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2.3 Eine harte Zeit

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Am nächsten Tag begann Malvor mit den Einweisungen. Er zeigte Bajo, wo er sich waschen konnte, welche Hilfsmittel aus der Natur zur Körperpflege zu gebrauchen waren und er rasierte Bajo mit einem alten Barbiergeschirr, da es keinen Spiegel gab. Malvor zeigte ihm, wo die Dinge, die man zum täglichen Leben brauchte, zu finden waren und wie man den Kamin richtig bediente und pflegte. Nachdem Bajos Wunden ausgeheilt waren, was dank der geheimnisvollen Paste sehr schnell ging, nahm Malvor ihn zu Ausflügen in die nähere Umgebung mit. Die Baumstumpfhütte stand auf einer Art Insel. Zu einer Seite hin lagen im Halbrund Felsen mit schlüpfrigem Moos und Dornenbewuchs und zur Anderen das Flüsschen, welches im Bogen um die kleine Lichtung floss und immerhin so tief war, dass Mensch und Tier nicht so einfach hinüberkamen. Die Brücke aus Baumstämmen bildete somit den einzigen Zugang, der in der Nacht mit einem stacheligen Gatter versperrt wurde, um Tiere abzuhalten. In der Nähe fand sich ein Fleckchen mit wildwachsenden Beeren, Strauchfrüchten und Kräutern. Ein Stück weiter gab es eine Menge dichtes Unterholz, wo Malvor Fallen für Erdferkel aufstellte. Flussaufwärts gelangte man zu einem kleinen Wasserfall, dort war es wunderschön. Bajo musste lernen, welche Früchte und Pflanzen man essen konnte und wo man sie fand. Er lernte auch, wie man eine Erdferkelfalle baute, doch schwierig wurde es, als er seinen ersten Fang töten sollte.

„Wie kann ich diesem armen Tier denn nur etwas antun?“, beschwerte er sich bei Malvor. „Na ja, wenn du den Eintopf in dich reinschaufelst, hast du jedenfalls weniger Skrupel“, entgegnete dieser. „Nein, nein, ich kann das nicht und ich kann auch kein Blut sehen!“, rief Bajo und wollte zurück zur Hütte laufen. Doch Malvor hielt ihn sanft fest: „Ich weiß, es ist viel verlangt, aber eines Tages bist du vielleicht in der Wildnis auf dich alleine angewiesen und musst dich selbst versorgen, dann musst du wissen, wie es geht! Also schau mir wenigstens zu, wie ich es tue.“ Durch die Finger seiner Hände, die er sich vor das Gesicht hielt, sah er, wie Malvor mit schnellen und festen Handgriffen das kleine Tier fixierte. „Verzeih mir, aber wir haben Hunger!“, entschuldigte er sich und dann machte er ihm, mit einem gezielten Schnitt in den Hals, den Garaus. Dabei benutzte er ein großes, scharfes Messer, das nicht aus Metall, sondern aus Kristall gemacht schien und einen wunderschön verzierten Griff hatte. Als Malvor das Ferkel ausgeweidet hatte und das Messer säuberte, bemerkte er Bajos Bewunderung für das Werkzeug. „Dieses Messer stammt aus den Kristallbergen. Es wird nie stumpf und ist federleicht. Ich habe es von den Balden, die dort leben. Sie sind die einzigen, die auch den Kristallfels bearbeiten können, es ist ihr großes Geheimnis“, erklärte der Zauberer. „Von den Balden habe ich schon gehört“, rief Bajo ganz aufgeregt, „aber gesehen habe ich noch nie einen.“ „Die Balden sind uns Menschen eigentlich sehr ähnlich. Sie sind nur ein Stück größer, von schlanker Statur und leben sehr zurückgezogen“, führte Malvor weiter aus. „Die spitzen, scharfen Steine der Kristallberge machen es einem Menschen unmöglich, sie zu erkunden. Nur die Balden kennen die Pfade zu ihren Städten und einer führt vom Grauenwald hoch, in dem ja sowieso keiner lebt. „Außer dir, nicht wahr, Malvor?!“, warf Bajo fröhlich ein. „Das ist richtig. Ich schätze die Balden sehr. Sie sind freundlich und sehr schlau, ihr Erfindergeist beeindruckt mich immer wieder.“

