Читать книгу Tot sein kann ich morgen noch - Beate Mäusle - Страница 17
Die Schüler
ОглавлениеMeine erste große Pause nach Jahrzehnten ist um und ich habe sie grandios verbracht. Unsere Klasse ist kunterbunt zusammengewürfelt. Amerikaner, Briten, Australier, Chilenen und Deutsche.
Da ist John, ein amerikanischer Geschichtsstudent. Seine Augen leuchten, wenn er von den Archiven der Stadt erzählt, in denen er seine Zeit verbringt. Er brennt für die Wirtschaftsgeschichte von San Marco, interessiert sich für den mehrmaligen Aufbau und die wirtschaftlichen Zusammenhänge und Finanzierungen. Er schwärmt vom Staatsarchiv am Campo dei Frari. Wenn er munter ist, erzählt er die abenteuerlichsten Geschichten über Pferde und Autos, meist ist er aber so müde, dass er den halben Unterricht verschläft. Wie er da so in seinen ollen Jeans und amerikanischen Holzfällerhemden sitzt, kann man ihm fast nicht glauben, dass er in die Emiglia hinuntergedüst ist, um sich in Maranello einen Ferrari für das Wochenende auszuleihen. Zum Kontrast bietet er Geschichten über wilde Pferde in Italien an. Nach dem Ferrari-Wochenende ist er nämlich in den Parco Naturale della Maremma gefahren, um die wilden Pferde zu sehen und zu reiten. Oder ist er mit dem Ferrari in die Maremma gefahren? Den amerikanischen Cowboy moderner Art nehme ich ihm nicht so ganz ab. Dazu ist er zu bleichgesichtig und untrainiert und seine amerikanischen Trekkinglifestyleschuhe sehen gänzlich unbenutzt aus. Wahrscheinlich hängt er am Campo Santa Margherita ab.
Neben John sitzt Jimmy, auch Amerikaner. Er arbeitet ganz unspektakulär als Koch in einem Restaurant am Zattere. Er möchte hier leben, sich für immer niederlassen und dafür lernt er Italienisch. Dazu gesellt sich noch Jeffrey aus New York. Ich frage mich, warum man nur aus New York wegziehen möchte. Er hat seine Zelte komplett abgebrochen und alles verkauft. Nur mit einem Koffer ist er in Venedig angekommen und möchte ein Restaurant mit mexikanischem Fingerfood eröffnen.
Zur amerikanischen Fraktion gehört noch Maria, Englischlehrerin aus Massachusetts. Sie lebt mit ihrem Mann in der Nähe von Boston, auch er besucht die Sprachschule, allerdings in einem anderen Kurs. Stolz erzählt sie mir, sie sei 68 Jahre alt und ich fühle mich mit meinen Anfang fünfzig sofort steinalt. Maria könnte als Vierzigjährige durchgehen. Natürliche Schönheit kommt von innen – und von Botox und Schönheitsoperationen. Die beiden sind wohl in Rente, möchten mindestens dreimal im Jahr reisen und freuen sich darauf, endlich Deutschland zu bereisen. Germany must be so wonderful. Die Amerikaner sind einfach so nett.
Carla aus Chile ist jung, konnte im Dezember noch kein Wort Italienisch und spricht jetzt schon richtig gut. Sie ist wegen amore hier. Sie möchte sich in Venedig niederlassen. Sie hat ihren Paulo in der Atamcawüste in Chile kennengelernt. Paulo ist Venezianer und Hobbyastrologe. Im Norden Chiles gibt es mehr als dreihundert wolkenlose Tage im Jahr und eine geringe Lichtverschmutzung, deshalb ist der Himmel über Chile der klarste der Südhalbkugel. Man kann einfach so die Sterne beobachten oder eines der vielen Observatorien besuchen. Es war eine Reise zu den Sternen, Paulo besuchte das Observatorium ALMA auf 5000 Metern Höhe in der Nähe von San Pedro de Atacama. Neben den Laboratorien, dem Teleskop und den Präzisionsantennen kam Carla wie eine Sternschnuppe in sein Leben. Die beiden haben nicht lange gefackelt, und nun ist Carla in Venedig und lernt mit uns Italienisch. Sie lernt leicht und schnell und es geht ihr alles zu langsam. Sie will sich in Venedig eine Arbeit suchen. Hier gibt es genügend Jobangebote, sie möchte vielleicht spanischsprachige Touristen betreuen, in die Immobilienbranche oder eine Ausbildung zur Barista machen. Carla scheint breit aufgestellt.
