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2.4 Geschenke

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Die Tage wurden wieder länger und allmählich verschwand der Schnee. „Ich muss dich für einige Zeit alleine lassen“, verkündete Malvor, als er ein paar Sachen zusammenpackte. „Wohin gehst du?“, fragte Bajo besorgt. „Ich werde in die Kristallberge gehen und die Balden besuchen“, erwiderte der alte Mann. „Oh, bitte Malvor, lass mich mitkommen, ich würde so gerne mal einen Balden sehen!“ „Das geht leider nicht. Aber ich verspreche dir, dass du eines Tages die Balden treffen wirst.“ Bajo war enttäuscht, aber er vertraute dem Zauberer und wollte sich deshalb nicht grämen. „Ich habe dir gezeigt, wie du hier zurechtkommst. Die Wintervorräte sollten noch solange reichen, bis ich wieder zurück bin. Wenn dein Bart zu sehr juckt, dann versuche, dich ohne Spiegel selbst zu rasieren, es wird auch Zeit, dass du das alleine kannst. Du kennst mittlerweile die Pfade der Umgebung, aber geh nicht zu weit weg und sei immer auf der Hut, es lauern noch zu viele Gefahren für dich in diesem Wald“, schärfte Malvor Bajo ein.

Als Malvor seine Anweisungen beendet hatte, brach er am späten Vormittag auf. Bajo fühlte sich komisch, jetzt so alleine, aber er hatte seine Pflichten, die ihn erst einmal ablenkten. Mittlerweile ging er nur noch in die Höhle, wenn ihm etwas Wichtiges aus seiner Vergangenheit wieder eingefallen war, oder wenn Malvor meinte, dass er dies tun sollte. Ansonsten beschränkte sich Bajo darauf, abends den verlebten Tag Revue passieren zu lassen. Sein Hauptaugenmerk lag nun auf den Kraft- und Wukoübungen und so bemühte sich Bajo in den nächsten Tagen, unter eigener Anleitung die Aufgaben zu erfüllen. Seine anfängliche Unsicherheit wich einer steigenden Selbstzufriedenheit. Eines Nachmittags ging Bajo zum kleinen Wasserfall, da es dort einen Parcours gab, den er in einer längeren Abfolge absolvieren musste. Er schaffte es auf Anhieb, alle Passagen ohne Fehler zu durchlaufen. Am Ende stand er auf einem Felsen mit herrlichem Blick über den Wald. Bajo fühlte sich großartig!

Als sein Blick über die Landschaft glitt, fiel ihm ein, dass Malvor ihm verboten hatte, in den tieferen Teil des Waldes neben dem Wasserfall zu gehen. Aber Bajo juckte es in den Füßen. Er konnte einfach nicht widerstehen, wenn nicht jetzt, wann dann? Und sowieso, er wollte ja nur einen kleinen Blick in diesen Teil werfen, gar nicht weit reingehen. Gedacht, getan, sprang er elegant die Böschung hinab und marschierte los. „Endlich wieder Neuland! So wie ich es liebe!“, rief Bajo voller Abenteuerlust. Er war darauf bedacht, sich den Weg, den er nahm, genau zu merken, damit er schnell wieder zurücklaufen konnte, wenn er in Gefahr geraten sollte. Gewissenhaft achtete er auf jedes Geräusch und suchte den Boden nach Spuren ab, um nicht einem Waldreißer zu begegnen. Die Gegend wurde feucht und kalt und bei seiner Spurensuche entdeckte Bajo immer mehr seltsame Löcher im Boden und unter den Bäumen. In dem Moment, wo es ihm gerade doch zu mulmig wurde, schoss plötzlich etwas aus einem Loch vor ihm heraus. Sein Körper reagierte schneller als er denken konnte und Bajo machte einen Salto rückwärts, um der Gefahr auszuweichen. Als er wieder nach vorne schaute, sah er einem riesigen, fetten Tausendfüßler entgegen, der sein Vorderteil aufgestellt hatte; das große Maul aufgerissen, voller spitzer Zähne und fauchend wie eine Bergkatze. Schon schnappte das widerliche Vieh nach ihm und Bajo machte einen weiteren Satz nach hinten. Unverzüglich wollte er den Rückzug antreten, aber wie durch einen Weckruf kamen auf einmal weitere dieser Tiere aus den umliegenden Löchern hervor und versperrten ihm die Passage zurück zum Wasserfall.