Malvor besaß auch zwei Kristallgläser, die er an manchem Nachmittag hervorholte. Er füllte sie mit frischem Wasser, tat ein paar zerriebene Mintohalme hinein und fügte ein kleines Steinchen hinzu, welches das Getränk sprudeln ließ. „Das sind Blubberkiesel, die habe ich auch aus den Bergen“, erklärte er, als sie sich wieder einmal draußen auf ihre Plätze gesetzt hatten und sich mit dem Gemisch erfrischten. „Es ist Zeit, dass du Altes von dir lässt und wieder Kraft aufnimmst!“, sagte er bedeutsam zu Bajo gewandt. „Und dies wirst du in der kleinen Höhle tun.“ „Was passiert dort mit mir?“, fragte Bajo etwas beunruhigt. „Nun, das hängt ganz von dir ab. Vorher will ich dich aber etwas fragen: Warum hast du dich entschlossen, in den Grauenwald zu gehen?“, wollte Malvor wissen. Bajo überlegte einen Moment und brachte es dann auf den Punkt: „Weil ich mein Leben nicht mehr ertragen konnte!“ „Dann solltest du jetzt zwei Dinge tun: Zum einen solltest du herausfinden, warum das so war und zum anderen solltest du mit deinem alten Leben abschließen, damit du ein neues beginnen kannst. Die beste Methode ist, dich einfach an alles zu erinnern, was du bis zu diesem schicksalshaften Tag deines Weggangs erlebt hast.“ „An ALLES erinnern? Aber dafür brauche ich ja Ewigkeiten, wenn ich mich überhaupt an so viel erinnern kann!“, rief Bajo bestürzt. Der alte Mann beharrte aber darauf: „Du musst dich an alles erinnern, was dich bewegt hat, berührt hat und was du mit anderen zusammen gemacht oder gesprochen hast. Fange einfach mal an, dann wirst du schon dahinterkommen. Am besten, du nimmst dir einen Menschen nach dem anderen vor. Du beginnst mit dem, den du am wenigsten kanntest und endest mit deiner engsten Familie. Du musst nur aufpassen, dass du nicht vor dich hinträumst, in irgendwelche Phantasien verfällst und nicht einschläfst. Konzentriere dich immer nur auf das, was wirklich passiert ist. Ich weiß, dass du sehr schnell abgelenkt bist. Deshalb wirst du es auch in der Höhle machen!“ Malvor ließ Bajo nicht mehr zu Worte kommen und nahm ihn mit zu dem Loch, wo er ihn gefunden hatte. Dort musste Bajo hineinkriechen und bemerkte, dass es mit Hanfmatten ausgelegt war; Malvor hatte die Höhle also schon vorbereitet. Ein paar Kissen machten es ihm bequem, sodass Bajo ganz entspannt, mit gekreuzten Beinen, dasitzen konnte. „Die Stille, die Dunkelheit und die Erde werden dir helfen! Ich werde dich holen kommen, wenn ich meine, dass es für den Tag genug ist. Für den Durst habe ich eine Feldflasche mit Wasser hingestellt. Wenn du Wasser lassen musst, da ist ein hohler Flaschenkürbis, den du benutzen kannst“, gab Malvor Bajo noch zu wissen und schob einen Holzverschlag vor die Öffnung.

Da saß der arme Bajo nun in der Dunkelheit und wusste nicht, was er tun sollte. Diese Aufgabe passte ihm gar nicht. Sich an sein ganzes Leben erinnern, das war, als müsste er einen See mit einer Schöpfkelle auslöffeln. Und überhaupt, er wollte eigentlich nur ungerne in der Vergangenheit herumwühlen. Seine Stimmung verschlechterte sich zunehmend. Er begann vor sich hin zu fluchen, hielt das alles für Blödsinn und wollte am Ende nur noch wieder rauskriechen und verschwinden. Aber wohin sollte er gehen? Zurück in sein altes Leben? Das konnte er sich nun gar nicht vorstellen! Und überhaupt, wenn er sich nur etwas weiter von Malvors Lager entfernen würde, wäre dies sein Todesurteil. Bajo fing an zu weinen und wieder sein Leben zu verfluchen. Bald wurde er angesichts der Aufgabe immer wütender und verfiel am Ende in Selbstmitleid. Schließlich ergriff ihn eine große Unruhe und er hoffte, dass Malvor ihn endlich wieder befreien würde. Die Zeit zog sich endlos hin und irgendwann beschloss Bajo, für das Erste vielleicht einfach über seine Arbeit im Hauptkontor nachzudenken. Er versuchte, sich sein Pult vorzustellen, die Hafenanlagen und auch das Lokal, wo er gerne zu Mittag aß. Er überlegte, wen er denn überhaupt so alles dort kannte und kam zu dem Schluss, dass es im Laufe der Jahre doch unzählige sein mussten. Bajo war verzweifelt. Da war ein riesengroßer Berg, der vor ihm lag und das entmutigte ihn. Er fühlte sich müde, alt und unfähig.

Als sich dann der Verschlag öffnete, musste er kurz eingenickt sein. Obwohl es schon gegen Abend ging, dauerte es eine Weile, bis sich seine Augen an das Licht gewöhnt hatten. Malvor wollte nichts von Bajos Gedanken hören, also gingen sie schweigend zurück zur Hütte, wo schon das Abendmahl wartete.