Schließlich ist da noch das britische Empire mit Australien und England. William kommt ursprünglich aus London, arbeitet in der Tourist Information in Berlin und muss für seinen Job auch noch Italienisch abdecken. Der Brexit ist ein großes Thema, William hat die deutsche Staatsbürgerschaft beantragt. Er möchte in Berlin bleiben. Er nimmt deutschen Bildungsurlaub in Anspruch, um in Venedig Italienisch zu lernen, und wird bald Deutscher sein.
Pauline kommt aus Melbourne. Sie spricht mit einem entzückenden Akzent, man merkt gar nicht, dass sie Italienisch spricht. Sie bettet italienische Vokabeln in eine australische Aussprache und Satzmelodie. Ich könnte ihr stundenlang zuhören, wenn sie einen kaputschinou bestellt. Pauline muss um die Siebzig sein, sie ist weit in der Welt herumgekommen, war lange Jahre Bibliotheksdirektorin an der Unibibliothek in Dubai und hat dort mit ihrer Familie gelebt. Ihr Sohn lebt und arbeitet in Madrid. Sie und ihr Mann sind lange durch Italien gereist und haben nach familiären Spuren gesucht. Ihr Großvater kommt aus der Basilicata, einer Region in Süditalien. Sie haben das Dorf gefunden, in dem er aufgewachsen ist. Kinder und Enkelkinder von italienischen Emigranten können die italienische Staatsbürgerschaft beantragen, es ist ein aufwendiger und zeitfressender Prozess, in dem Pauline mittendrin steckt. Sie ist zuversichtlich, dass es in ein bis zwei Jahren soweit sein könnte. Ihre italienische Staatsbürgerschaft würde wiederum ihrem Sohn ermöglichen, Italiener zu werden, und er könnte auch nach dem Brexit weiterhin in Madrid arbeiten.
Auch Jane ist auf diesem Wege Italienerin geworden. Auch ihre Großeltern sind italienische Auswanderer, die in Australien ihr Glück gefunden haben. Sie ist Anfang dreißig, Mutter einer Tochter und ist kurzerhand von Brisbane nach Venedig gezogen. Sie erzählt von ihrem Umzug in der Lagunenstadt, der auf dem Wasserweg stattfindet. Hier kann man nicht einfach zu Ikea fahren, Billy-Regale ins Auto einladen, in die Wohnung schleppen und aufbauen. Alles ist mühsamer und komplizierter und muss mit dem Boot transportiert werden. Ich, ein planender und strukturierter Mensch, frage Jane, ob sie hier für den Rest ihres Lebens bleiben möchte. Sie schaut mich aus verträumten Augen an und meint, das sei schon pretty long und das wisse sie nicht. Von dieser Leichtigkeit möchte ich etwas abhaben.
Kommen wir zur deutschen Fraktion. Da ist Felix, der verrückteste Typ im Kurs. Ich bin mir nicht sicher, ob seine Haare mit Gel bearbeitet sind oder schon sehr lange nicht mehr gewaschen wurden. Er ist ebenfalls Historiker und verbringt seine Nachmittage in Venedigs Archiven. Felix ist ein Einzelgänger. Francesca fragt im Unterricht nach unserer idealen Reisebegleitung, da wacht Felix auf: So einen Menschen gäbe es doch nicht. Was für eine Frage. Er hätte noch nie einen Menschen getroffen, der so sei, dass er mit ihm reisen könnte. Deshalb ist er lieber alleine und würde niemals auch nur in Erwägung ziehen, mit jemandem reisen zu wollen. Felix ist sehr schüchtern und introvertiert, hoffentlich lässt er sich von der italienischen Lebensfreude ein wenig anstecken. Ob die allerdings in Archiven zu finden ist, wage ich zu bezweifeln.
Jenny und Carl kommen aus Berlin, wo sie gemeinsam einen Italienischkurs besuchen. Jenny ist studierte Germanistin aus New York und lebt schon seit Jahrzehnten mit ihrer Familie in Berlin. Carl arbeitet für den Regierungssprecher der Kanzlerin im Bundespresseamt. Die beiden wohnen in einem Kloster mit Wasserblick, ich glaube auf der Giudecca. Die beiden unternehmen regelmäßig Sprachreisen, zuletzt waren sie in Florenz.
Wir sind eine spannende Klasse und alle lernen mehr oder weniger freiwillig eine neue Sprache. Die einen nur zum Spaß und aus Wissensdurst, die anderen mit konkretem Lebens- oder Berufsziel.
Es gibt richtig viel Stoff, den wir durcharbeiten, und jeden Tag Hausaufgaben. Francesca möchte, dass wir lernen.