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2.5 Abschied

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In seinen neuen Sachen bereitete es Bajo noch mehr Freude, mit Malvor auf Streifzüge zu gehen als vorher schon. Der Zauberer zeigte ihm jetzt jeden Tag „Die Wunder des Waldes“, wie er sie nannte. Bajo erweiterte sein Wissen über Pflanzen; er lernte, welche essbar waren, welche giftig, welche zur Heilung von Krankheiten genutzt wurden und welche einen Rausch verursachen konnten. Auch war er jetzt in der Lage, die verschiedensten Spuren von Tieren zu lesen und wusste, wo sie zu finden waren.

Eines Vormittags machten sie eine kurze Rast auf einer kleinen Lichtung. Der Zauberer öffnete sein Hemd ein wenig und zum Vorschein kam ein Lederband, welches er wie eine Kette um den Hals trug. Daran hing eine Art krumme Schote. Er nahm sie ab und zeigte sie Bajo. „Dieses kleine Ding ist die Behausung für das größte Wunder des Waldes!“, erklärte er. Bajo begutachtete die Schote genau, als er sie in die Hand nahm: sie war hellgrün, etwa einen halben Finger lang, trocken und sehr hart. Zu einem Ende, wo sich ein winziges Loch befand, verjüngte sie sich. „Hier drin leben Schnatterwürmer! Sie sind sehr klein, fast unsichtbar und sehr empfindlich. Deshalb behüte ich sie in dieser Schote, die ich extra für sie angefertigt habe und die ich immer sicher unter meinem Hemd trage. Es ist fast unmöglich, solche Geschöpfe in der freien Wildbahn zu finden, nicht nur, weil sie so gut wie unsichtbar sind, sondern weil sie auch an nur ganz wenig Stellen zwischen den Wurzeln der Himmelsfinger leben. Diese Winzlinge haben eine Vorliebe. Sie naschen für ihr Leben gerne Ohrenschmalz.“ Bajo musste grinsen: „Wie? Hihi, woher wissen sie denn, wie das schmeckt?!“ „Das weiß keiner, doch eines Tages hat ein alter Zauberer dieses Geheimnis entdeckt!“, führte Malvor weiter aus. „Wenn man nun die dünne Seite mit der kleinen Öffnung in sein linkes Ohr hält und einen Moment wartet, bis es kitzelt, weiß man, dass die Wesen ins Ohr gekrochen sind.“ „Ja und dann? Dann hält man die Schote später wieder ans Ohr und sie kriechen zurück, oder wie?“, fragte Bajo, da eine Pause entstanden war. „Ja, wenn sich die Kleinen satt gefressen haben.“ „Aber woher weiß ich, dass sie satt sind?“, entgegnete Bajo. „Sie sagen es dir!“, erklärte Malvor. Bajo staunte: „Wie, du meinst sie können sprechen?“ „Ja, das meine ich. Sie können mit dir sprechen, als wäre es ein Mensch, der mit dir spricht.“ Verblüfft starrte Bajo den Zauberer an: „Das ist ja unglaublich! Tiere, die unsere Sprache sprechen!“ „Das ist es, in der Tat!