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Die Geschenke des Krebses

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Viele in meinem Umfeld verstehen bis heute nicht, warum ich mein altes Leben mit meiner Arbeit so unbedingt wiederaufnehmen wollte. Ich sollte doch downsizen, mich ausruhen und nicht mehr meinen anstrengenden Beruf ausüben. Nicht mehr so viel reisen. Das Reisen birgt doch so viele Gefahren. Was da alles passieren kann! Die hygienischen Verhältnisse! Die klimatischen Anpassungen! Die fremden Lebensmittel!

Soll ich auf der Terrasse sitzen, Pfefferminztee trinken, mich langweilen und auf das Rezidiv warten?

Nein, jetzt ist es an der Zeit größer zu denken. Ich liebe meine Familie, meine Arbeit, meine Freunde und mein Leben. Das Grundgerüst stimmt. Natürlich gibt es Themen, mit denen ich aus der Erfahrung der Krankheit anders umgehen möchte. Diese muss ich überdenken und anpassen. Genau dafür kommen die 80 Tage wie gerufen.

Jetzt mal ganz ehrlich. Natürlich stelle ich mir täglich die Frage, warum ich diesen verdammten Krebs bekommen habe und was ich daraus lernen soll. Ich habe mich gesund ernährt, Sport getrieben und in gesunden Beziehungen gelebt. Meine Diagnose hat in meinem Umfeld Entsetzen ausgelöst. Bei meinen Schwestern, Freundinnen und Kolleginnen. Wenn sie das bekommt, kann ich auch krank werden. Was hat das alles zu bedeuten? Kann man nach einer Krebsdiagnose so weiterleben wie vorher?

In einem der vielen Krebsbücher, die ich zur Krankheitsbewältigung gelesen habe, fand ich einen einleuchtenden Vergleich. Ein Zimmer im Keller ist voller Schimmel, weil nicht genügend gelüftet wurde. Der Schimmel wird entfernt und das Zimmer ist wieder schön. Wenn man zukünftig nicht wieder Schimmel haben möchte, sollte man ab jetzt lüften, richtig?

Der Krebs hat mir viel genommen, meine Unbeschwertheit zum Beispiel. Er hat mir aber auch viel gegeben. Ich habe während meiner Therapie so viel Zuspruch und Liebe erfahren, so viele Menschen haben mich unterstützt und nicht allein gelassen. Sie haben mich durch diese schlimme Zeit getragen. Ich bin nicht allein auf dieser Welt und wenn es schwer wird, sind unglaublich viele liebe Menschen an meiner Seite. Familie, Freunde, Nachbarn, Kollegen.

Meine Kollegen hatten mir einen Adventskalender der besonderen Art geschenkt. Jeden Tag im Advent fand ich ein Päckchen oder eine Karte von 24 unterschiedlichen Kollegen in der Post, was mich zu Tränen rührte. Das hat mir in der Zeit der Operationen sehr viel Kraft gegeben. Mein Sohn kochte mir Tee, wenn es mir sehr schlecht ging. Er nannte mich »mein kleiner buddhistischer Mönch«. Mit Glatze und schwarzer Lesebrille kam das meinem Erscheinungsbild sehr nahe. Mein Mann wich nicht von meiner Seite und hat mich durch die dunkelsten Stunden begleitet, auch wenn er nur zusehen, meine Hand halten und mit mir leiden konnte. Er zog mir die Schuhe aus, wenn ich zu schwach dafür war. Meine Schwägerin war an meiner Seite und gab mir Anleitung, wie ich gut durch die Chemo komme, wie ich meine Selbstheilungskräfte aktiviere und positiv bleibe.

Freundinnen sind gekommen und sind mit mir gelaufen. An den besonders schlimmen Chemotagen war ich dafür besonders dankbar. Ich hätte mich alleine nicht getraut aus dem Haus zu gehen, aus Angst, vor Schwäche umzufallen. Eine Krebsfreundin ist tatsächlich während eines Spaziergangs zu Chemozeiten bewusstlos umgefallen. Ihr Hund hat sie solange im Gesicht geleckt, bis sie wieder aufgewacht ist.

Ich wurde mit frischem Obst versorgt, bekam Kuchen von der Nachbarin. Ich bekam Cremes für die schlimmen Hautprobleme, Nagellacke, damit mir meine Nägel nicht ausfallen sollten. Meine Freundin und Kosmetikerin hat mir sehr geholfen, mich auch ohne Haare und Brust weiterhin weiblich zu fühlen. Aloegel und gestrickte Mützen halfen mir, mit meiner Glatze umzugehen. Ich wurde mit Geschenken und Liebe überhäuft. Freundinnen und deren Töchter kamen und erledigten die Gartenarbeit, die ich mit meinen neuropathischen Händen nicht mehr erledigen konnte.