So vergingen ein paar Wochen. Bajo hatte sich damit abgefunden, einen Großteil der Zeit in der Höhle zu verbringen und da es dort sonst zu langweilig war, hatte er tatsächlich angefangen, sich an die Geschehnisse mit den verschiedensten Personen zu erinnern und, wie Malvor es empfohlen hatte, auch darauf zu achten, was er dabei gefühlt und wie er sich selbst verhalten hatte. Allmählich bekam Bajo etwas Routine darin, aber es fiel ihm trotzdem weiterhin schwer. Die täglichen Aufgaben, die er sonst noch zu erledigen hatte, und gelegentliche Ausflüge in die Umgebung waren eine willkommene Abwechslung. Ab und zu musste er berichten wie weit er in etwa gekommen war und bekam dann ein paar Tipps von Malvor. Aber diese Erinnerungs-Sache war für Bajo eine echte Herausforderung, eine größere noch, als ein Erdferkel zu töten.

Der Winter brach ein und es fiel der erste Schnee. Bajo sollte wohl nicht ganz einrosteten, denn eines Tages begann Malvor, ihm ein paar Leibesübungen beizubringen. Er machte sie vor und Bajo ahmte sie nach, bis er diese Abfolgen beherrschte. „Du musst dir die Kraft aus der Umgebung holen!“, ermahnte er ihn immer. Eines Tages holte Malvor einen Stab heraus, den Bajo schon bei ihrer ersten Begegnung gesehen hatte. Dieser war von fast schwarzer Farbe, nicht ganz so lang, als wenn man die Arme ausbreitete, an einigen Stellen dicker, an anderen dünner und an den Enden kugelförmig. „Dieses hier ist ein Wuko!“, sagte Malvor bedeutsam und hielt es Bajo hin, damit er es genau betrachten konnte. „Es ist aus einem Stück der Nachteiche gemacht, die in diesem Wald steht und weit über tausend Jahre alt werden kann. Das Holz ist leicht, steinhart und trotzdem hat es so viel Geschmeidigkeit, dass es nicht splittert, wenn man damit einen Schlag ausführt. Es ist eine Waffe! Eine Waffe zur Verteidigung! Du wirst lernen, so eine Waffe zu führen, denn eines Tages wirst du dich verteidigen müssen.“ „Ha, wenn ich kämpfen will, dann nehme ich mir ein Schwert und haue meine Gegner in Stücke!“, tönte Bajo großmäulig. Malvors ernster Blick ließ in rot werden. Natürlich konnte er mit einem Schwert nicht umgehen, wo er doch noch nicht einmal Blut sehen konnte. Einmal hatte er bei einem Freund eines in die Hand genommen und unbedacht ausgeholt. Dabei musste dieser um sein Leben fürchten und in Deckung springen, wobei außerdem ein Regal zu Bruch ging und das schwere Ding am Ende noch auf Bajos Fuß fiel. „Du darfst solche Dinge nicht auf die leichte Schulter nehmen“, mahnte Malvor. „Waffen bringen Tod, Verderben und Leid! Und sie werden nur allzu oft zum Angriff benutzt. Diese Waffe dient nur der Verteidigung oder der Jagd nach Nahrung! Sie sieht nicht so aus, aber sie ist sehr effektiv. Und wenn du mit dem Wuko eins geworden bist, wirst du spüren, wie mächtig es sein kann.“ Bajo schaute wegen seiner unbedachten Äußerungen etwas bedröppelt drein, aber dieses Wuko weckte seine Neugier und er war, alleine schon vom Aussehen dieses Stabes, beeindruckt. Malvor gab ihm zum Üben zunächst einen einfachen Holzstab, der dem Wuko sehr ähnlich war. So musste Bajo nach seinen Leibesübungen auch immer mehr Abfolgen mit dem Stab lernen und das bei Wind und Wetter, wenn es trocken war oder schneite, im Hellen wie im Dunklen. Im Gegensatz zu seinen Erinnerungsbemühungen brachten ihm diese Übungen jedoch sehr viel Freude.

Neben seinen Tagespflichten besuchte Bajo selbstverständlich trotzdem weiter seine Höhle. Er hatte aufgehört, sich Gedanken über die Größe dieser Aufgabe zu machen und nahm sich nun viel ernsthafter Bekannte und Freunde vor, um sich an gemeinsame Dinge zu erinnern. Tatsächlich begann er sich etwas ‚leichter‘ zu fühlen, er hatte das Gefühl, von Tag zu Tag ein wenig mehr Kraft zu bekommen.