“, bekräftigte Malvor, „Doch noch viel erstaunlicher ist es, dass sie auch die Sprache von anderen Rassen direkt für dich übersetzen können!“ Er gab Bajo einen Moment Zeit, das zu verarbeiten. „Also, wenn eine Frau mit mir Likisch spricht und ich die Schnatterwürmer in meinem Ohr habe, dann kann ich sie ohne weiteres verstehen?“, wollte sich Bajo vergewissern. Malvor bestätigte: „Ja, genau! Aber das Allererstaunlichste ist, dass sie dir auch die Stimmen der Tiere übersetzen!“ „Das ist nicht dein Ernst, das kann doch gar nicht sein!“, rief Bajo und fing an, vor Aufregung auf der Stelle herumzuhüpfen. Zum Glück hatte Malvor die Schote schon wieder an sich genommen, sonst wäre sie noch runtergefallen. „Ich werde dir jetzt etwas auf Baldisch sagen, dann lasse ich die Würmer in dein Ohr, und dann werde ich das Gleiche noch einmal sagen. Ich hoffe, die süßen Tiere nehmen dich an und mögen deinen Schmalz gerne riechen. – En ka mel jennem, ge biser schnantev goi!“ Den letzten Teil hatte Bajo natürlich nicht verstanden, fand das Baldische aber sehr interessant. Malvor nahm vorsichtig die Schote und steckte das schmale Ende in Bajos linkes Ohr. Gespannt wartete Bajo, und schon kurze Zeit später kribbelte es tatsächlich, was er Malvor auch signalisierte. „Ich bin mir sicher, die Tiere werden es dir übersetzen!“, sagte Malvor noch einmal auf Baldisch und dieses Mal verstand Bajo es, als hätte Malvor es ganz normal gesagt, nur kamen die Worte mit einer minimalen Verzögerung zu den Mundbewegungen an. „Das ist ja fantastisch“, rief Bajo. „Und nun geh hinüber zu dem Baum dort und stelle dich darunter. In der Krone sitzt ein Buchfink. Versuche zu lauschen und zu verstehen“, wies der Zauberer Bajo an. Dieser lief zum Baum, konzentrierte sich auf den Vogel, den er sehr schnell entdeckt hatte, und wartete, ob er etwas hören konnte. „Wenn die Blödmänner da unten vielleicht mal fertig werden… Ich habe Hunger und will meine Würmer!“, hörte Bajo eine fremde Stimme sagen. Aufgeregt eilte Bajo wieder zurück: „Malvor, Malvor, der Vogel hat uns Blödmänner genannt! Und er will die Würmer auf der Lichtung fressen! Das ist ja fantastisch! Ich kann die Tiere verstehen!“ Er hüpfte freudig umher, bis ihn plötzlich eine süße, piepsige Stimme unterbrach: „He he, mein Herr, ich werde ja ganz duselig! Willst du mir meine Mahlzeit verderben?“ „Es ist neu für ihn, er ist noch ganz unerfahren, nicht wahr Bajo?“, flötete eine zweite, genauso niedliche Stimme. Bajo stand nun, mit hängenden Armen und leicht nach vorne gebeugt, ganz still da, hatte den Mund offen und schielte. Dieser Anblick brachte Malvor wieder einmal aus der Fassung und er fiel fast um vor Lachen. „Sie, sie haben mit dir gesprochen, nicht wahr? Hahaha hihihi…“ Bajo nickte langsam.