In Windeseile schnellten diese schleimigen, fressgeilen Würmer von allen Seiten auf ihn zu. Obwohl Bajo bis in die Haarspitzen erschrocken war, zog er instinktiv seinen Holzstab hervor, gerade noch rechtzeitig, um den ersten Angreifer eine zu verpassen. Mit dem Schwung des ersten Hiebes setzte er auch gleich den zweiten an, so wie er es geübt hatte. In diesem Augenblick überkam Bajo eine Welle der Kraft und er sprang, schlug, wich aus und wirbelte in die Richtung, aus der er gekommen war, genauso wie er es bei Malvor gelernt hatte. Als der Weg frei war, rannte er ohne Unterbrechung zurück, gleich durch bis zur Hütte und fiel dort erschöpft zu Boden.


Nachdem er sich einige Minuten erholt hatte, stand er auf, spülte den Stab flussabwärts gründlich ab, da ein stinkender Schleim an den Enden klebte und setzte sich auf seinen Platz an der Hütte. „Du Idiot, du Nichtsnutz!“, beschimpfte er sich selbst. „Du kannst es einfach nicht lassen, du Trottel!“ In den Ärger über sich selbst mischte sich aber auch Erstaunen. Er wunderte sich wirklich, wie er sich da herausgewunden hatte und kam zu dem Schluss, dass sich seine Übungen wirklich bezahlt gemacht hatten und sein Körper in dieser Situation irgendwie einen eigenen Willen besessen hatte, was er höchst beachtlich, aber auch ein wenig befremdlich fand.

An diesem Tag machte sich Bajo schon frühzeitig das Abendessen, erinnerte sich auf seinem Nachtlager an das Erlebte und verließ die Hütte lieber nicht mehr. Die folgenden Tage strengte er sich besonders an und wagte sich nur auf kurze Ausflüge hinaus. Aber kaum wieder im Lot, fing schon die nächste Sache an, ihn zu reizen: Malvor hatte ihm zwar schon einmal den oberen Raum gezeigt, aber nur, weil er auf die dortige Luke hinweisen wollte, die auf das Dach hinausführte und bei Gefahr als Notausstieg dienen sollte. Davon abgesehen, gab es auf dem Dach einen kleinen Hocker und man konnte wunderbar die Gegend aus dieser Höhe beobachten. Doch zu gerne wollte Bajo einmal in Malvors Habseligkeiten stöbern, die dort oben waren. Immerhin war dieser ein Zauberer und wer wusste, was er dort so an magischen Gegenständen aufbewahrte. Bajo war hin- und hergerissen und das bewirkte, dass er sich schlecht konzentrieren konnte. Bei seinen Übungen fiel er öfter hin, ließ das Essen fast verbrennen und dachte bald nur noch über das geheimnisvolle Zimmer nach.