Ab und zu hatte er Augenblicke, in denen er sich selbst wie ein Dritter sah. So stellte er zum Beispiel fest, dass er sich gut auf die verschiedenen Menschen einstellen konnte und daher bei allen beliebt war. Fast bei jedem machte er seine Witze und brachte die Leute oft zum Lachen. Doch seine Scherze waren auch immer eine versteckte Kritik oder eine Anspielung auf Verhältnisse, die nicht in Ordnung waren, was aber die wenigsten verstanden.

Zudem erkannte Bajo, dass er es nicht zuließ, dass ihm jemand zu nahe kam; stets war er darauf bedacht, sein Innerstes für sich zu behalten. Niemandem konnte Bajo sich so wirklich öffnen, denn im Grunde traute er den Menschen nicht recht. Er empfand das als keine gute Sache, denn es machte ihn einsam, doch er konnte auch nicht herausfinden, warum das so war; sicher aber lag es wohl auch an seinem tyrannischen Vater.

Eine weitere schlechte Eigenschaft, die wohl ebenfalls mit seinem alten Herrn zusammenhing, war seine Unfähigkeit, Entscheidungen zu treffen. Häufig wartete Bajo so lange, bis andere die Entscheidung für, oder eben auch oft gegen ihn trafen. Allzu gerne ließ er seine Freunde bestimmen, was man machen wollte und wo es hinging und trottete dann, immerhin als hervorragender Begleiter, hinterher. Ging es darum, jemanden aus der Familie zu besuchen, ließ er sich solange Zeit mit der Antwort, bis schließlich Tante Nele für ihn zusagte. Nur seine Arbeit war da die Ausnahme; da wusste Bajo meist, was zu tun war, aber vielleicht gingen die Entscheidungen dort auch einfacher von der Hand, weil er sie für das Kontor und nicht für sich selbst treffen musste.

Eines Abends erzählte er Malvor von dieser Erkenntnis. Der Zauberer hörte ihm aufmerksam zu und erklärte dann: „Wenn man andere für sich entscheiden lässt, ist das ein Zeichen dafür, dass man selbst nicht weiß, was man eigentlich will, oder genauer gesagt, dass man nicht gelernt hat, herauszufinden, was man eigentlich will. Und wenn sich die Entscheidungen der anderen summieren, die einem im Innersten eigentlich missfallen, dann wird man immer unzufriedener, man hasst am Ende sein Dasein - so wie du! Neben der Tatsache, dass man ‚Ballast` abwirft und ‚Kraft` hinzugewinnt, ist es bei diesem Erinnern ein guter Nebeneffekt, dass man seine eigenen Verhaltensmuster erkennt und daraus lernen kann. Bei dir dauert es zwar lange, aber du bist auf dem richtigen Weg. Mache weiter so. Wenn du bei deinen engsten Beziehungen angekommen bist, wirst du auch irgendwann verstehen, warum es dir so schwerfällt, Entscheidungen zu treffen.“

Für Bajo begann eine harte Zeit. In der Höhle versuchte er weiterzukommen, doch oft genug verspürte er Blockaden oder seine Bemühungen endeten in Tränen und Selbstmitleid. Den anderen großen Teil des Tages musste er seine Übungen machen, wobei er dies jedoch trotz der körperlichen Anstrengung vorzog, denn so dachte er wenigstens nicht so viel nach. Es gab zwei Formen seiner Übungen: Die ohne Stab, die seiner Gesundheit und seiner körperlichen Stärke dienten und ihm eine gewisse Kraft gaben, und die mit dem Wuko, besser gesagt seinem Ersatzwuko, welche ihm Schnelligkeit, Konzentration, Wachsamkeit und Geschicklichkeit brachten. Bajo kombinierte die Stockschläge jetzt auch mit Tritten und Fausthieben und lernte, solchen auszuweichen, sich abzurollen oder in die Höhe zu springen. Von Anfang an bewunderte er die Geschicklichkeit und Ausdauer von Malvor. Wenn dieser seinen Mantel auszog und ihm eine, mittlerweile längere, Übung beibrachte, verschlug es Bajo jedes Mal den Atem. Nie hatte er jemanden so konzentriert, präzise, kraftvoll und elegant erlebt. Es war wie ein magischer Tanz, dessen Kraft man förmlich spürte und er ahnte langsam, was es bedeutete, mit dem Wuko eins zu werden.

„Wenn ich dich sehe, wie du das machst, dann komme ich mir dagegen vor wie ein Mädchen, das mit einem Strohhalm fuchtelt“, gestand er Malvor bewundernd. „Erstens, sowohl kann der Strohhalm eine tödliche Waffe als auch das Mädchen eine mutige Kämpferin sein und zweitens stehst du noch am Anfang und hast nur einen Übungsstab und dafür schlägst du dich schon ganz beachtlich!“, entgegnete Malvor und zwinkerte ihm dabei aufmunternd zu. Bajo sehnte sich schon manchmal nach Anerkennung und Lob, doch bekam er diese tatsächlich, so konnte er nie recht etwas damit anfangen. Jetzt aber freute er sich über Malvors Kompliment, es bedeutete ihm etwas.