„Du kannst von Glück sagen, dass wir deinen Schmalz sehr lieben, ansonsten wüsste ich ja nicht…“, sagte die erste Stimme wieder. „Jetzt sei doch nicht so streng! Nein, nein, mein lieber Bajo, mein Mann meint das nicht so, wir werden gerne wiederkommen. Aber fürs Erste ist es genug, lass uns wieder zurück in unser Heim!“, piepste die zweite Stimme. Wie ein Schuljunge hob Bajo die Hand, es fehlte nur noch, dass er schnipste und Malvor fing wieder an zu lachen. „Die Herrschaften möchten mein Ohr verlassen!“, teilte Bajo mit und wunderte sich selbst, nicht nur über seine gewählten Worte, sondern auch über den dienerhaften Tonfall. Das trieb Malvor nun endgültig in die Hysterie und zu allem Überfluss fielen jetzt auch die Schnatterwürmer in das Gelächter ein und piepsten und glucksten, bis am Ende auch Bajo mitlachen musste.

Als die kleinen Tierchen wieder sicher in ihrer Behausung waren, nahm Malvor die Schote an sich und hängte sie wieder um. Immer noch schmunzelnd seufzte er: „Ich werde diese wunderbaren Einlagen vermissen.“ Bajo wurde hellhörig: „Wieso sagst du das, willst du mich etwa verlassen?“ „Bald werde ich dir das Wichtigste beigebracht haben und dann wirst du auf eigenen Füßen stehen müssen“, fuhr Malvor fort, worauf Bajo einwandte: „Aber wenn ich alles kann, dann könnte ich dich doch auf deinen Reisen begleiten.“ Seufzend erklärte Malvor: „Wenn du früher gekommen wärst, hätten wir vielleicht ein paar größere Unternehmungen gemacht. Aber du warst anscheinend noch nicht bereit und Leva hat dich erst spät zu mir geführt.“ Das traf Bajo tief in seinem Herzen. Er wusste nur allzu gut, wie viel Zeit er die letzten Jahre für unsinnige Dinge und quälende Gedanken verschwendet hatte. Könnte er nur die Zeit zurückdrehen, dann hätte er bestimmt die schönsten Abenteuer mit Malvor erlebt. „Aber warum kann ich denn nicht bei dir bleiben?“, entgegnete Bajo mit trauriger Stimme. „Meine Zeit in diesem Wald ist um. Und du wirst neue Aufgaben bekommen und deinen eigenen Weg gehen“, antwortete der Zauberer. Bajo konnte sich nicht mehr beherrschen und fing hemmungslos an zu weinen. „Ich will nicht, dass du gehst!“, schluchzte Bajo. „Nun beruhige dich wieder, noch ist es ja nicht soweit. Wenn ich dich so in die Welt hinauslasse, blamierst du dich womöglich bis auf die Knochen und das wollen wir doch beide nicht!“, Malvor blickte Bajo aufmunternd an. „Nein, ich glaube, ich muss noch ganz, ganz viel lernen!“ stimmte Bajo zu, ein leichtes Lachen mischte sich in sein Weinen und der Zauberer lächelte ihn mit so friedvollen Augen an, dass Bajo ganz warm ums Herz wurde.

An diesem Tag aßen sie früh zu Abend und Malvor holte danach ein Spielbrett hervor, das er auf seinen Reisen bei einem Trödelhändler in Kontoria entdeckt hatte. Bei dem Spiel musste man mit Hilfe von Würfeln und Karten imaginäre Güter entdecken, handeln und verwalten. Das machte Bajo unheimlich Spaß, vor allem, weil Malvor dabei immer wieder Anekdoten von seinen Abenteuern zum Besten gab.

Inzwischen hatte Bajo sich wieder gefangen und verfolgte seine Aufgaben. Dazu zählte mittlerweile auch, das Valdeyak zu versorgen. Malvor brachte ihm sogar bei, es zu reiten. Als er gut mit dem Tier umgehen konnte, ging Bajo daran, seine Wukoübungen auch auf dem Valdeyak zu vollziehen. Der Zauberer baute ihm im Wald einen neuen Parcours. Hier übte Bajo, sich von einem hohen Ross aus zu verteidigen. „Ich bin sehr zufrieden mit deinen Übungen“, lobte Malvor eines Tages. „Wenn auch die Zeit für deinen Erinnerungen nicht so ganz gereicht hat, mit deinen körperlichen Fähigkeiten sind wir im Soll. Jetzt werde ich dir noch ein paar taktische Geschicke und Verhaltensweisen aufzeigen, über die du nachdenken solltest, und wir wollen gleich damit anfangen.“ Sie gingen zurück zur Hütte, versorgten das Tier, wuschen sich und setzten sich am Nachmittag bei einem Glas Blubberwasser auf ihre Plätze an der Außenwand.

