ich zusammen mit meiner Familie erleben. Sie kommt auf die Familienliste.
Warum werden Pinguine nicht von Eisbären gefressen? Weil Eisbären am Nordpol leben und Pinguine am Südpol. Die beiden begegnen sich also nicht. Um Pinguine in freier Wildbahn zu sehen, müsste ich vierzehn Stunden nach Buenos Aires fliegen, weitere vier Stunden nach Feuerland. Mit dem Eisbrecher durch die Drake-Passage, mit mehreren Packungen Tabletten gegen Seekrankheit. Ich habe nach meiner Therapie noch nicht genügend Kraft für ein solches Abenteuer, ich darf mich nicht überfordern. Vielleicht gibt es auch noch andere sehenswerte Pinguinpopulationen außerhalb der Antarktis. Momentan übersteigt das auf jeden Fall meine Kräfte.
Es zieht mich schon lange nach Norden, an die nordfriesischen Inseln oder auch nach Dänemark. Meine Familie ist dafür nicht zu begeistern, das Wetter sei dort zu schlecht. Die Reha in Sylt hat diesen Wunsch bereits erfüllt.
Der letzte Wunsch meiner Liste, nach Mailand zu fahren und Leonardo Da Vincis »Abendmahl« anzuschauen, ist leicht zu erfüllen und zu bewerten. »Il Cenacolo Vinciano« wartet schon sehr lange auf mich. Mein Büro am Stuttgarter Hauptbahnhof lag lange Jahre in Richtung zu den Gleisen. Jeden Morgen um die gleiche Zeit fuhr der Cisalpino ein und in wunderbarem Italienisch wurde die Fahrt nach Milano Centrale angekündigt. Ich verspürte täglich den Impuls, von meinem Schreibtisch aufzustehen, einfach in den Zug zu steigen und Leonardos Cenacolo in Mailand anschauen zu gehen. Den Cisalpino gibt es leider nicht mehr, das Abendmahl von Leonardo ist inzwischen restauriert, man kann es wieder besuchen und dieser Wunsch gehört auf meine Liste.
So. Nun ist ja einiges geklärt. Auf meinem Totenbett werde ich also nicht bedauern, dass ich nicht mit einer Kuhherde den Sommer verbracht habe. Da bin ich mir sicher. Es geht bei meiner Bucket List, wie gesagt, aber auch nicht um mein Totenbett, es geht darum, Träume zu verwirklichen mit einem Geschenk, das mir der Krebs gemacht hat: viel, ganz viel Urlaub.
Was bleibt also übrig?
Wasserski fahren lernen
Sprachkurs in einer tollen italienischen Stadt machen
Eine Yogareise, muss nicht Indien sein
Eine Ayurvedakur in Indien oder Sri Lanka
Den portugiesischen Jakobsweg pilgern
Meditationsreise
Mailand und das »Abendmahl« von Leonardo da Vinci
Die ganzen amerikanischen Erfolgsratgeber habe ich während meiner Chemotherapie in den Müll geschmissen. »Du kannst schaffen, was du willst, du musst es nur genug wollen.« Oder: »Setze dir Ziele und arbeite jeden Tag daran.« Oder »Zeitmanagement: Wie optimiere ich meinen Tag.« Ich möchte nicht mehr optimieren, die ganzen Erfolgsversprechen haben mich gestresst. Die alte Beate hätte einen Plan ausgearbeitet, der alle acht Wünsche in die achtzig Tage gepresst hätte. Das mache ich so nicht mehr. Ich werde nur tun, wonach mir ist. Wenn Zeit übrig ist, ist das auch wunderbar. Achtzig Tage hören sich unglaublich viel an. Aber auch diese Zeit ist endlich. Ich muss trotzdem gut überlegen, womit ich beginne und was mir am wichtigsten ist.
Ich darf mich nach der Krankheit nicht überfordern, muss meine Kraft gut einteilen. Schließlich bekomme ich noch alle drei Wochen ein Antikörpermedikament, das Nebenwirkungen erzeugt. Die Chemogifte sind noch nicht verdaut, mein Körper hat ganz schön zu tun. Ich brauche genügend Ruhepausen, sowohl im Alltag als auch beim Luxusproblem. Alles, was ich tue, muss meine physische und psychische Heilung unterstützen und mich den Antworten auf meine vielen Fragen näherbringen.