Eines Mittags schließlich konnte sich Bajo nicht mehr zurückhalten. Er stieg die Leiter nach oben und spähte in den Raum. In diesem Moment flog ihm ein Nachtfalter auf die Nase und ließ sich dort nieder. So stand Bajo da ganz ruhig auf der Leiter und schielte den Falter an. Doch als er versuchte, das Tier in den Fokus zu bekommen, sah er, für einen kurzen Augenblick, eine Person im halbdunklen Raum stehen, es war… MALVOR! Er erschrak so sehr, dass er fast von der Leiter fiel und der Nachtfalter flog wieder davon. Doch Bajo konnte in dem Raum auch mit der Tranlampe, die er von unten holte, niemanden sehen. Da wurde ihm plötzlich bewusst, wie schändlich es doch war, was er da tat. Malvor war von Anfang an freundlich zu ihm gewesen und hatte ihn wie seinen eigenen Sohn aufgenommen. Und das einzige was Bajo bei dessen Abwesenheit einfiel, war, seine Sachen durchwühlen zu wollen. Schnell stieg er wieder herunter und setzte sich nach draußen. Er fühlte sich wie ein Verräter, wie hatte er nur den Gedanken fassen können, Malvor zu hintergehen? „Zum Glück bin ich umgedreht, das hätte ich mir nicht verziehen, wenn ich wirklich seine Sachen durchwühlt hätte“, beruhigte er sich selbst. Aber dass er den Zauberer im Zimmer für einen Moment deutlich hatte sehen können, ging ihm nicht mehr aus dem Kopf. Er überlegte sich, dass Malvor vielleicht heimlich nach Hause gekommen war und nur darauf gewartet hatte, dass Bajo sich hochschlich. Aber warum war er denn dann wieder verschwunden? Eigentlich konnte es dies auch nicht sein. Es blieb eben ein Rätsel.

Wieder einige Tage später hatte Bajo etwas länger geschlafen und erneut wilde Dinge geträumt. Er öffnete die Tür und trat heraus, um draußen den Kamin fertigzumachen. Die Sonne stand schon höher und strahlte ihm ins Gesicht, es war sehr mild, fast warm und die Vögel zwitscherten um die Wette. Ausgiebig reckte sich Bajo und genoss für einen Augenblick die warmen Strahlen. Seit langer, langer Zeit war er für einen Moment mal wieder glücklich. Bajo setzte sich auf seinen Platz und kostete dieses Gefühl voll aus. „Wie oft war ich in meinem Leben so glücklich?“, fragte er sich selbst. „Wenn ich es zusammenzähle, was kommt dabei raus? Ein paar Tage, ein paar Stunden? War ich überhaupt einmal wirklich glücklich? Aber was mache ich da? Ich fange schon wieder an zu grübeln und das ist nicht gut!“ Er stand wieder auf und begann fröhlich mit seinen Arbeiten. Malvor hatte ihn immer wieder ermahnt: „Denke, entscheide und dann handle, ohne zu denken!“ Und tatsächlich konnte Bajo seine Aufgaben viel besser erledigen, wenn er dabei nicht grübelte oder sich irgendwelche Vorstellungen machte. Manchmal war er so vertieft in seine Handlungen, dass er alles andere um sich herum vergaß, ja, sogar die Zeit existierte dann nicht mehr.

Endlich waren alle anstehenden Pflichten soweit erledigt und auch einige Übungen hatte er schon absolviert. Es war früher Nachmittag und der Tag hielt, was der Morgen versprach: Es war der erste schöne Frühlingstag! Bajo hatte die Augen geschlossen und lauschte in den Wald. Als er versuchte, die Vogelstimmen zu unterscheiden und die Richtung, aus der sie kamen, zu orten, vernahm er plötzlich dumpfe rhythmische Geräusche.