„Was meinst du, Bajo, wenn ich ein Mörder wäre, wem könnte ich in Kontoria wohl leichter auflauern, einem Stadtstreicher oder dem Buchhalter eines Kontors?“ Bajo fand die Frage etwas sonderlich und überlegte lange, bis er schließlich zugab: „Ich weiß es nicht.“ „Versuche, dir die Lebensumstände vor Augen zu halten“, half ihm der Zauberer. Etwas zögerlich antwortet Bajo: „Na ja, der Buchhalter wird ein kleines Haus haben, eine Familie vielleicht und immer fleißig zur Arbeit gehen. Und der Stadtstreicher…ja, der… der wird überall versuchen, etwas zu essen zu bekommen und zusehen, wo er schlafen kann.“ „Sehr gut! Und nun versetze dich in den Gauner hinein. Du willst dem einen und dem anderen auflauern, wie gehst du vor?“, spornte Malvor Bajo an. „Na, beim Buchhalter warte ich, bis er nach Hause kommt und passe ihn an einer guten Stelle ab. Beim Stadtstreicher gucke ich, wo er gerade ist oder schläft und dann schaue ich äh… AHH, jetzt weiß ich, was du meinst! Es ist beim Buchhalter einfacher, weil er immer dasselbe tut und ich weiß, wo ich ihn gut erwischen kann!“ Der Zauberer lobte Bajo: „Ganz genau! Gut gemacht! Er ist berechenbar! Aber du bist ja kein Mörder. Was ich dir damit sagen will, ist, dass du selbst nicht berechenbar sein darfst! Du wirst in deiner Zukunft viele Rollen annehmen müssen, viele Arbeiten ausüben. Und es ist gut, erst einmal Routine zu bekommen, sich eine gewisse Ordnung zu erarbeiten. Aber wenn du es draufhast, musst du dich hüten, immer und immer wieder das gleiche Handeln abzuspulen. Sei variabel, gehe verschiedene Wege, schlafe, wenn es geht, an unterschiedlichen Plätzen, zu unterschiedlichen Zeiten. Dann wird es denen, die dich kriegen wollen, schwerfallen, dich zu erwischen.“ Bajo nickte: „Ja, das verstehe ich. Aber sag mir, Malvor, wer wird mich denn schon kriegen wollen?“ „Das weiß man nie, mein lieber Bajo, das weiß man nie…“, murmelte Malvor geheimnisvoll in sich hinein. Dann fügte er hinzu: „Und so, wie du es als Einzelner machst, was noch am einfachsten ist, musst du es auch in der Gruppe tun - oder mit einer ganzen Armee. Ein guter General lässt seine Männer nicht immer die vorhersehbaren Dinge tun, er denkt sich was Unerwartetes aus und überrascht seinen Gegner damit.“

Nach einer kurzen Pause, in der Bajo das Gesagte in sich aufnehmen sollte, folgte die nächste Aufgabenstellung: „Wenn du auf deinem Weg auf eine Gruppe von zehn Söldnern triffst, die sich gerade einen Bauern und seine Magd schnappen, sie schlagen und berauben, was tust du dann?“ „Na, das ist höchst ungerecht, ich sollte mutig dazwischengehen, nicht wahr?“, empörte Bajo sich. Der Zauberer schüttelte den Kopf: „Alleine gegen zehn schwerbewaffnete Soldaten zu rennen, ist nicht mutig, sondern töricht, denn du läufst in den sicheren Tod und damit ist niemandem geholfen. Hole lieber Hilfe, wenn die Möglichkeit besteht. Versorge die armen Leute, wenn die Söldner weg sind. Folge den Soldaten und stehle die Sachen nachts zurück. Das sind die Optionen! Spiele niemals den Helden, sondern handle stets besonnen und überlege genau, wo du dich einmischst. Schließlich kannst du ja auch nicht ausschließen, dass der Bauer und seine Magd sich vorher selbst unerlaubt bereichert haben, oder?“ Das musste Bajo einsehen und bekam wieder einen Moment, es sacken zu lassen.

„Und was tust du in folgender Situation?“, ging es weiter: „Du bist in deiner Stadt ein beliebter Kaufmann und spazierst am freien Tag der Woche durch einen Park. Da rempelt dich der Sohn des Heermeisters an, ein stadtbekannter Rüpel. Er beleidigt dich vor den Augen der anderen Spaziergänger auf Übelste, was tust du da?“ Schnell stellte Bajo klar: „Na, so was lasse ich mir nicht gefallen, schon gar nicht vor den anderen. Dem hau ich links und rechts eine, das gebietet mir die Ehre, so viel Stolz habe ich noch!“ Wieder schüttelte Malvor den Kopf: „Nein, plappere nicht einfach nach, was andere für richtig und wichtig erachten! Der Heermeister hat viel zu viel Macht. Er würde dich für die Prügel an seinem Sohn in den Kerker bringen, ob du recht hast oder nicht. Und dann hast du einen kurzen Moment des Ehrgefühls gegen eine lange Kerkerhaft getauscht. Nimm es einfach hin, auch wenn es für den Augenblick schmerzt. Versuche dich galant, mit Worten aus dieser Situation herauszuwinden und verschwinde, so schnell du kannst. Und sage mir, was ist denn Ehre, was ist Stolz? Der und der hat meine Ehre beschmutzt, jetzt werde ich mich rächen… So und so hat gesagt, ich soll für die Ehre kämpfen, also renne ich in den Tod… Die und die hat meinen Stolz verletzt, jetzt wird sie dafür sterben… Wenn du mich fragst, sind Ehre und Stolz eine Erfindung der Schatten. Was ich dir damit sagen will, ist, dass du dir Ehre und Stolz nicht mehr leisten kannst! Der Schatten lässt sich beleidigen und provozieren, der wahre Kämpfer aber weiß, dass ihn niemand wirklich beleidigen kann! Du musst besonnen sein und nicht mehr die Kämpfe für andere austragen, deren wirkliche Ziele du nicht kennst.“