Für den Winter hatten sie neben dem Kamin noch eine weitere Feuerstelle vor den beiden Sitzen draußen in der Baumwurzel eingerichtet, wo sie sich gerne nach dem Abendessen wärmten und plauderten. „Warum tust du das alles für mich?“, fragte Bajo eines Abends. „Du weißt, dass ich Leva folge und Leva hat dich mir gezeigt. Wenn du die Welt aus einem anderen Blickwinkel siehst, erkennst du Dinge, Zeichen und Hinweise, die dir vorher verborgen waren“, entgegnete Malvor. „Was sind das für Dinge und Zeichen?“ „Das kann alles Mögliche sein: eine merkwürdige Wolkenformation, ein Mensch, den du unerwartet triffst, doppelte Zahlen, die immer wieder auftreten, ein besonderer Traum… Dinge, die man leicht übersieht oder gleich wieder vergisst, aber wenn man wachsam ist, erkennt man sie und spürt auch ihre Bedeutung. Doch es dauert Jahre, manchmal ein Leben lang, um diesen Dingen folgen zu können“. Neugierig fragte Bajo: „Was war das für ein Zeichen, dass du mit mir hattest?“ Malvor starrte ihn einen Moment lang an: „Es war auf einer Brücke in einem Park in Kontoria. Ich stand da und bewunderte die herbstliche Blätterpracht dieser kleinen Oase inmitten des Steinmeers der Menschen. Ich hatte dich erst gar nicht richtig bemerkt, typisch für dich, wie ich jetzt weiß, aber du hieltst einen Moment hinter meinem Rücken inne und da spürte ich dich. Als ich mich umdrehte, bemerkte ich, dass du anscheinend wissen wolltest, warum ich dort stand und die Bäume betrachtete. Aber du brachtest kein Wort heraus. Und dann sah ich, dass du zwei verschiedene Schuhe anhattest. Normalerweise versuche ich, für die Menschen unbemerkt zu bleiben. Du jedoch hast mich nicht nur bemerkt, sondern hast dich auch für mich interessiert. Und als ich dann noch das mit den Schuhen sah, was ich vorher noch bei keinem Mann gesehen hatte, wusste ich, dass ich dich unter meine Fittiche nehmen musste.“

Bajo hatte dieses Ereignis vollkommen vergessen, konnte sich jetzt aber tatsächlich an dieses Zusammentreffen erinnern. Damals hatte er eine Verabredung mit seinen Kumpels, sie wollten bei Met und Hennefkraut einen Ausflug mit dem Boot unternehmen. Bajo war spät dran gewesen und konnte immer nur einen seiner Schuhe finden. Wie sich später herausstellte, fand der Nachbarsjunge es wohl sehr lustig, von allen Paaren seiner Schuhe jeweils einen zu verstecken. Bajo jedenfalls zog kurzerhand einfach irgendeinen rechten und einen anderen linken an, denn bei der Bootsfahrt wollte er unbedingt dabei sein. Dieses Geschehnis versuchte er sich später in seiner Höhle erneut vor Augen zu führen. Aber so sehr er sich später auch mühte, in seiner Erinnerung konnte er das Gesicht des Mannes, welcher, wie er nun wusste ja Malvor war, nicht erkennen. Allerdings glaubte er, herausgefunden zu haben, dass seine merkwürdigen Träume, die er so oft hatte, zu diesem Zeitpunkt begannen.