Angespannt horchte er und war sich nach kurzer Zeit sicher: das musste ein trottendes Pferd sein! Bajo sprang auf und blickte den Pfad Richtung Norden hinauf. In der Tat war da ein Reiter. Und dem Hut nach zu urteilen… „JAAA, Malvor! Du bist wieder zurück!“, schrie Bajo vor Freude und tanzte aufgeregt umher. Er stand neben der Brücke und strahlte seinem Lehrer entgegen. Aber worauf ritt Malvor da? So etwas hatte Bajo noch nie gesehen. Völlig erstaunt und mit offenem Mund betrachtete er das schöne Tier. Es sah aus wie die Mischung aus einer Bergziege und einem Rennpferd aus der Thalarischen Steppe, war von schneeweißer Farbe und hatte zwei große, gedrehte Hörner, die nach vorne gewölbt waren. Das mysteriöse Tier war recht groß und dennoch von schlanker, edler Statur. Zaumzeug und Sattel glänzten pechschwarz und waren mit glitzernden Kristallnieten beschlagen. Malvor lächelte, wohlwissend, was für ein beeindruckender Auftritt dies war. Mit einem eleganten Satz sprang der alte Mann direkt vor Bajo herunter und schaute ihn an. „Wie ich sehe, bist du noch in einem Stück und die Hütte ist auch nicht abgebrannt!“, bemerkte er mit ernster Miene. Doch lange hielt er diese Mimik nicht durch und glitt über in ein herzliches Lachen, in das Bajo fröhlich einstimmte und ihn umarmte. „Wie war deine Reise, Malvor? Du musst mir alles erzählen!“, flehte er, während sie zusammen die vielen Pakete von dem weißen Tier, welches man auf baldisch „Valdeyak“ nannte, luden „Und was ist das nur für ein prächtiges Geschöpf? Stammt es aus den Bergen? Was hast du da alles mitgebracht?“, so fragte und plapperte Bajo unentwegt vor sich hin. Zum einen hatte er ja die ganze Zeit niemanden zum Reden gehabt, außer sich selbst, zum anderen platzte er fast vor Neugier.

Nachdem sie alle Pakete nach oben in die Hütte geschafft hatten und Malvor sich, nach ein paar Übungen, frisch gemacht hatte, setzten sie sich wieder mal draußen auf ihre Plätze und tranken ein kühles Glas Blubbersaft. „Bitte Malvor, erzähle mir, wie es bei den Balden war, ja? „Na, wenn du mich so sehr darum bittest, dann fange ich einfach mal an: Es war nicht einfach, dort hochzugelangen, denn ich war früher dran als sonst, es lag noch viel Schnee und den geheimen Pfad zu finden, war schwierig. Aber der Aufstieg dorthin lohnt sich immer, es ist eine Wonne, diese herrlichen Dörfer und Städte in den glitzernden Felsen zu betrachten. Mein Freund Sibon heißt mich mit seiner Familie stets herzlich willkommen. Und fast immer präsentiert er mir eine neue Erfindung der Balden. Dieses Mal zeigte er mir eine Lederkugel, halb so groß wie eine Hand, gut vernäht und mit geheimnisvollem Inhalt. Wenn man diese Kugel kräftig knetet, strahlt sie für Stunden Wärme aus. Für lange Erkundigungen in die kalte Landschaft ein heißes Taschenfeuer zu haben, ist eine gute Sache! Ich freue mich auch immer wieder auf die gesunden Speisen, die sie mir anbieten. Es gibt frische Salate, Kräuter und Früchte, die sie auch im Winter in großen Höhlen anbauen. Geschickt angeordnete Kristalle leiten das Sonnenlicht von draußen hinein und verstärken es dermaßen, dass man denken könnte, man stünde im Sommer auf einem der oberen Felder und nicht im Winter in einer Höhle. Ich liebe vor allem auch den Umgang und die Gespräche mit diesen zauberhaften Wesen. Sie sind nicht nur sehr schlau, sondern auch Meister der Worte. Manchmal ist es wie Musik für mich, wenn sie etwas beschreiben oder erklären. Und sie haben ein ausgeprägtes Gespür, eine besondere Wahrnehmung ihrer Umgebung. Sie können Dinge fühlen, die weit von ihnen entfernt sind. So erkennen sie die Stimmungen eines Einzelnen oder auch ganzer Völker!“

Malvor berichtete den ganzen Nachmittag von seinen Erlebnissen und von den Balden allgemein. Bajo hing an seinen Lippen und hibbelte manchmal vor Aufregung hin und her. Oder er lag vor ihm auf dem Boden, blickte in den Himmel und lebte Malvors Geschichten im Geiste nach. Besonders gefiel ihm ein besonderer, seltener Stein, den die Balden manchmal in den Bergen fanden: Der Sonnenstein. Kam er für eine Weile mit Wasser in Berührung, so fing er an zu leuchten und das tat er für einige Stunden. „Da braucht man keine stinkende Tranlampe mehr“, dachte sich Bajo.

