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2.2 Eine bedeutende Begegnung

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Irgendetwas piesackte Bajo. Er öffnete die Augen ein wenig und sah gerade noch einen Kieselstein auf sein Gesicht zu kullern und gegen die Nasenspitze ploppen. Sein Kopf schmerzte stark. Als er die Augen endlich ganz geöffnet hatte, bemerkte er, dass er offensichtlich in einer kleinen Grube oder Höhle lag, die Füße gen Eingang gestreckt. Sein Kopf lehnte eingeknickt an etwas Hartem. Bajo fasste sich mit der Hand an den brummenden Schädel und spürte eine dicke Beule mit Blutkruste. Der harte Gegenstand entpuppte sich als Baumwurzel, er musste wohl in einem alten Bau unter einem großen Baum liegen. „Plopp, plopp“, wieder trafen ihn zwei hinabkullernde Kiesel im Gesicht. „Moment mal, da ist doch jemand“, dachte Bajo und alleine das Denken bereitete ihm schon Kopfschmerzen. Er versuchte seinen geschundenen Körper in eine sitzende Position zu bringen und tatsächlich war die Höhle dafür groß genug. Er befreite sich von seinem Rucksack und krabbelte zum Eingang, um nachzusehen, was da oben los war. In diesem Moment traf ihn ein größerer Kiesel am Kopf und er schrie vor Schmerz kurz auf.

„Hat der Herr endlich ausgeschlafen?“, fragte eine Stimme von oben. Bajo war mehr als verwundert, kroch hoch in das Eingangsloch und streckte den Kopf heraus. Er erkannte eine Gestalt vor sich und als sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten, sah er dort einen großen Mann stehen, der sich auf einen seltsam geformten dunklen Stab stützte. Die Gestalt trug einen schlichten, schmalen dunkelbraunen Mantel, ein olivfarbenes Oberteil und eine ebenfalls eng geschnittene schwarze Hose. Vor den merkwürdig aussehenden Schuhen lag ein kleiner Haufen Kieselsteine, die dem Mann anscheinend als Vorrat zum Beschuss dienten, um Bajo zu wecken. Dieser hob den Kopf höher, um das Gesicht des Mannes erkennen zu können, aber der stand genau so, dass die Sonne an seinem Hut vorbei blendete. Langsam schob der Mann seinen Kopf vor das grelle Licht, jetzt konnte Bajo endlich sein Gesicht erkennen. „Du, Du, ich, ich kenne dich“, stotterte Bajo. „Du bist der Mann aus meinen Träumen!“, rief er mit krächzender, erregter Stimme. „Soso, ich bin also der Mann deiner Träume!?“, entgegnete dieser in einer starken und dennoch sanften Tonlage und zwinkerte dabei. Bajo war diese Stimme sofort angenehm und das nicht nur, weil er lange keine mehr gehört hatte. „Nein, nein, ich meine, ich habe dein Gesicht im Traum gesehen und du hast zu mir gesagt, ich solle aufbrechen“, tönte Bajo freudig von unten. „So, habe ich das?“, kam es zur Antwort. „Ja, wirklich, ich schwöre es dir!“, beteuerte Bajo und krabbelte nach draußen.

Der Mann musterte ihn lange mit durchdringendem Blick. „Ich hätte nicht gedacht, dass du noch kommst“, murmelte er geheimnisvoll. „Spät, sehr spät, aber du bist da…“ „Dann stimmt es also!“, Bajo hüpfte euphorisch auf der Stelle, um sich gleich darauf den stechenden Kopf zu halten und sich schwindelnd an den Baum zu lehnen. „Du siehst schlimmer aus als der übelste Bettler aus Schichtstadt“, stellte der Mann fest. Und er hatte recht: Bajos Kleider waren zerrissen, überall waren Blutsflecken, Hände und Gesicht waren verdreckt, die Augen verquollen und das Haar völlig wirr. „Sag, wer bist du?“, fragte Bajo neugierig. „Wir müssen dich erst einmal wiederherstellen, es ist keine Zeit zu verlieren“, entgegnete der sonderbare Mann, ohne auf die Frage zu antworten. „Nimm deine Sachen und komm mit!“

Sie liefen eine Weile durch den schönen Wald, es war Vormittag, die Vögel zwitscherten, die Sonne schien und Bajo fühlte sich sehr erleichtert. Der Mann gab ihm ein paar große Blätter in die Hand, die auf einem Haufen am Wegesrand lagen, und zeigte ihm eine Stelle, wo er seine Notdurft verrichten konnte. Als Bajo das getan hatte, gingen sie noch ein Stückchen weiter und gelangten an ein Flüsschen. Vier zusammengebundene Stämme dienten an einer Stelle als Brücke und Bajo sah auf der anderen Seite, zwischen ein paar Bäumen, einen riesigen Baumstumpf, der anscheinend bewohnt war, denn an der Seite war eine Feuerstelle mit qualmendem Abzug. An einer leicht abfallenden Stelle, ein kleines Stück flussabwärts, war es seicht genug, um hineinzugehen, Bajo musste sich ausziehen, bekam so etwas wie ein Stück Seife in die Hand und begann sich zu waschen. Der Mann nahm die alten Kleider mit den Worten: „Die werden wir wohl nicht mehr brauchen“ und entfernte sich über die Brücke zu dieser Art Haus.