„Ich kann mich einfach nicht richtig an die Begegnung auf der Brücke erinnern, vor allem nicht an dein Gesicht“, klagte Bajo am nächsten Abend. „Warum fällt es mir bloß so schwer, mich überhaupt an alles zu erinnern? Manchmal habe ich das Gefühl, dass etwas in mir die Hand darauf hält.“ Malvor starrte Bajo mal wieder so merkwürdig an und Bajo wusste, dass dann etwas Wichtiges folgte. Dieses Mal jedoch war es noch anders, er bekam fast Angst. „Dein Gefühl täuscht dich nicht“, sagte Malvor langsam und mit Bedacht. „Was meinst du?“ „Es hält etwas die Hand darauf, damit du dich nicht erinnerst“, erklärte Malvor. „Meinst du, ich halte mich selber davon ab?“ „Nein, ich meine, dass etwas Fremdes dich hindert.“ „Etwas Fremdes in mir?“, fragte Bajo entsetzt. Malvor antwortete nicht und Bajo wurde ganz unruhig. „Es gibt Dinge, die sind sehr schwer zu verstehen. Und es gibt Dinge, die sehr schwer zu verstehen sind und die uns zudem im Innersten bedrohen“, sagte Malvor nach einer Pause. „Ich meine, selbst wenn du es verstehst, willst du es nicht akzeptieren!“ „Du machst mir Angst, Malvor, was ist mit mir? Bin ich krank?“, Bajo schrie fast vor Aufregung und machte wohl ein so entsetztes Gesicht, dass Malvor lachen musste. „Nun beruhige dich erst einmal“, beschwichtigte ihn Malvor, als Bajo sich wieder eingekriegt hatte. „Nein, du bist nicht krank. Im Gegenteil, die Übungen und die Erinnerungen haben dich in Form gebracht. Aber ich vertraue dir jetzt ein Geheimnis an, eine bedeutende Erkenntnis, über die du mit keinem Menschen reden solltest: Wie gesagt, dein Gefühl täuscht dich nicht, etwas in dir wirkt auf dich ein. Und dieses Etwas ist eine fremde Kraft, die in dich eingedrungen ist. Diese Kraft sucht den Menschen heim, setzt sich in ihm fest, und sie versucht die Kontrolle über denjenigen an sich zu reißen. Das geschieht bei allen Menschen, früher oder später, meist aber in der Kindheit. Das Gemeine an dieser Kraft ist, dass der Mensch sie nicht bemerkt. Und Schritt für Schritt schleicht sich das Fremde in die Gedanken des Menschen. Die Zauberer nennen diese Wesen ‚DIE SCHATTEN'!“

„Diese Schatten sind in mir?“, fragte Bajo ungläubig. „Ich sagte ja, es ist sehr schwierig zu verstehen. Die Schatten kannst du nicht sehen und nicht greifen und doch sind sie da. Keiner weiß, wie sie in uns Menschen eindringen, aber es passiert. Und niemand bemerkt die Schatten, denn sie mischen ihr Verlangen in die Gedanken der Menschen“, fuhr Malvor fort.

Nun war Bajo aufgestanden und ging unruhig hin und her, langsam begriff er, dass laut Malvor tatsächlich etwas in ihm sein musste. „Dann, dann haben die Schatten mein Leben zerstört!“, stotterte er. „Diese Schweine! Diese miesen Kreaturen!“ Bajo war jetzt außer sich und schrie sich in Rage. „Malvor, du musst sie mir rausmachen, jetzt! Bitte hol sie aus mir raus!“, flehte er den Zauberer an und begann, an sich rumzuzerren und sich selbst zu schlagen. Doch Malvor lag am Boden. Er krümmte sich vor Lachen und hielt sich den Bauch. Jetzt war Bajo vollkommen verwirrt, er verstand überhaupt nichts mehr. Als Malvor sich wieder beruhigt hatte, stand er auf und tätschelte Bajos Schulter. „Verzeih mir, aber bei deiner Reaktion konnte ich mich nicht mehr beherrschen“, und beinahe fing er wieder an zu lachen. „Du hast mich nur veralbert!“, rief Bajo halb erleichtert, halb vorwurfsvoll. Malvor hatte sich wieder gesetzt und versuchte Bajo zu besänftigen: „Bleib ganz ruhig, mach alles so weiter, wie ich es dir hier gezeigt habe. Es kann dir nichts passieren.“ Und im ernsten Ton fügte er hinzu: „Die Schatten sind leider Wirklichkeit! Wenn du besonnen bleibst, wird alles gut, glaube mir. Wenn du in Panik verfällst, wird aber alles nur schwieriger.“ Bajo wusste nichts mehr zu sagen. Er kämpfte mit sich selbst, um Malvors Offenbarung zu begreifen. Dieser beendete den Abend und sie beide gingen schlafen. Bajo war wie aus der Bahn geworfen, die nächsten Tage hatte er viel Mühe, sich zu konzentrieren. Malvor sprach, trotz der drängenden Bitte Bajos, nicht mehr über die Schatten und ließ ihn die meiste Zeit Übungen machen.

Als Bajo sich langsam wieder gefangen hatte, brach für ihn die schlimmste Zeit in der Höhle an. Er hatte begonnen, sich an die Zeit mit seinen engsten Freunden, Tante Nele, seiner Mutter und seinem Vater zu erinnern. Allzu oft konnte er nur weinen. Zum einen, weil er die schönen Zeiten seines Lebens vermisste, zum anderen, weil er oft nur sinnlos seine Zeit vergeudet hatte und ewig irgendwelchen Hirngespinsten nachgejagt war. Er erkannte erst jetzt, dass er die Menschen, die er wirklich mochte und die sich wirklich um ihn bemühten, immer wieder enttäuscht hatte.