„So, der alte Mann ist am Verhungern!“, beendete Malvor seinen Vortrag und deutete damit an, dass Bajo das Essen fertigmachen sollte. Bajo aber blieb vor ihm stehen und schaute ihn sonderbar an. „Was ist denn?“, wunderte der Zauberer sich. „Hast du mir etwas mitgebracht, Malvor?“, fragte Bajo sehnlichst hoffend. „Was sollte ich dir denn mitgebracht haben?“, entgegnete der alte Mann mit schlecht gespielter Unschuld. „Na, du weißt schon, ein Geschenk aus den Bergen natürlich!“ „Hmmh, also Sibon könnte vielleicht was in die Pakete getan haben, aber genau weiß ich das nicht“, flunkerte Malvor. „Oh bitte, bitte lass uns nachschauen!“, winselte Bajo. „Gut, ich gebe zu, es könnte etwas für dich dabei sein. Aber ich möchte es dir zum richtigen Zeitpunkt geben, das musst du verstehen und morgen ist auch noch ein Tag“, sagte er wissend und zwinkerte Bajo zu. Dieser gab sich hochzufrieden, auch wenn er noch warten musste, er würde etwas Besonderes geschenkt bekommen, etwas von den Balden!

Gemeinsam kochten sie das Abendessen, Malvor hatte frisches Gemüse und Kräuter mitgebracht. Er hatte außerdem noch frisches Fleisch von einem Hasen dabei und es gab ein leckeres Ragout, was für Bajo nach der langen Zeit ein Festmahl war. Nach dem Essen saßen beide drinnen beim Schein der Lampe, stocherten mit kleinen Stöckchen in den Zähnen herum und tranken heißen Früchtetee mit dem letzten Honig, den es noch gab. „Und, wie ist es dir ergangen?“, eröffnete Malvor das Gespräch. „Wie ich sehe, ist hier alles tipp topp in Ordnung. Und auch du bist anscheinend gut in Schuss.“ Bajo erzählte, dass er anfangs unsicher gewesen, mit der Zeit aber in einen guten Rhythmus gekommen sei, fleißig seine Übungen gemacht und sogar den kleinen Tisch, der am Kamin stand, repariert hatte. Nach wie vor tat er sich schwer mit seinen Erinnerungen, aber dafür hatte er einen perfekten Lauf auf dem Parcours am Wasserfall hingelegt.

Als er dieses ausgesprochen hatte, entstand plötzlich eine sonderbare Stimmung. Natürlich fiel ihm gleich sein Erlebnis in dem verbotenen Waldstück ein. Malvor schaute ihn wissend an. Nach einer langen, peinlichen Pause, hielt es Bajo schließlich nicht mehr aus. „Ich bin in den Wald hinter dem Wasserfall gegangen, in den ich nicht durfte“, platzte er heraus. „So…? Dann wundert es mich, dass du hier lebendig bei mir sitzt!“, äußerte sich der Zauberer übertrieben bedächtig.

Bajo war froh, dass es heraus war und erzählte nun alles. Wie es ihn gejuckt hatte, dorthin zu gehen, wie vorsichtig er gewesen war und natürlich in allen Einzelheiten, wie er den Viechern entkam und wie sehr er sich über sich selbst wunderte, auf welche Art er das tat.