„Nächste Frage“, sagte Malvor, wieder nach einer längeren Pause: „Ein Freund, der in einer Kapelle spielt, bittet dich, mit ihm auf dem Marktplatz mit dem Klingelbeutel herumzugehen und Spenden für eine neue Trommel zu sammeln. Zum verabredeten Zeitpunkt ist er jedoch nicht erschienen. Was machst du?“ Bajo überlegte ein wenig, bevor er sagte: „Hmmh, du hast ja gerade gesagt, man sollte sich nicht für die Ziele anderer hingeben, deshalb gehe ich wieder nach Hause, weil er selbst ja wohl kein Interesse mehr hat.“ Erneut widersprach Malvor: „Nein, das hast du falsch verstanden. Selbstverständlich kannst du anderen Menschen bei ihren Anliegen helfen. Wenn du dich entschieden hast, deinem Freund zu helfen, dann musst du zu deiner Entscheidung stehen und die Sache durchziehen. Und dann solltest du es auch so tun, als würdest du es für dich selbst tun. In diesem Fall solltest du alleine über den Marktplatz gehen und deinem Freund die Münzen später geben. Natürlich sagt die Sache ein wenig über den Charakter deines Freundes aus, sollte er nicht einen triftigen Grund für sein Fernbleiben haben. Was ich dir aber sagen will, ist, dass du die Verantwortung übernehmen musst, hast du einmal eine Entscheidung getroffen. Du hast gesagt, du sammelst Geld, also tust du das auch. Dein Freund ist nicht gekommen, also übernimmst du die Verantwortung und sammelst das Geld für ihn mit ein. Und so solltest du es auch mit allen deinen Entscheidungen halten, ob sie dich selbst, oder auch andere betreffen, übernehme Verantwortung, ziehe deine Entscheidung durch, auch wenn du plötzlich glaubst, es war die falsche. Deshalb noch ein kleiner Tipp: Überlege immer gut, bevor du dich entscheidest. Nur allzu oft lässt man sich zu voreiligen Entschlüssen drängen und bereut diese dann später.“

So brachte der Zauberer noch etliche Beispiele, um Bajo zum Nachdenken über das menschliche Verhalten und dessen Folgen zu bewegen. Es war fast Nacht geworden, sie hatten zum Abendbrot nur ein paar Reste gegessen und Malvor beendete seine Unterweisung: „Nun ist aber genug der klugen Worte. Nur allzu gerne hätte ich dich solche Situationen wirklich erleben lassen, denn du bist jemand, der eher durch Taten lernt als durch theoretische Konstrukte. Aber uns fehlt eben die Zeit und ich hoffe, dass du dich vielleicht an das eine oder andere Beispiel erinnerst, solltest du mal in eine ähnliche Lage geraten. Zum Schluss komme ich noch einmal auf den Beginn des Abends zurück, die Berechenbarkeit. Heute Nacht wirst du auf deinem Lager ein paar Kleider unter die Bettdecke stopfen, so als würde jemand dort schlafen. Du selbst wirst die lange Bank abrücken und dahinter auf dem Boden unter einer dunklen Decke im Verborgenen schlafen. Du solltest dich frühzeitig an die Unannehmlichkeiten solcher Täuschungsaktionen gewöhnen…“