Leider konnte er sich nur an Bruchteile aus seiner Kindheit erinnern. Doch immerhin wurde ihm klar, dass all seine Versuche, etwas zu entdecken oder auszuprobieren, von seinem Vater gnadenlos zerschlagen wurden. So lernte er als Kind nur, zu gehorchen und es seinem Vater recht zu machen, seine eigenen Bedürfnisse musste er hintenanstellen. Und wenn man ängstlich darauf wartete, was der Herr als nächstes wollte, hatte man selbst keinen eigenen Willen mehr. Wenn nur die Entscheidungen des Vaters zählten, dann traf man selbst keine. Nun fing Bajo an, zu verstehen, warum er Entscheidungen aussaß und am Ende andere die Entschlüsse trafen. Keine Entscheidungen, keine Bedürfnisse haben, so wurde Bajo erzogen, als ein Diener…

„Ich fühle mich so elend!“, klagte Bajo eines Abends am Feuer. „Ich glaube, ich habe verstanden, warum ich so viele Schwierigkeiten im Leben habe. Aber wird mir das denn jetzt helfen?“ Mit ruhiger Stimme beschwichtigte ihn Malvor: „Du hast einen ganz wichtigen Schritt gemacht, du hast die Ursache erkannt. Als nächstes musst du durch Übung lernen, dein Verhalten zu ändern.“

„Aber ich bin so schwach, ich habe nichts erreicht im Leben, ich bin ein Nichts!“, jammerte Bajo. Doch Malvor ermutigte ihn: „Du denkst, du bist schwach, aber das bist du nicht. Du spürtest, dass dir der Alkohol die Kraft raubte und das Hennefkraut dir die Sinne vernebelte. Du hast gemerkt, dass in deinem Leben etwas nicht stimmte und hast versucht, dem auf die Spur zu kommen. Viele können dem Trost des Rausches nicht widerstehen, finden aus den Verstrickungen ihres Lebens nicht mehr heraus und geben sich auf. Du aber hast gekämpft. Du hast angefangen, etwas zu tun, was du lange nicht konntest, du hast damit begonnen, Entscheidungen zu treffen. Auch wenn es dir gar nicht klar war, aber du hast entschieden, die Dinge abzustellen, die dir Schaden zufügten, hast nicht mehr getrunken und geraucht. Du hast dich entschieden, der Sache auf den Grund zu gehen, obwohl es dir die Einsamkeit brachte und dich unglücklich machte. Du hast dich gegen den Einfluss der Schatten zur Wehr gesetzt und das ist sehr mutig! Aber dein Kampf hat erst begonnen! Du hast dich ein wenig von ihnen befreien können, aber sie sind hartnäckig und werden weiter versuchen dich auszutricksen.“

Als Malvor wieder die Schatten erwähnte, wurde Bajo hellhörig: „Du meinst, die Schatten sind schuld, dass ich mein Leben nicht hinbekomme?“

„Dein Vater nahm dir die Kraft und machte dich zum Sklaven. Er muss so schlimme Dinge getan haben, dass du sie auf der Stelle vergessen musstest, um nicht daran zu Grunde zu gehen. Ein verwundetes Tier leckt seine Wunden, bis es wieder gesund ist. Ein Kind, das im Geiste verletzt ist, müsste es auch tun. Doch es ist ein Kind. Es braucht dabei Hilfe. Wenn es die nicht bekommt, bleibt es verletzt. Es bleibt verletzlich. Die Schatten sind gnadenlos! Sie wittern dann ihre Chance! Sie helfen dem Menschen natürlich nicht mit Zuversicht, Hoffnung und Selbstvertrauen, sondern wecken Gefühle, die Gift für ihn sind“, erläuterte Malvor.

„Aber warum tun sie das? Tun sie das, weil sie böse sind?

„‘Böse – Gut'. Wer ist böse und wer ist gut, ich kann es dir nicht sagen?! Ich glaube, dass es für einen nur richtig und falsch gibt. Richtige und falsche Entscheidungen“, führte Malvor an.

Bajo hakte nach: „Aber warum tun die Schatten das den Menschen denn nun an, einfach nur so?“

Traurig schaute Malvor Bajo an: „Sie tun es aus einem Bedürfnis heraus. Ein Bedürfnis, das auch Tiere, Menschen und alle anderen Lebewesen haben: Sie haben Hunger! Sie sind immer hungrig! Und sie werden nie damit aufhören, hungrig zu sein!“

„Das verstehe ich nicht, wenn sie uns essen, dann müsste doch immer mehr von uns fehlen, das müsste man doch sehen“, wandte Bajo ein.

„In der Tat fehlt im Laufe der Zeit immer mehr von uns, nur kann man es eben nicht sehen. Wie ich bereits erwähnte, sind die Schatten unsichtbar, aber sie sind da. Und so ist auch ihre Nahrung unsichtbar, doch sie stillt ihren Hunger.“, erklärte Malvor.