„Was waren das für Kreaturen?“, wollte er wissen, als er geendet hatte. „Giftasseln! Relikte aus den Urzeiten. Was sich in ihr Revier verläuft, ist des Todes. Selbst wenn man entkommen sollte, hat nur eines dieser Schleimmonster dich erwischt, so hat es dich mit einem üblen Gift verseucht. Daran geht man elendig zu Grunde! Dass du so töricht warst, dich da hineinzuwagen, ist ein gutes Beispiel für die Schatten. Wenn man an einem Punkt steht, wo es einem gut geht, dann ist das oft ein Punkt, an dem es dem Schatten schlecht geht, denn er bekommt keine richtige Nahrung mehr. Daher pflanzt er dir einen Gedanken ein und tarnt ihn, wie in deinem Fall, als deine eigene Neugierde. Eigentlich weißt du, dass wenn ich dir sage, dort auf keinen Fall hinzugehen, tatsächlich eine tödliche Gefahr bestehen muss. Der Schatten blendet die Bedenken aus und schürt das Verlangen, wenn es nötig ist, bis zur Weißglut. Du bist noch nicht stark genug, um diesem zu widerstehen. Meine Abwesenheit war die Chance für deinen Schatten. Glaube mir, wenn ich dir sage, dass du dem Tod von der Schippe gesprungen bist. Ich habe ein Gegengift, aber ich wäre zu spät zurückgekommen, hätte etwas von dem Schleim deine Haut berührt.“

Malvor war sehr ernst geworden und Bajo schüttelte sich innerlich, weil ihm die Tragweite des Erlebnisses nicht wirklich bewusst gewesen war. „Aber das Ganze hatte auch etwas Gutes“, fuhr der Zauberer ein wenig ermunternder fort. „Die Art, wie du da rausgekommen bist, zeigt mir, dass du für die nächste Stufe deiner Wukoübungen bereit bist, das ist die gute Nachricht!“ Nun schaute Bajo wieder ganz zufrieden drein. Malvor beendete den Abend, da er sah, dass Bajo erschöpft war und beide freuten sich auf ihr Nachtlager.

Am folgenden Tag hatten sich Malvor und Bajo auf die kleine Wiese vor der Baumstumpfhütte begeben, um ein paar Übungen zur Lockerung zu machen. Bajo wollte gerade seinen Übungsstab holen, da er davon ausging, dass jetzt die Wukoübungen dran wären, aber der Zauberer hieß ihn, dort stehen zu bleiben und verschwand nach drinnen. Als er wieder herauskam, trug er ein langes verschnürtes Paket in einer Hand und Bajo ahnte schon, was kommen würde. „Dies hier haben mir die Balden für dich mitgegeben“, verkündete Malvor feierlich und übergab Bajo das Paket. Der kniete sich auf den Boden, öffnete das Paket sorgfältig und hervor kam… sein Übungsstab! Enttäuscht stand Bajo auf. „Oh“, sagte Malvor, „da muss ich mich wohl vertan haben!“ und holte hinter seinem Rücken ein nagelneues Wuko hervor, welches er Bajo entgegenstreckte: „Dieser Stab soll dich dein Leben lang begleiten und dich beschützen, Leva sei mit dir!“ Bajo strahlte über das ganze Gesicht, nahm den Stab vorsichtig an sich und betrachtete ihn neugierig. Er fühlte und streichelte seinen neuen Schatz und immer wieder murmelte etwas wie: „Mein eigenes Wuko! Wie wunderschön es ist!“ oder „Ich werde dich hegen und pflegen, du gutes Ding, ich liebe dich jetzt schon!“ Sein Wuko war etwas kürzer als das von Malvor, doch dieser war ja auch etwas größer als er selbst. Es war von schwarz-blauer Farbe und hatte einen wunderschön verzierten Mittelgriff. Bajo probierte ein paar leichte Übungen und war begeistert, denn das Wuko war genau ausbalanciert und hatte das richtige Gewicht. „Diesen Stab haben die Wukomeister in den Bergen nur für dich hergestellt, es ist eine mächtige Waffe! Wenn du den richtigen Weg gehst, wird es dich nie im Stich lassen. Werde eins mit ihm!“, fügte der Zauberer hinzu und ließ Bajo den ganzen Tag damit üben. Auch die folgenden Tage lag der Schwerpunkt auf dem Wuko. Bajo absolvierte alle Übungen an allen Orten und zu allen Tageszeiten, wie er sie auch mit seinem Übungsstab vollzogen hatte.