Als Bajo fertig war, stand der Mann, beladen mit allerlei Dingen, wieder vor ihm. Er reichte Bajo ein großes Tuch, um sich abzutrocknen und verstrich eine grünliche Paste auf dessen Wunden, die er, soweit es möglich war, mit langen Stofffetzen verband. Danach gab er Bajo schlichte Kleider in brauner und grüner Farbe, wobei sich dieser darüber wunderte, wie gut sie ihm passten. Die Füße in einem Paar leichter Schuhe aus einer Art Bast, trottete er über die Brücke zur anderen Seite, immer dem Mann hinterher. Es war tatsächlich ein Stumpf, der einmal zu einem riesigen Baum gehört haben musste. Anscheinend war er innen hohl, denn es gab eine große zweigeteilte Tür. Nahe der Tür traten nebeneinander die Auswölbungen zweier mächtiger Wurzeln hervor. In den gegenüberliegenden Rundungen waren zwei Holzplatten mit einer Stütze befestigt, auf denen jeweils ein Kissen zum Sitzen und eines zum Anlehnen lagen. So waren zwei bequeme Sitze entstanden, die es ermöglichten, sich gegenseitig anzuschauen, wenn man auf ihnen saß. Seitlich stand eine Art Lehmkamin mit einer Feuerstelle und einem Eisengitter darüber, worauf ein dicker Topf stand. Das Feuer brannte und es roch verführerisch nach Essen. Schräg oberhalb der Tür war noch eine kleine geschlossene Luke zu sehen. „Was musste das bloß für ein Riese gewesen sein?“, fragte sich Bajo und als hätte der Mann seine Gedanken gelesen, erklärte er: „Einst standen die ‚Himmelsfinger' im ganzen Wald. Aber vor etwa tausend Jahren begannen die Menschen, sie zu fällen, um daraus Schiffe zu bauen. Der Wald wehrte sich und umgab sich mit einem undurchdringlichen Ring. Es war fast zu spät; jetzt stehen nur noch einige hundert dieser mächtigen Pflanzen am Rand zu den Kristallbergen.“ Der Mann öffnete die beiden Türen und schob einen Vorhang zur Seite: „Setz dich drinnen an den Tisch, ich bringe dir etwas zur Stärkung, du kannst es brauchen.“

Bajo betrat das Innere und durch eine weitere Luke, die sich an der gegenüberliegenden Seite der Behausung befand, schien genug Licht herein, um alles erkennen zu können. Da stand ein schlichter dicker Holztisch, mit zwei ebenso einfachen Holzstühlen. An den Wänden waren ein paar Regale angebracht, in denen sich so einige Tonkrüge und Holzkisten in verschiedenen Größen stapelten. An der Seite, wo der außenstehende Kamin eine Einbuchtung bildete, gab es ein Nachtlager aus dicken Bastmatten, auf denen ein breites Fell lag. Der Fußboden war anscheinend aus gebrannten Lehmplatten gefertigt worden und die Decke bestand aus langen Hölzern, die mit Hanfseilen miteinander verbunden und in die Außenrinde des Stumpfes eingelassen waren. Der Höhe nach zur urteilen, musste es noch ein weiteres Stockwerk geben und in der Tat lehnte da eine Leiter in der Ecke, die hinaufführte. Bajo setzte sich auf einen der beiden Stühle und bemerkte sofort, dass sie trotz der Schlichtheit sehr bequem geformt waren. Unterdessen kam der Mann mit zwei dampfenden Schalen hinein und lächelte. „Gut gemacht“, lobte er, stellte das Essen auf den Tisch und setzte sich. Bajo schaute den Mann fragend an. „Dies hier ist mein Platz, hier sitze ich immer und ich mag diesen Platz. Das dort ist dein Platz, und du hast ihn gefunden und dich draufgesetzt“, erläuterte er und deutete dabei in Bajos Richtung. Bajo wollte etwas sagen, doch der Mann kam ihm zuvor: „Nun essen wir erst einmal und danach reden wir weiter“. Es gab einen Eintopf mit Wildfleisch, Bohnen und anderem Gemüse, welcher scharf und lecker gewürzt war. Nach dem Essen bekam Bajo einen Becher Wasser mit einem guten Schuss Apfelsaft und er folgte damit dem Mann vor die Tür. „Jetzt musst du es noch einmal machen!“, sagte dieser. „Welches ist dein Platz?“, er deutete auf die beiden Sitze neben der Tür und verschwand wieder nach drinnen.