Der Boden war hart und kühl und Bajo hatte große Schwierigkeiten einzuschlafen. Dadurch fing er an, nochmal über die Dinge, die Malvor ihm aufgezeigt hatte, nachzudenken und eine Sache beschäftigte ihn besonders: Er hatte sich tatsächlich viel zu leicht für die Ziele anderer einspannen lassen. Gutgläubig und hilfsbereit tat er Dinge für Leute, die er nie wiedersah oder die immer nur dann zu ihm kamen, wenn sie etwas wollten. Sie brauchten ihm nur zu schmeicheln, ihn zu loben, wie gut er doch dieses oder jenes konnte, und schon sprang er darauf an und ließ sich, wie er nun feststellen musste, meistens einfach nur ausnutzen. Auf der anderen Seite hatte er selbst oft Versprechen abgegeben und sie dann dennoch nicht eingehalten und hatte damit gerade die enttäuscht, die sonst immer für ihn da gewesen waren. Er fühlte sich dumm und schuldig. Was war er doch nur für ein Trottel!

Am nächsten Morgen beim Frühstück erzählte er Malvor von seinen Gedanken. „Ja, man ist zu sehr mit sich selbst beschäftigt, um zu erkennen, wer einen ausnutzt und wem man mehr Aufmerksamkeit schenken sollte“, bestätigte der Zauberer. „Darum solltest du dich weiterhin bemühen, von deinen Grübeleien loszukommen, nicht fortwährend die Gedanken um dich selbst kreisen zu lassen. Dann bekommst du einen besseren Blick auf die Dinge, die um dich herum geschehen!“ Einen Anflug von Traurigkeit klang in Bajos Stimme mit, als er klagte: „Ich hatte viele Freunde und Bekannte. Aber irgendwann konnte ich einfach nicht mehr. Ich hatte das Gefühl, ich würde nur noch Theater spielen und dazu fehlte mir am Ende auch noch die Kraft.“ „Du warst einsam, denn du hast einen Weg eingeschlagen, den keiner aus deinem Kreis mit dir gehen wollte, oder konnte.“, erwiderte Malvor. „Aber ich hatte doch Freunde…“, warf Bajo ein. Der Zauberer erklärte: „Freunde sind gut. Gute Freunde sind besser. Am besten jedoch sind Gefährten!“ „Was sind Gefährten nochmal genau, Malvor?“ „Das sind Menschen, oder auch andere Wesen, die denselben Weg gehen. Sie verfolgen die gleichen Ziele, helfen und unterstützen sich auf diesem Weg gegenseitig und sie würden ALLES für einander tun, wenn es nötig ist.“, erläuterte Malvor. „Ob ich jemals Gefährten in meinem Leben finden werde?“, flüsterte Bajo traurig. „Na, du hast doch mich, oder zähle ich für dich nicht?“, rief Malvor mit einem so übertrieben entsetzten Gesicht, dass beide lachen mussten. „Auch wenn du denkst, ich wäre nur dein Lehrer und du mein Schüler, was ja auch stimmt, so sind wir aber auch Gefährten. Denn seit dem Tag, als wir uns das erste Mal begegneten, hat Leva uns verbunden. Du lernst mit großem Eifer die Dinge, die ich dir zeige, denn im Innersten hast du dich für meinen Weg entschieden. Wir gehen denselben Weg und ich würde alles für dich tun, Bajo, und ich weiß, dass du ebenso alles für mich tun würdest.“ Bajo fiel Malvor in die Arme und drückte ihn ganz fest. Daraufhin tätschelte dieser sanft seinen Kopf, blickte in die Ferne und fügte hinzu: „Und wer weiß, was noch alles kommen wird…“