Meine Schwestern brachten mir Essen, gaben mir Spritzen, die ich mir selbst nicht geben konnte. Sie schickten Postkarten und waren bei mir. Ich fühlte mich geliebt und umsorgt. Sie besuchten mich in der Reha, um sicher zu sein, dass es mir gut ging. Von meiner Freundin aus den USA kamen Chemo-Care-Pakete und andere Mütter unterstützten mich bei Fahrdiensten. Ich könnte die Liste seitenweise fortführen. Es war unglaublich und sehr ermutigend.

Es gab auch Enttäuschungen. Natürlich gab es die. Bis dahin nahestehende Menschen, die mit meiner Krankheit nicht umgehen konnten. Sie weinten, wenn sie mich sahen und ich musste sie trösten. Ich sah ihre Angst um ihr eigenes Leben in ihren Gesichtern. Ich verstand das, wenngleich ich mich davon distanzieren musste. Ich brauchte meine Kraft für die Therapie. Musste mit meinen eigenen Ängsten fertig werden. Brauchte selbst Trost.

Nach der Krankheit hat sich doch einiges bei mir geändert. Die Grundfesten in meinem Leben blieben bestehen, aber ich bin eine andere geworden. Mein Verstand musste Teile seiner Macht abgeben. Im Job sagte man mir oft: »Sie sind zu emotional. Sie müssen eiskalt sein und Ihre Ziele durchboxen, im Haifischbecken der Führungskräfte.« Was für ein Blödsinn. Das gilt für mich nicht mehr. Ich kann beruflich Grenzen setzen. Ich arbeite nicht mehr bis spät in die Nacht und auch nicht mehr am Wochenende. Ich kann wieder ausruhen. Morgen ist auch noch ein Tag.

Wer ist diese andere Frau tatsächlich? Das ist ein Prozess, der noch nicht abgeschlossen ist. Ich kann jetzt schon sagen, dass ich viel gelassener geworden bin. Privat und beruflich. Stau? Termindruck? Fiese Bemerkungen? Über viele Dinge kann ich mich tatsächlich nicht mehr aufregen. Ich habe deutlich erfahren, dass ich nicht unsterblich bin. Das ändert die Perspektive. Vorher wusste das mein Verstand, jetzt habe ich es gefühlt, erfühlt. Soll ich mich da noch aufregen, dass sich in der Schlange beim Bäcker jemand vordrängelt?

Ich habe gelernt, dass ich, obwohl ich so viel Unterstützung erhalten habe, letztendlich doch ganz alleine war, bei dem, was die Krankheit mir abverlangte. Niemand konnte mir die Last der Chemotherapie abnehmen. Ich musste das ganz alleine aushalten. Die Schmerzen, die Übelkeit, die Hoffnungslosigkeit. So habe ich erfühlt, dass ich auch ganz alleine für mein Glück verantwortlich bin. Das Glück kommt aus mir selbst. Ich bin leichter, das Leben ist nicht mehr schwer. Ich habe begonnen zu meditieren und zu beten, die Unterschiede sind fließend. Ich habe den Wunsch, nach Gott zu suchen.

Ich habe meine verrückten To-Do-Listen aufgegeben. Die waren in der Tat gar nicht zu schaffen. Ich bin im Außen nicht mehr so getrieben. Auf meiner neuen To-Do-Liste steht: »Ich muss gar nichts« und: »Lebensfreude«.

Jeden Tag aufs Neue bin ich dankbar für mein Leben, meine Gesundheit und für die Luft, die ich atmen darf. Dankbar, dass ich die Therapie überstanden habe, dankbar, dass ich noch lebe. Dankbar, dass meine Familie zu mir hält. Ich höre wieder auf meinen Körper, gebe ihm, was er braucht. Nehme den Kontakt wieder auf.

Ich habe das Interesse am Shoppen verloren. Ob das eine vorübergehende Erscheinung ist? Janosch sagt: »Wer fast nichts braucht, hat alles.« Richtig. Ich habe mein Leben zurück, und das ist wirklich richtig viel.

Das hört sich doch schon nach richtig viel an! Nach fleißiger Krankheitsbewältigung und streberhafter »Do more of what you love«-Binsenweisheit. Eine Freundin sagte mir, nachdem ich ihr erzählt habe, was ich alles unternehme, um gut durch die Chemo zu kommen: »Auch hier möchtest du wieder die Beste sein!« Das saß. Ich Streber, ich.

Meine Suche nach den Gründen, warum ich krank geworden war und den notwendigen Anpassungen in meinem Leben, war wie das Lüften meines verschimmelten Kellers. Ich möchte gesund bleiben! Wenn ich die Gründe kenne, kann ich Veränderungen umsetzen. Ich möchte ergründen, wie ich lüften kann. Dazu können die achtzig Tage beitragen und die Freiheit, damit zu tun, was immer ich möchte. Was also möchte ich mit diesen unglaublichen achtzig Tagen anstellen?

Tot sein kann ich morgen noch

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