„Und was essen sie von uns?“

„Sie essen unsere Gefühle!“

„Aber wie kann man denn Gefühle essen?“

„Das weiß ich nicht, ich weiß nur, dass sie es tun. Ich bevorzuge auch eher unseren leckeren Eintopf oder einen schönen Braten. Aber was das eine für uns ist, sind Gefühle für sie. Auf ihrer Speisekarte stehen Hass, Gier, Neid, Machtverlangen, Zweifel, Sorge, Selbstverachtung und Selbstmitleid. Deshalb nenne ich sie auch ‚Gefühlsfresser‘. Sie bringen die Menschen dazu, das Falsche zu tun. Sie bringen sie dazu, zu betrügen, zu lügen, zu bestechen, zu stehlen und zu morden. Und wenn der Mensch sich schlecht fühlt, weil er im Grunde weiß, dass er die falschen Dinge getan hat, bekommen sie ihren Nachschlag. Sie treiben die Menschen in Kriege, in die Abhängigkeit des Rausches, in eine Welt voller Lügen und Missgunst und laben sich an Elend und Krankheit.“

„Gibt es denn keine Menschen mehr, die gut sind, äh, ich meine, die das Richtige tun?“, fragte Bajo hoffnungsvoll.

„Es ist ein immerwährender Kampf zwischen dem eigentlichen Menschen und dem Schatten, der in ihn eingedrungen ist. Zum Glück gibt es noch viele Menschen, bei denen der wahre Kern die Oberhand hat, die auf dem richtigen Weg sind und ihrem Herzen folgen. Aber du weißt selbst, wie viel Leid es gab und gibt. Und es wird leider immer schlimmer“, entgegnete Malvor.

Bajo wollte es nicht wahrhaben: „Kann man denn gar nichts gegen die Schatten unternehmen?“

Malvor seufzte: „Die Menschen wissen ja noch nicht einmal etwas über diese heimtückischen Kräfte in ihnen, sie glauben, ihre Gedanken sind frei und nur ihre eigenen. Also sehen sie den wahren Feind nicht. Ihr Instinkt und Leva lenken sie in die richtige Richtung. Doch die Schatten werden immer gerissener, immer perfider. Und wenn sie zu viele Menschen in ihre Gewalt bekommen, sind wir wirklich bedroht. Der einzige Weg ist, ihnen die Nahrung zu verweigern. Ein Mensch, der es schafft, sich nicht von den Gedanken der Schatten verführen zu lassen, hängt weder der Vergangenheit hinterher, noch sorgt er sich über die Zukunft. Er lebt sein Leben im Hier und Jetzt, voller Freude und Zuversicht. Wenn er es auf Dauer schafft, so zu leben, dann droht der Schatten ihn ihm zu verhungern und eines Tages verlässt er den Menschen“

„Dann brauche ich also nur meine Sorgen abschütteln und den richtigen Weg gehen und ich bin meinen Schatten los?“, schöpfte Bajo wieder ein wenig Hoffnung.

„Im Grunde ja, aber so einfach ist es leider nicht. Es ist sogar eines der schwierigsten Dinge überhaupt. Hat sich der Schatten erst einmal an reichhaltiges Futter gewöhnt und bekommt er dann plötzlich nichts mehr, wird er wütend, mit allen Mitteln versucht er dann, denjenigen zurück in den alten Trott zu führen. Entsagt sich ein Mensch allem Falschen von einem Tag auf den anderen, ohne sich erinnert und erneuert zu haben, kann er sehr krank werden. Die Änderung sollte Schritt für Schritt erfolgen und sie kann nur stattfinden, wenn man die Ursachen seines Fehlverhaltens Stück für Stück erkennt. Es ist oft eine lange und harte Prozedur, bei der man meist viele Rückschritte erleidet, denn die Schatten wissen sich zu wehren und führen einen geschickt in die alten Verhaltensmuster zurück oder in andere, die einem ebenfalls schaden. Und ich wiederhole es nochmal, das Tückische an der ganzen Sache ist, dass man glaubt, es seien die eigenen Gedanken, die ein Verlangen nach diesem oder jenem hervorrufen, man glaubt, es seien die eigenen Bedürfnisse, die man stillen will und dann lässt man diesen Gedanken auch leicht die schlechten Taten folgen.

Nun weißt du um das Geheimnis der Schatten. Mache dich nicht verrückt damit! Mache einfach weiter mit den Aufgaben, die ich dir gegeben habe“, schloss Malvor.

Bajo sagte nichts mehr, diese Offenbarungen musste er erst einmal verdauen. Er hatte schon immer viel Vorstellungskraft besessen, aber sich dieses Prinzip mit den Schatten vorzustellen und zu begreifen, war eine wirklich harte Nuss, die ihm nicht nur zu schaffen machte, sondern ihn auch sehr ängstigte.

Schattenhunger

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