An diesem Tag durchstreiften sie noch einmal die gesamte Umgebung und kehrten erst wieder zurück, als es schon fast dunkel war. Nachdem sie alles erledigt und gut gegessen hatten, saß Bajo erschöpft, aber glücklich neben seinem Zauberer und sie schauten bei einem Becher Tee ins Feuer. Bajo war froh, dass er seinen Weg gefunden und dass er Malvor hatte. Da erinnerte er sich an sein Ansinnen, in Malvors Zimmer vorzudringen. Zunächst druckste er eine Weile herum, doch dann musste er es Malvor einfach gestehen: „Als du fort warst, hat es mich auch gejuckt, in deinen Sachen zu stöbern. Ich bin hochgeklettert und war kurz davor, in dein Zimmer zu treten.“ „Ich weiß, ich habe es gesehen“, antwortete der Zauberer trocken und überraschte Bajo aufs Neue. „Dann warst du also doch da, dann warst du früher hier und hast dich versteckt!“, rief Bajo. „Nein, ich war in den Bergen. Und doch war ich einen kurzen Moment hier und habe den Falter auf deiner Nase gesehen!“ Bajo war schockiert. Er hatte Malvor gar nichts von dem Nachtfalter gesagt. „Aber wie konntest du denn gleichzeitig in den Bergen und in deinem Zimmer sein, das geht nicht?!“, hielt Bajo ungläubig dagegen. Malvor jedoch antwortete nur rätselhaft: „Es gibt Geheimnisse, für die du noch nicht bereit bist. Habe Geduld, eines Tages wirst du auch das verstehen.“ Bajo war ganz aufgeregt und ließ nicht locker: „Jetzt weiß ich, dass du zaubern kannst! Du bist ein echter Zauberer! Bitte, Malvor verrate mir, wie du das gemacht hast! Ist es ein Zauberspruch? Ja, es ist ein Zauberspruch, nicht wahr? Bring ihn mir bei, bitte!“ Malvors Ton wurde nun strenger: „Wenn das nur so einfach wäre… Glaubst du wirklich, jeder könnte ein paar Worte aufsagen und dann schwupp, kann er zaubern? Um unglaubliche Dinge vollbringen zu können, muss man auch eine unglaubliche Veränderung durchleben! Manche haben es ihr Leben lang versucht und am Ende doch nichts erreicht. Es gehört unbändiger Wille, absolute Disziplin und totale Veränderung dazu, um auch nur einen Hauch Zauberei vollbringen zu können, wenn man es überhaupt so nennen sollte.“ Malvor beugte sich zu Bajo hinüber und seine Stimme wurde jetzt wieder sanfter: „Du stehst noch am Anfang. Du musst noch viel lernen und noch viel mehr Erfahrung sammeln. Vor allem aber musst du dich erinnern, sonst wirst du deinen Schatten nie loswerden.“ Jetzt kam sich Bajo vor wie ein kleiner dummer Junge. Natürlich hatte Malvor recht. Er war vielleicht ein halbes Jahr bei seinem Lehrer und auch wenn er viel in dieser Zeit gelernt hatte, er konnte sich nicht einmal ansatzweise mit dem Zauberer messen. Im Vergleich zu ihm war er ein Nichts. Ruhig und bestimmt fuhr Malvor fort: „Ich wiederhole mich, aber es ist nun einmal so, du musst einfach Geduld haben. Lerne, übe, erinnere dich, verfolge deine Aufgaben und beobachte die Welt um dich herum. Und während du das tust, freue dich über das Leben und lache, so oft es geht, dann wird alles von alleine kommen.“

„Bajo! Bajo, sieh auf deine Hände! Sieh auf deine Hände!“, Bajo starrte Malvor an und senkte seinen Kopf. Als er auf seine Hände schaute, wurde er sich seiner wieder ganz bewusst. Ihm war klar, dass er sich im Traum befand! Er blickte auf und blickte wieder Malvor vor sich an. „Bajo, es ist Zeit aufzubrechen, ich wünsche dir viel Glück!“, sprach dieser. Bajo schrak hoch. Er kannte diesen Traum, nur war er jetzt etwas anders. Und wieso sollte er aufbrechen? Er war doch schon bei Malvor. Eilig stand Bajo auf und öffnete die Tür. Draußen konnte er den Zauberer nicht sehen, „Malvor, Malvor bist du schon wach?“, rief er. Dann zog er sich schnell an und ging hinter die Baumstumpfhütte um nach dem Valdeyak zu sehen. Es war weg! Jetzt wurde Bajo unruhig. Er lief in alle möglichen Richtungen und rief nach seinem Lehrer, doch es war vergebens. Enttäuscht kam er zurück und setzte sich erst einmal auf seinen Platz. „Er wird sicher etwas Wichtiges vorhaben und musste schnell aufbrechen, vielleicht zu den Balden“, beruhigte sich Bajo selber. Er machte erst einmal einen kleinen Happen zu essen und danach ein paar Übungen. Doch innerlich war er unruhig, aufgewühlt und schaute erneut in die Runde, ob er etwas erkennen konnte. Aber nichts! Er drehte sich wieder zum Haus und blickte auf die Hütte. „Du Trottel! Malvor liegt bestimmt krank im Bett“, rief er und rannte nach drinnen die Leiter hoch. Als er ins Zimmer schritt, bemerkte er eine Aufgeräumtheit, die er so nicht in Erinnerung hatte und als er auf dem Tisch einen Bogen Papier liegen sah, zuckte sein Herz zusammen. In diesem Moment wusste er, dass Malvor gegangen war!