Ich möchte mit dem Sprachkurs beginnen. Das kann man gut alleine machen und ist zum Einstieg nicht schlecht. Es ist deutscher Winter und in einer italienischen Stadt kann das Wetter nur besser sein. Meine Freundin Uschi aus dem Italienischkurs hat letztes Jahr eine Sprachreise nach Sizilien gemacht und ist sprachgewandt und begeistert wieder zurückgekommen. Ich frage sie über ihre Reise aus und es ergibt sich, dass sie begeistert mitkommt. Zur Auswahl stehen Taormina in Sizilien, Rom oder Venedig. In Taormina war Uschi schon, in Rom war ich schon und Venedig kennen wir nur als Tagestouristen. Ecco, nach Venedig wird es gehen. Wir finden eine Sprachschule mit guten Bewertungen und bekommen einen freien Platz. So schnell geht das. Es ist jetzt Februar und schon im März reisen wir nach Venedig.
Ein Sprachkurs wie dieser verspricht mir Hirntraining und hilft mir, meine Konzentrationsstörungen in Folge der Chemo zu heilen. Im schlimmsten Fall lerne ich nichts und habe eine schöne Zeit in Venedig. Es geht ja um nichts. Ich muss keine Prüfung schreiben und kein Zertifikat erreichen. Das ist das Geschenk an den Lebensabschnitt ab Fünfzig. Ich muss mich niemandem mehr beweisen, nicht einmal mir selbst. Im besten Fall lerne ich endlich flüssig Italienisch zu sprechen und kann die »Ähs« und das »Wie heißt das noch mal auf Italienisch?« weglassen. In Venedig zu wohnen und nicht als Tagestourist wieder zu verschwinden, ist schon lange ein Wunsch von mir.
Der Italienischkurs in Venedig soll dabei helfen, meine kognitiven Fähigkeiten weiter zu steigern und die Chemogifte vergessen zu lassen. Genauso wichtig wie das Hirntraining scheint mir eine Entgiftung für meinen Körper zu sein. Ich wurde ein halbes Jahr lang konsequent vergiftet, man hat die Maximaldosis ausprobiert, um mich gesund zu machen und mich gesund bleiben zu lassen. Hat erstmal geklappt, aber es dauert anscheinend Jahre, bis das Gift wieder aus dem Körper ist. Auch nach fünf Jahren kann man wohl bei Blutuntersuchungen erkennen, dass man eine Chemotherapie hatte. Die Ayurvedakur ist deshalb zweite Priorität und da bei einer Panchakarma-Kur immer auch Yoga dabei ist, schlage ich zwei Fliegen mit einer Klappe. Zwei Klappen, nein, es sind drei! Ich kann endlich nach Indien reisen, mich dem Ayurveda hingeben und mich beim Yoga spirituell erleuchten. Auf nach Kerala in Indien, dem Geburtsland des Ayurveda.
Der Wunsch, den Jakobsweg zu pilgern, war bislang ein Wolkenkuckucksheimwunsch. So weit weg und so anders als alles, was ich bislang unternommen habe. So spirituell und katholisch. Lange Jahre war es mir zu touristisch und zu religiös. Wenn ich in mich hineinspüre, schlummert dieser Wunsch jedoch seit Jahren in mir und kommt immer wieder hoch. Mittlerweile schreit er nach Verwirklichung, wenngleich ich sehr großen Respekt davor habe. Werde ich es schaffen, 25 Kilometer pro Tag zu gehen? Mit einem schweren Rucksack auf den Schultern? Schaffe ich das ganz alleine? Kann ich mich mit dem Gepäck so begrenzen, wo doch mein Motto »gib mir einen Koffer und ich mache ihn voll« immer noch in eine ganz andere Richtung weist? Ich werde es ausprobieren. Ich werde, ohne es gewagt zu haben, keine Antworten auf diese Fragen bekommen. Wenn nicht jetzt, wann dann?
Das Vorhaben ist physisch und psychisch fordernd, so stelle ich mir das vor. Ich werde es nicht bereuen, wenn ich das Pilgern abbrechen muss, ich werde bereuen, es nicht versucht zu haben. Die größte Herausforderung wird für mich sein, ohne Plan und ohne zu wissen, wo ich übernachten werde, in die Welt hinauszugehen und mich alleine zurechtzufinden.
Das sind erstmal die wichtigsten Punkte meiner Löffelliste. Mit diesen drei Vorhaben beginne ich und spreche mir Mut zu, ich muss nicht alles gleich erledigen. Wasserski, Meditieren und Leonardo da Vincis Abendmahl dürfen noch warten. Vielleicht bleibt ja noch Zeit und Budget für diese Träume übrig.
Die Spiele können beginnen: Learn, Heal, Walk! Venedig, Kerala und Santiago de Compostela. Werde ich in der Kathedrale von Santiago de Compostela sagen können, vom Kopf zurück ins Herz gereist zu sein?