Eines Nachmittags gingen die beiden zu einer größeren Lichtung, die etwas weiter entfernt lag. Malvor nahm sein Wuko und führte ein paar Abfolgen aus. „Nun zeige ich dir ein Geheimnis des Wukos, pass genau auf!“, ermahnte er Bajo und begann, den Stab über seinen Kopf zu drehen. Blitzschnell machte er dann einen Ausfallschritt nach vorne und warf das Wuko wie ein wirbelndes Geschoss über die Wiese. Dabei erklang ein unheimlicher, heller, fast zwitschernder Ton. Der Stab begann nach einer kurzen Strecke, wie von Geisterhand einen Bogen zu schlagen, wobei er am Scheitelpunkt beinahe die Erde berührte und einem verdutzten Kaninchen fast die Ohren wegschlug. Der Bogen wurde so vollendet, dass das Wuko punktgenau auf den Zauberer zurückkam, der es auffing und ohne Übergang in die Grundhaltung zurückschwang. Bajo war mehr als beeindruckt. Das war wirklich magisch! „Jetzt weißt du, warum der Stab solche seltsame Form hat“, endete Malvor seine Vorführung. Er ließ Bajo vier Tage an der Technik feilen und am Ende konnte dieser den magischen Wurf selber ausführen!

Nach einem kurzen Kälteeinbruch war der Frühling vollends ausgebrochen und am Tage herrschten wieder angenehme Temperaturen. An einem klaren Morgen war Malvor besonders früh wach, denn er hatte schon ein Feuer angefacht, als Bajo aus der Hütte kam. „Zieh dich aus“, wies er ihn an. „Ich verstehe nicht“, murmelte Bajo noch etwas verschlafen. „Du sollst alle deine Kleider ausziehen!“, befahl der Zauberer. Bajo zog sich, auf Malvors strengen Blick hin, verdutzt aus, bis er splitternackt war. Er musste die Klamotten auf einen Haufen vor das Feuer legen und sah, dass dort schon die Sachen lagen, die er getragen hatte, als er in den Wald gekommen war - samt Rucksack. „Heute wirst du dich von deinem alten Leben endgültig verabschieden!“, tat Malvor feierlich kund. Dann gab er Bajo zu verstehen, laut und deutlich einen Spruch aufzusagen, den er ihm vorgab:

„Ich danke allen Menschen, allen Wesen und allen Dingen, die mich bis zum heutigen Tage begleitet und mir geholfen haben. Ich wünsche euch viel Glück! Nun aber werde ich ein neues Leben beginnen und mich als wahrer Kämpfer von meinem Herzen führen lassen.“

Anschließend forderte Malvor Bajo auf, die Sachen zu nehmen: „Und nun übergib sie dem Feuer! Versuche, an nichts Bestimmtes zu denken, lass die Gedanken auf dich zukommen“, wies er Bajo weiter an. Dieser begann mit den ältesten Kleidern und warf sie, ein Teil nach dem anderen, in die Flammen; Strümpfe, Kleider, Schuhe, Rucksack, alles. Schließlich waren die Sachen an der Reihe, die er vom Zauberer hatte. Als nichts mehr übrig war, schaute Bajo noch eine Weile den brennenden Resten zu. Wie Visionen erschienen ihm während der Prozedur bekannte Gesichter aus seiner Vergangenheit. Bilder aus vergangenen Tagen tauchten vor ihm auf, an die er sich nicht mal in seiner Höhle erinnert hatte. Sein Vater, seine Mutter, Tante Nele, seine Arbeitskollegen, all die vielen Menschen, die Teil seines Lebens waren. Eine merkwürdige Traurigkeit umhüllte ihn, doch bevor auch die ersten Tränen fließen konnten, rüttelte ihn der Zauberer auf und schickte ihn zur Latrine, um sich zu erleichtern.