Bajo stand da, mit dem Becher in der Hand und schaute blöd drein. Vorhin hatte er sich einfach gesetzt, ohne zu wissen, dass es richtig war. Aber wie sollte er denn nun herausfinden, wo er sitzen sollte? Er musterte die Sitze von oben bis unten, doch das konnte ihm keine Entscheidung bringen. So setzte er sich einfach abwechselnd auf beide Plätze und versuchte, einen Unterschied festzustellen. Tatsächlich fühlte er sich auf der einen Seite etwas unruhig und auf der anderen entspannt. Er entschied sich für die behaglichere Seite und im gleichen Moment kam der Mann wieder heraus. Er nahm Bajo gegenüber Platz. „Wieder richtig!“, rief er und klatschte übertrieben freudig in die Hände. Bajo lächelte verlegen. „Wie heißt du?“, fragte er den Mann. „Nenn mich einfach Malvor“, entgegnete dieser sanft. Bajo schaute sich Malvor, der seinen Hut abgelegt hatte, nun etwas genauer an. Dieser war schon etwas älter, hatte ein paar Falten und silbernes Haar, welches nach hinten zu einem dicken Zopf geflochten war. Zudem hatte er einen struppigen Schnauzbart und einen noch zottigeren Spitzbart. Sein Lächeln war von echter, einnehmender Freundlichkeit und seine klaren braunen Augen strahlten Wärme und tiefe Ruhe aus.

„Bist du ein Zauberer?“, fragte Bajo weiter. „Zauberer, Heiler, Wissender oder auch Landstreicher, Unruhestifter, Querulant, ich hatte schon viele Bezeichnungen! Für dich bin ich Malvor und ich werde dir helfen!“, erklärte der Mann. „Aber nun zu dir, Bajo…“ Malvor sprach nicht weiter und blickte Bajo nur an. Dieser fragte nun etwas verwirrt: „Ja…?“ „Wunderst du dich denn gar nicht, warum ich deinen Namen schon kenne?“ Da Bajo Malvor schon oft im Traum begegnet war und dieser ihn immer beim Namen nannte, hatte er dies als selbstverständlich angesehen. Aber die Frage war durchaus berechtigt; woher kannte er Bajos Namen eigentlich? Sie hatten sich doch vorher nie getroffen. Also an so einen Mann hätte Bajo sich wohl erinnern müssen... „Stimmt, woher kennst du mich überhaupt? Und wieso habe ich dich so oft im Traum gesehen? Was bedeutet das alles?“, Bajo wollte immer weiter fragen, doch Malvor tippte den gestreckten Zeigefinger an den Mund. „Alles zu seiner Zeit“, sagte er. „Ich kann dir nur sagen, dass es Kräfte gibt, die uns Menschen leiten und manchmal zusammenführen. Aber jetzt ist es erst einmal viel wichtiger, dass du mir genau erzählst, wie du hierhergekommen bist.“ „Wie ich hierhergekommen bin? Wo soll ich denn anfangen?“, fragte Bajo. „Fang einfach da an, wo du denkst, dass sich etwas verändert hat. Und versuche nicht, etwas zu beschönigen, zu verschweigen oder mir imponieren zu wollen. Sag es frei von der Leber weg, wie du es empfunden hast.“


Es war früher Nachmittag und die Sonne schien durch die Baumwipfel. Eigentlich war Bajo sehr misstrauisch anderen Menschen gegenüber geworden. Aber Malvor mochte er vom ersten Augenblick an und er vertraute ihm. So fing er an zu erzählen, davon, dass er sich immer mehr zurückzog, dass er sein Leben immer mehr hasste, von seinem Erlebnis im Palast, der Schmach in der Dirnengasse, der Sache mit seinem Vater und dass er sich an Malvors Worte, er solle aufbrechen, erinnerte und so beschloss in den Grauenwald zu gehen. Malvor lauschte die ganze Zeit aufmerksam, ohne ihn zu unterbrechen. Nur ab und an machte er ein erstauntes Gesicht, gab ein leichtes Kopfschütteln oder ein Nicken von sich. Die Erlebnisse im Palast und im Grauenwald ließ er sich anschließend aber noch einmal ganz genau beschreiben. Als Bajo mit seinem Bericht fertig war, saßen sie eine ganze Weile schweigend da. Malvor schien sehr bewegt von den Erzählungen zu sein. „Das Schicksal meint es gut mit uns“, sagte er endlich. „Ich habe lange gewartet und hatte dich schon fast aufgegeben. Doch nun bist du hier und wir haben einiges vor uns. Es bleibt nicht mehr viel Zeit, deshalb müssen wir uns beeilen.“ „Du sprichst in Rätseln, Malvor! Ich verstehe nichts!“ warf Bajo ein.