Er entzündete die Tranlampe, setzte sich, und begann zu lesen:

„Mein lieber Bajo,

wenn du dieses hier liest, weißt du schon, dass ich nun fort bin. Meine Zeit in diesem Wald ist vorüber. Ich brauche dir nicht mehr viel zu sagen, denn ich weiß, dass du ein guter Schüler warst. Doch höre im Leben niemals auf zu lernen! Folge deinem Herzen und sei immer auf der Hut. Wenn du aber gedacht hast, dass du nun keine Aufgaben mehr bekommst, dann hast du dich gewaltig geirrt. Im Gegenteil! Jetzt wird es für dich ernst, denn ich habe noch einen letzten großen und wichtigen Auftrag für dich: Du musst diesen Wald verlassen und in die Fremde hinausgehen. Dort sollst du ACHT Gefährten finden! Folge den Zeichen der Umgebung, folge Leva! Dann wirst du sie finden und sie werden mit dir gehen. Zusammen werdet ihr stark sein. Und stark müsst ihr sein, denn die Schatten haben sich erhoben, um unsere schöne Welt endgültig zu unterjochen.

Verlasse den Wald, wie ich es dir aufgetragen habe. Auf meine Art werde ich bei dir bleiben. Aus tiefstem Herzen wünsche ich dir Glück!

Dein Malvor

PS: In der schwarzen Truhe ist etwas, dass du mitnehmen solltest…

Bajo war erstarrt. Er konnte nicht weinen, obwohl er zu Tode betrübt war. Es war, als würde die Welt nicht mehr da sein, nur er und sein Schmerz. Aber dann erfasste ihn eine Welle aus Glück und Zuversicht und für einen kurzen Moment spürte und roch er Malvor, als würde er neben ihm sitzen. Bajo stand auf, ging zur schwarzen Truhe und öffnete sie. Dort erblickte er das Kristallmesser und nahm es an sich. Die Scheide hatte eine dicke Lederschlaufe, die genau an seinen Gürtel passte. Ein Lederbeutel war ebenfalls darin und als er ihn öffnete, kam ein großer dunkelgelber Stein zum Vorschein. „Das muss ein Sonnenstein sein“, freute sich Bajo. Doch in der Truhe lag noch ein kleines gefaltetes Samttuch. Vorsichtig nahm er es hoch und öffnete es. „Die Schnatterwürmer!“, rief er und liebkoste die Schote. „Habt keine Angst, ich werde auf euch aufpassen, ihr Süßen!“, versprach er und schob die Behausung unter sein Hemd. Er schaute sich noch einmal genau im Zimmer des Zauberers um und prüfte, ob auch alle Regale, Truhen und Schachteln leer waren, oder sich nichts Wichtiges darin befand. Dann stieg er wieder herunter und begann sogleich mit den Vorbereitungen für die Abreise. Er hatte Angst, in Wehmut zu verfallen und begann, ohne groß nachzudenken, seinen Rucksack zu packen. Er nahm nur mit, was wichtig war, denn er wusste, er würde einen langen Weg vor sich haben. Was er nicht als Reiseproviant brauchte, brachte Bajo ins kleine Wäldchen mit den Erdferkeln und legte es ihnen als Futter hin. So wurde, ein letztes Mal, die schöne Baumstumpfhütte aufgeräumt und mittags war dann alles erledigt. Bajo setzte sich noch einmal draußen auf seinen Platz. „Wie oft habe ich hier mit Malvor gesessen“, dachte er. „Wie oft haben wir hier gelacht. So viele Dinge hat er mir hier erzählt. Es war die schönste Zeit meines Lebens…“

Schattenhunger

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