Als er zurückkam, setzte sich Bajo auf einen Schemel und wurde von Malvor ein letztes Mal rasiert. Danach gingen sie zum Fluss und an der Stelle, wo sie sich immer wuschen, musste sich Bajo gründlich reinigen. Mit einem frischen Tuch rubbelte er sich ab, band sich zwei Lappen um die Füße, um sie auf dem Rückweg nicht wieder zu beschmutzen und folgte dem Zauberer zurück zu ihrer Insel. Dort stellte er sich auf die kleine Wiese vor der Hütte, immer noch völlig nackt. Malvor hatte den Tisch, der sonst immer am Kamin stand, herbeigeholt und eine Decke darübergelegt. Darauf lagen frisch gefaltete Kleider. „Die Balden meinen es gut mit dir!“, sagte Malvor lächelnd. „Sie haben mir noch ein paar ihrer besten Kleidungsstücke für dich mitgegeben“. Er reichte Bajo Unterwäsche aus weicher Seide und leichte Wollsocken, eine schmale schwarze Hose aus Berghanf sowie ein dunkelblaues Hemd aus dem gleichen Material. Die Hose wurde von einem dunkelbraunen, fast schwarzen Ledergürtel gehalten, der einen breiten dicken Verschluss hatte. Die Weste, die er bekam, war ebenfalls aus Seide und in dunklen Grün- Blau- und Rottönen gemustert. Dann holte Malvor ein paar sonderbare Stiefel hervor. Sie waren aus dunkelbraunem Leder gefertigt und hatten einen halbhohen Schaft. Die Sohle aber war aus einem weicheren Material und schien an das Leder angeklebt zu sein. Der dunkelgrüne Hut, den Bajo nun probierte, war schmal und unauffällig und die seitlich hochgesteckten Laschen ließen sich auch nach unten klappen und unter dem Kinn verschließen. Zu guter Letzt bekam Bajo noch einen dunkelbraunen, halblangen Mantel, der über allerlei Taschen verfügte und einen Fellkragen, den man abnehmen konnte, besaß. Trotz seiner Festigkeit war der Mantel sehr leicht zu tragen.

So war Bajo nun von Kopf bis Fuß neu eingekleidet. Er ging ein paar Schritte hin und her und war begeistert. Nicht nur, dass alles wie angegossen passte, die Sachen waren angenehm zu tragen und so leicht, dass er dachte, er könne wegfliegen, wenn er hochhüpfen würde. Malvor erklärte ihm, dass die Kleidung nicht nur sehr reißfest und leicht sei, sondern, dass auch ein kaum sichtbares Garn miteingewebt worden war, welches den Regen abwies und einen wärmte, wenn es kalt war und kühlte, wenn es warm war. Dann zeigte er Bajo, die beiden in der breiten, dicken Gürtelschnalle versteckten Geheimfächer, die man nur mit einem Trick öffnen konnte. „Die Sohlen der Stiefel sind aus dem Harz der Schneetanne gemacht, sie sind fast unzerstörbar und im Inneren deinen Füßen genau angepasst. Ich habe dich nicht umsonst einmal barfuß durch den feuchten Waldboden geschickt“, erklärte er augenzwinkernd. „Du bist so schon unauffällig, aber mit diesen Sohlen kannst du dich am helllichten Tage bis in den Palast von Kontoria hochschleichen und keiner würde es bemerken.“ Bajo fühlte sich wirklich wie befreit. Nicht nur, dass er so schnieke angezogen, gesäubert und gekämmt war. Es war tatsächlich, als hätte er eine Last verloren, er war neugeboren!

Zum Ende der Prozedur gab Malvor Bajo noch einen dunkelgrünen Rucksack, in dem sich Ersatzwäsche zum Wechseln befand. Auf der Klappe des Rucksacks saß eine zusammengefaltete, längliche Lederhülle, die sich auch abnehmen ließ, wobei dann ein Trageriemen zum Vorschein kam, mit welchem man sich die Hülle auch ohne Rucksack auf den Rücken schnallen konnte. In diese Hülle passte das Wuko ganz genau hinein, sodass oben nur ein kleines Stück herausschaute. Die Lederhülle hatte einen verdeckten langen Schlitz mit einem speziellen Verschluss am oberen Ende. So konnte Bajo das Wuko blitzschnell mit einem Ruck hervorziehen, wenn er in Gefahr war.

Schattenhunger

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