„Ich musste in diesem Wald auf dich warten, Bajo, obwohl ich wusste, dass niemand hier lebend hineinkommt!“, begann Malvor. „Es war eine Qual für mich, aber auch ich muss mich gewissen Kräften beugen und konnte von hier aus nichts weiter machen, als dich in deinen Träumen aufzufordern, aufzubrechen. Und nun hast du es geschafft! Deine Verzweiflung trieb dich in den Wald, wo als Erstes ein ‚Rabukar', ein Mischwesen aus einer marabischen Raubkatze und einem Fressaffen, auf dich wartete. Es sind tödliche Jäger, die ihre Beute regelrecht zerfetzen, wenn sie sie gestellt haben. Dass du dich an ihnen vorbeischleichen konntest, grenzt an ein Wunder. Aber es sagt mir, auch im Zusammenhang mit deinen anderen Erzählungen, dass du eine gewisse Eigenschaft hast: Du bist extrem unauffällig, ja fast unsichtbar. Wer es durch den ersten Ring in den Wald geschafft hat, überlebt dann aber die Nacht nicht mehr. Denn in der Dunkelheit kriechen die ‚Gexen' aus ihren Löchern. Dies sind die Nachkommen der Verstoßenen und Kranken, die die Menschen vor ewigen Jahren in den Wald schickten, und man kann nicht mehr sagen, ob sie Mensch oder Tier sind. Sie scheuen das Tageslicht und kommen nachts, um ihrer Beute das Blut auszusaugen. Es war dein Glück, dass du dich so dermaßen besudelt hast, dass selbst die Gexen den Gestank nicht aushielten. Was aber die ‚Waldreißer' angeht, so hat dich nur das Loch gerettet, in das du fielst. Waldreißer jagen nur Laufwild, wie Hirsche, Moosnager oder Farnziegen, in der Erde finden sie ihre Beute nicht. Dich hat in der Tat eine höhere Macht hierher geleitet und beschützt. Das ist ein gutes Zeichen!“

„Was passiert jetzt mit mir?“, fragte Bajo. „Erst einmal werden wir dich wieder aufpäppeln. Doch dann musst du daran gehen, deine Lasten loszuwerden. Und ich weiß auch schon wo, Leva hat es uns gezeigt!“ „Wer ist denn Leva und wo soll ich was machen? Ich verstehe schon wieder nichts!“ beschwerte sich Bajo. Mit ruhiger Stimme erklärte Malvor: „Es gibt eine Macht, die Einfluss auf das Leben aller Wesen nimmt. Du kannst dich gegen sie stellen und wirst ein beschwerliches Dasein führen. Oder du versuchst, diese Macht zu spüren und ihr zu folgen und dein Leben wird erfüllt sein. Manche nennen diese Macht vielleicht Gott oder Helimar oder auch Schicksalskraft. Ich nenne sie Leva, denn es ist das alte Wort für Leben. Aber wie jemand sie auch nennen mag, ist im Grunde egal; wenn du dich ihr öffnest, auch wenn es manchmal schwerfällt, dann hilft dir diese Macht. Ich bin mir sicher, dass es viele Menschen gibt, die Leva folgen, ohne es zu wissen. Und Leva hat dich in ein altes Loch unter einem Baum geführt, ein idealer Ort, um sein Leben zu erneuern. Aber nun ist es erst einmal genug. Ich werde nochmal nach deinen Wunden sehen und dir etwas zu essen machen und dann werden wir früh schlafen gehen.“

Malvor erneuerte die Paste und die Verbände. Das war eine Wohltat. Nach einer weiteren guten Portion Eintopf vom Mittag holte Malvor eine Hanfdecke und ein schmales Kissen mit Federfüllung aus einer Truhe hervor. Er verrammelte die Tür und wies Bajo das Nachtlager an der Seite zu. Nachdem Malvor eine gute Nacht gewünscht hatte, verschwand er über die Leiter nach oben. Es war sehr angenehm, auf dem flachen Bett zu liegen und Bajo begriff nun auch, warum es hier stand. Der Kamin, der sich außen an der Baumrinde hochzog und noch vor sich hin glühte, spendete die nötige Wärme für die Nacht. Bajo streckte alle Viere von sich und ließ die neuesten Ereignisse noch einmal an sich vorbeiziehen. „Was bin ich doch froh, noch zu leben!“, dachte er und war im Nu eingeschlafen.

Schattenhunger

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